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Wohnen ist ein großes Thema und ein weites Feld. Wie der Stand der Forschung ist, welche Aspekte mehr Beachtung finden könnten und was die Zukunft bringen könnte, darüber klären drei Neuerscheinungen auf.

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Sebastian Schipper und Lisa Vollmer (Hg.): Wohnungsforschung. Ein Reader. 472 Seiten, 25 Euro
Transcript Verlag, Bielefeld, 2020

Wohnungsforschung – „klassische Texte und systematisierende Überblicksartikel der kritischen Wohnungsforschung“ verspricht der Klappentext. Aus historischer, polit-ökonomischer, soziologischer, sozial-räumlicher und akteurszentrierter Perspektive, mit Texten aus den 1970er, 80er und 90er Jahren; einer von Friedrich Engels ist auch dabei. Die meisten der insgesamt 19 Texte sind allerdings aus den letzten zehn Jahren, was verständlich ist: die Entwicklungen haben sich derart dramatisch vollzogen, die Rahmenbedinungen so verschoben, dass sie auch aktueller Diagnosen bedürfen. Die widersprüchliche Situation, die sich aus der Wohnung als Ware einerseits und dem Wohnen als Grundbedürfnis andereseits ergibt – Wohnraum als Spagat zwischen wirtschaftlichen Interessen und notwendiger Versorgung – ist eines der wichtigen Themen, die in den Texten immer wieder reflektiert werden. Selbstversorgungsbewegungen und Wohnungsreformer werden vorgestellt, die Wirkungen der Finanzkrise von 2008 wird analysiert, nach der Rolle der Kommunen gefragt, die Veränderungen von Bedürfnissen und Lebensstilen nachgezeichnet, die Wohnungsentwicklung in den Kontext städtebaulicher Leitbilder gestellt. Das ist so anregend wie aufschlussreich, erkenntisfördernd und erhellend, kurzum: Grund genug, sich das Buch zuzulegen, will man sich in die Thematik vertiefen.

Nur hin und wieder stellt man sich Fragen, die dann leider doch nicht beantwortet werden. In einem Text von 1976 beispielsweise wird davor gewarnt, die Wohnungsfrage auf die Bodenfrage zu reduzieren – aber wie würde man dies aus heutiger Sicht sehen? Stimmt es noch, dass behauptet wird, mit dem einen Problem (den Bodenpreisen) werde das andere (die Wohnungsnot) gelöst? Mein Eindruck ist das nicht. Eher ist es doch heute andersherum: Man muss darauf drängen, die Bodenfrage zu berücksichtigen, um der Komplexität der Wohnungsfrage gerecht zu werden. Klaus Novys Text von 1982 stellt andere Finanzierungsformen, genossenschaften und revolvierende Fonds vor, fordert die Reform der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft. Nun aber ist die Gemeinnützigkeit der Wohnungsbaugesellschaften seit 1990 abgeschafft, mit Wirkungen, die als Nebenwirkungen dann doch zu sehr bagatellisiert sind, als dass man sich nicht fragt, wie heute sinnvolle Gemeinnützigkeit gestaltet sein müsste. Oder sagen wir es anders: als interessierten Laien droht mich das Buch gerade deswegen zu überfordern, weil es sich um die großen Linien bemüht. Man wird wohl noch ein paar weitere Bücher lesen müssen.


 

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Christine Hannemann und Karin Hauser (Hg.): Zusammenhalt braucht Räume. Wohnen integriert. 192 Seiten, 17 x 24 cm, 24,90 Euro
Jovis Verlag, Berlin 2020

So sehr es notwendig ist, dass über bezahlbaren Wohnraum diskutiert wird, dass danach gefragt wird, wie die Wohnung helfen kann, mit Belastungen umzugehen, wie sie derzeit durch die Pandemie erzeugt werden, so sehr darf nicht aus dem Blick geraten, welche integrative Leistung über das Wohnen erbracht werden kann. Diesem wichtigen Thema widmet sich die Publikation, die das Ergebnis eines zwischen 2017 und 2020 durchgeführten Forschungsprojektes ist. Hier wird die These vertreten, dass gesellschaftliche Integration und Teilhabe durch Wohnen befördert werden kann. Im Mittelpunkt der Forschung standen solche Projekte, in denen Neuzugewanderte und Ortsansässige zusammenleben. Man reagiere dabei auf einen Mangel, wie Christiane Hannemann in der Einleitung beschreibt: Wohnen komme „ins Blickfeld der Integrationsforschung, wenn es um Wohnraumversorgung geht, nicht aber als Faktor der kulturellen Integration.“

