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Vom Weltretten

2220_BSBK_BBDie Bundesstiftung Baukultur konnte im April endlich wieder zu einem »richtigen« Konvent einladen. Und es freuten sich viele aufs Wiedersehen, auf das direkte Gespräch, auf den Austausch mit andersdenkem Gegenüber. Mit Hans Joachim Schellnhuber und Werner Sobek waren Referenten eingeladen, die sich kaum im Kleinklein aufhalten, sondern die globale Perspektive analytisch, auch weltanschaulich und politisch im Blick haben. Globales und lokales Denken und Handeln bieten vernünftigere Optionen als nationale, Nato- und sonstige »strategischen« Bündnisse. Wie bringt man sie wenigstens im Sektoralen wie einer »neuen Umbaukultur« zusammen?

Der Petersplatz in Rom: Den Einflussbereich des Papstes schätzt Hans Joachim Schellnhuber durchaus und ist dort im Juni beim Kongress. (Bild: Ursula Baus)

Debatten ohne Denker

Erst 100.000.000.000 Euro »Sondervermögen« für Rüstung und jetzt die Lieferung von »schweren Waffen« in die Ukraine: Glaubt irgendjemand allen Ernstes, dass mit mehr Waffen in der Ukraine ein Krieg gegen Putins Russland zu »gewinnen« sei, wie es von Kriegsversierten angestrebt wird? Wie auch immer, es geht um etwas anderes: Ralf Mützenich hatte Recht damit, von Anfang an die militärtechnische Schlagseite aller Debatten zum gegenwärtigen Verhalten im Hinblick auf den Krieg in der Ukraine zu beklagen.

Jürgen Habermas in der Süddeutschen Zeitung (Bild: Ursula Baus)

Jürgen Habermas in der Süddeutschen Zeitung (Bild: Ursula Baus)

Jürgen Habermas rüttelte mit einem kenntnisreichen, umsichtig argumentierenden Beitrag am 29. April 22 in der Süddeutschen Zeitung die »Intellektuellen« hierzulande aus einem Tiefschlaf,1) um von dem FAZ-Jungredakteur Simon Strauß in eine Reihe mit Alexander Gauland gestellt und als »empathielos« abgekanzelt zu werden.2) Positionen Offener Briefe pro und contra Waffenlieferungen sind nun unter anderem von Thea Dorn und Juli Zeh in Form der alten Dialektik – immerhin in der Sache nicht auf Waffen oder keine Waffen reduziert – in der »Zeit« verhandelt worden. Thea Dorn äußerte, mehr Angst als vor einem atomar geführten Weltkrieg davor zu haben, dass »der Glaube an das (…) Ideal, dass der Mensch möglichst frei und selbstbestimmt leben soll, erledigt sei«. Und Juli Zeh schloss dagegen: »Eine globale Katastrophe zu vermeiden muss das oberste Ziel bleiben«.3) Beide Standpunkte haben einen global verankerten Hintergrund – um den geht es. Leidenschaft, Heldentum und Kämpfe um »Ideale« sind mir, das gebe ich gern zu, in gewalttätigen Konflikten unheimlich, weil sie unberechenbar sind. Vernünftig, umsichtig nach Interessensausgleich zu suchen und zu retten, was zu retten ist, klingt nicht hochtrabend, nicht ambitioniert. Aber ein völlig zerbomtes Land mit tausenden Toten für ein »Ideal« in Kauf nehmen? Wer kann sich bei einer Wahl zwischen Pest und Cholera sicher sein oder Sicherheit vorgeben?

Forschende und Bauende

Es dominieren hierzulande aber leider die Kriegsdebatten, dusseliger Streit zum Tempolimit, verdruckste Hinweise darauf, dass alles Kommende »rumpelig« werde und auf jeden Fall nicht ohne Teuerungen zu haben sei. Dabei müssten in all diese (an falschen Fronten aufgebauten) Debatten jene Aspekte entscheidend einbezogen werden, die eine längerfristige Planungsperspektive betreffen: zum Beispiel auch im Bauwesen. Es ist derzeit für rund 60% des weltweiten Ressourcenverbrauchs, für rund 50% des weltweiten Abfallaufkommens, für mehr als 50% der weltweiten Emissionen von klimaschädlichen Gasen und für mehr als 35% des weltweiten Energieverbrauchs verantwortlich.4) Was der Klimawandel an globalen Verwerfungen und in der Folge an Konflikten mit sich bringt, stellt – so zynisch es klingt – vieles in den Schatten, was derzeit als »Verteidigung der Demokratie« mit aberwitzigen Zerstörungen und Getöteten für notwendig gehalten wird. Erdsystemwissenschaften arbeiten in Zeitkategorien, die über die Menschheitsgeschichte hinaus-, aber auch in sie hineinreichen – was an dieser Stelle nicht ausgeführt werden kann.5) Dennoch: Globale Perspektiven sind es, welche die Kriegstreiberei und -waffengläubigkeit der Gegenwart wie stumpfsinnige Hahnenkämpfe im Hühnerstall erscheinen lassen.

Architekten und Landschaftsplanerinnen halten sich mit (welt-)politischen Positionen anders als die Intellektuellen bislang – und ich vermute auch künftig – dezent zurück. So war es gut, dass die Bundesstiftung Baukultur mit Hans Joachim Schellnhuber (*1950) und Werner Sobek (*1953) zwei Vortragende auf die Bühne schickte, die – ausgebildet in technischen Berufen und emeritiert – Klimaforschung und Bauwesen souverän und auch mit unterschiedlichen Meinungen thematisierten.

Strahlender Sonnenschein in Potsdam beim Konvent (Bild: Bundesstiftung Baukultur, Till Budde)

Nur draußen ohne Maske: Strahlender Sonnenschein in Potsdam beim Konvent (Bild: Bundesstiftung Baukultur, Till Budde)

Vorab: Beide trugen nichts wirklich Neues vor – und das war insofern richtig, als dass die gegenwärtige Panikpolitik kontextualisiert, in ihren Ursachen erklärt und gegenwärtige Strategien kritisiert werden müssen und können. Schon seit Jahrzehnten ist im Energiesektor fast alles falsch, weil wider besseres Wissen gemacht worden, was sich jetzt rächt. Und der seit Kurzem verpönte »Wandel durch Handel« als eine Möglichkeit friedlicher Annäherung von Kontrahenten ist eben nicht gleichzusetzen mit gewinnoptimierenden Strategien wie beispielsweise Northstream 2, die zu Abhängigkeiten führen. Und es gibt sehr wohl stärker voranzutreibende Alternativen zur Aufrüstung der Ukraine: Wer redet denn noch von den Sanktionen gegen Russland, die hierzulande deswegen nicht akzeptiert werden, weil gerade im Energiesektor die Fehler gemacht worden sind? Und jetzt niemand den Bürgern eine Änderung in ihrer Komfortzone zumuten will? Ausnahmen bestätigen die Regeln. Eine kleine Rezession? Unzumutbar, auch wenn, wie vorgestern gemeldet wurde, die Auftragsbücher der deutschen Industrie rappelvoll sind. Ein geringeres Wirtschaftswachstum? Nicht auszudenken!

Kann das noch gut gehen?

Noch konkreter als in der Energie stellt sich die Rolle des Klimawandels in der Produktion von Lebensmitteln dar – zum Beispiel beim Weizen. Hans Joachim Schellnhuber stellte einmal mehr und fast lakonisch die Auswirkungen durch die Erderwärmung vor, die bei den häufig genannten, maximalen Durchschnittsanstiegen von weltweit 1,5 oder 2 Grad liegen sollen. An den Polen oder anderen Orten der Welt bewirkt dieser Durchschnitt jedoch 4 bis 7 Grad, die mit enormen Konsequenzen für Permafrost-Regionen und die weiteren CO2 – Zunahmen in der Atmosphäre verbunden sind. Mit den »Kippmomenten« wird an einstmals Schellnhubers Potsdamer Klimaforschungsinstitut zudem identifiziert, welchen Einfluss anthropogene Einwirkungen für kritische Grenzen in Klimaextremen haben. Wen wundert es, dass der damalige FDP-Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler den mahnenden Hans Joachim Schellnhuber nicht mehr als Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) haben wollte.

Immense Faktenfülle, aber etwas schwer zu »lesen«. Werner Sobek: non nobis – über das Bauen in der Zukunft. Band 1: Ausgehen muss man von dem, was da ist. 292 Seiten, 114 Bilder und Grafiken, 21,5 x 22,5 cm. av edition, STuttgart 2022, ISBN: 978-3-89986-369-7 https://www.avedition.de/non-nobis-ueber-das-bauen-in-der-zukunft-band-1-ausgehen-muss-man-von-dem-was-ist/978-3-89986-369-7

Immense Faktenfülle, aber etwas schwer zu »lesen«. Werner Sobek: non nobis – über das Bauen in der Zukunft. Band 1: Ausgehen muss man von dem, was da ist. 292 Seiten, 114 Bilder und Grafiken, 21,5 x 22,5 cm. av edition, STuttgart 2022, ISBN: 978-3-89986-369-7
https://www.avedition.de/non-nobis-ueber-das-bauen-in-der-zukunft-band-1-ausgehen-muss-man-von-dem-was-ist/978-3-89986-369-7

Werner Sobek beim Konvent 2022 (Bild: Ursula Baus)

Werner Sobek beim Konvent 2022 (Bild: Ursula Baus)

Werner Sobek improvisierte, von der Beamer-Technik ab und an im Stich gelassen, mit dem Schwerpunkt auf jenen Aspekten des Bauens, die Bauabfälle, Verbräuche und Emissionen betreffen. Diese sind auch in einem von ihm herausgegebenen Buch zusammengetragen, das ich persönlich sehr poppig, unübersichtlich und in den Textseiten schwer zu lesen finde: Vor lauter Buchgestaltungswillen tritt der sehr informative Inhalt mit ernorm vielen Übersichten und Zusammenhängen in den Hintergrund; warum müssen Kurven mit Flächen in Komplementärfarben punktiert und grob gestreift visualisiert werden? Gleichwohl, die Komplexität des ganzen Themas tritt in den üppig zusammengestellten, qualifizierten Quantitäten deutlich zutage, ein Glossar erleichtert den Zugang zu den Inhalten und reicht vom Altschrott über viele Abkürzungen (IPCC, LULUC, NDC, u.v.m.) bis zum Vollholz. Zudem reizt das aufschlussreiche Inhaltsverzeichnis dazu, das Buch immer wieder wie ein Nachschlagewerk zur Hand zu nehmen. Es sollen zwei weitere Bände folgen.

Gutes Leben

Den Bogen zwischen globalem Wissen, weltethischen Fragen und den Handlungsmöglichkeiten des Einzelnen zu spannen, scheint ohne den Habitus des Predigens kaum zu gelingen. Es darf nicht wundern, wenn Hans Joachim Schellnhuber, dem es an Selbstbewusstsein nicht mangelt, nun über den Vatikan eine weitere Chance sieht, Menschen mit seinen Botschaften zu erreichen – im Juni, siehe oben, ist es so weit.
Komplexität so gut es geht zu analysieren und daraus Rückschlüsse auf das Menschenmögliche zu wagen, kann als Impuls für den alltäglichen Umgang mit dem (Bau-)Bestand kaum hoch genug geschätzt werden. Praktisch heißt das für die Politik, dass sie ohne Bekenntnisse zu Einschränkungen, Verzicht, Ge- und Verbote nicht handlungsfähig ist.

Die gesamten Russland-Sanktionen, die zugleich einer ökologischen Notwendigkeit entsprochen hätten, verschwinden dieser Tage zugunsten der Militärgewalt aus den öffentlichen Debatten. Das ist wahrlich Anlass genug, um andere Aspekte zu betonen. Dazu hat die Bundesstiftung Baukultur beim Konvent und ihren Themen »Neue Umbaukultur« im Rahmen ihrer Möglichkeiten beigetragen6) – nur sind diese Möglichkeiten nach wie vor zu bescheiden. Die Stiftung braucht mehr Mittel, um Überzeugungsarbeit leisten zu können und weitere Gesellschaftskreise zu erreichen. Und sie braucht eine höhere politische Relevanz, die mit Grußworten aus und der Entgegennahme von Berichten in den Ministerien nicht erledigt sein darf.

Heiteres Beisammensein: Beifall für Diejenigen, die in den Gründungszeiten der Bundesstiftung Baukultur mitgewirkt haben. (Bild: Ursula Baus)

Heiteres Beisammensein: Beifall für Diejenigen, die in den Gründungszeiten der jetzt von Reiner Nagel geleiteten Bundesstiftung Baukultur mitgewirkt haben. (Bild: Ursula Baus)


1) Jürgen Habermas: Krieg und Empörung. In: Süddeutsche Zeitung, 29. 4. 2022, Seite 12-13

2) Simon Strauß: Sollen wir Putin um Erlaubnis fragen? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. 4. 2022 (https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/juergen-habermas-aeussert-sich-zum-ukraine-krieg-17993997.html). Im Deutschlandfunk legte Straß nach und hielt Habermas – sinngemäß – vor, als alter Mann habe er nicht so viel Empathie wie die in den 1980er Jahren Geborenen.

Gorbatschows Perestroika und die Wiedervereinigung bezeichnete Nils Minkmar als »Glück der Geschichte« und verkennt dabei, dass hier Jahrzehnte einer Entspannungspolitik zu Buche schlugen. Um im gleichen Beitrag vom »Scheitern der deutschen Russlandpolitik« zu reden und eine »dritte Bundesrepublik« auszurufen. Nils Minkmar: Die netten Jahre sind vorbei. In: Süddeutsche Zeitung, 11. Mai 2022, Seite 9

3) Thea Dorn und Juli Zeh im Dialog: Wovor hast Du Angst? In: Die Zeit, 11. Mai 2022

4) Werner Sobek: non nobis – über das Bauen in der Zukunft. Bd. 1: Ausgehen muss man von dem, was da ist. Stuttgart 2022, Seite 18

5) Dipesh Chakrabarty: Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter. Berlin 2022 (https://www.suhrkamp.de/buch/dipesh-chakrabarty-das-klima-der-geschichte-im-planetarischen-zeitalter-t-9783518587799)

6) https://www.bundesstiftung-baukultur.de/presse/detail/auf-dem-weg-zu-einer-neuen-umbaukultur-konvent-der-baukultur-2022-in-potsdam