Für das Forschungsprojekt wurden Projekte recherchiert, in denen es genau darum geht: durch die architektonische Qualität und die städtebauliche Einbindung den Zusammenhalt zu stärken. Sechs solcher Projekte werden im Buch als Fallstudien auf je 20 Seiten ausführlich vorgestellt, sie machen das Herzstück der Publikation aus. Anhand von neun Kriterien werden sie bewertet – von der Architektur, der stadträumlichen Integration bis über die Wohnperspektive und die systematische Selbstbefähigung werden sowohl die baulichen und strukturellen als auch die organisatorischen Aspekte in den Blickpunkt gerückt und warum sie für das Gelingen eines Projektes wichtig sind: Wie ist eine Gemeinschaft organisiert, welche Rückzugs-, welche Begegnungsräume werden angeboten, wie werden Verbindungen ins Quartier hergestellt? Wichtig ist, dass nicht nur die Perspektive der Neuzugewanderten aufgegriffen wurde, sondern auch Erwartungen und Wünsche, die die Ortsansässigen an das Wohnprojekt und das Zusammenleben stellen.

Das Buch zeigt, welchen nicht unerheblichen Anteil Wohnen an gelingender Integration haben kann. Dass es nicht nur darum gehen kann, mit Nischenangeboten Hinweise darauf zu geben, worauf es bei solchen integrativen Wohnprojekten ankommt, sondern dass Projekte wie die dieses Buches eine grundsätzliche Frage berühren, darauf macht der Schlusstexte von Julia Hartmann und Ricarda Pätzold aufmerksam. Dem Behaust-Sein gehe die individuelle Selbstbestimmung voraus, Wohnen sei kein individuelles Problem – unter anderem der neu Zugezogenen, dem durch besondere Wohnangebote Abhilfe geschaffen werden müsse. Die besten Grundlagen für die Entfaltung der integrativen Wirkung des Wohnens seien (nach wie vor) die Freizügigkeit in der Wahl des Wohnstandorts und eine Pluralität der Wohnungsanbieter.

 


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Florian Rötzer: Sein und Wohnen. Philosophische Streifzüge zur Geschichte und Bedeutung des Wohnens. 288 Seiten, 22 Euro
Westend Verlag, Frankfurt am Main 2020

Dass sich das Wohnen grundsätzlich angesichts der Digitalisierung ändert, ist die zentrale Beobachtung von Florian Rötzer. Sein die Geschichte des Wohnens durchstreifender Essay stellt die Frage, ob wir durch die Entwicklungen und Ideale, die das Wohnen prägen, unfähig geworden sind, mit den Herausforderungen des Wohnens im digitalen Zeitalter umzugehen. Am Ende des Buchs steht die dystopische Beschreibung dessen, was uns drohen könnte: ein fremdbestimmtes Leben, in dem wir in den Wohnungen nur noch Gast sind – Wohnungen als Niemandsorte, „in denen Menschen zu Passanten werden, vorübergehend wohnen, aber bald weiterziehen, sich nicht wirklich einrichten, sondern sich vorfinden.“ Dass das Nomadentum über Jahrhundert abgewertet wurde, dass Heimat nie wirklich auf städtische Gemeinschaften und Lebensstile bezogen wurde, dass die hygienischen Bewegungen in das ideal aseptischer Wohnungen münden, die sich irgendwann gegen den menschlichen Körper richten, weil kein biologischer Körper eine singuläre Existenz sei – all das scheint sich nun zu rächen. So offensichtlich sich das Zusammenspiel von öffentlich und privat als ein Leitbild des Städtebaus auch etabliert haben mag, so wenig haben wir, wenn wir Rötzer folgen, es geschafft, dies in eine zeitgemäße Form des Wohnens zu übertragen. Denn wir haben keine Wohnungen mehr, die Schutz vor der Umwelt bieten – in der Wohnung sind wir mit der Welt verbunden, werden wir gesteuert und beobachtet. Die Menschen beträten von dort aus auch keinen Cyberraum, „vielmehr spinne sie dieser mitsamt ihrere materiellen Öffentlichkeit ein.“

Mit Sartre, Flusser, beginnend bei Platon, Sokrates und Diogenes, das Höhlengleichnis als Metapher für unser Verständnis des Verhältnisses von innen zu außen deutend – Rötzers Essay ist ein Ritt durch die Geschichte, der sich in der Form an der so lange verachteten Wohnform orientiert: er nomadisiert gewissermaßen durch die umfangreiche Literatur zum Wohnen, verbindet philosophische, naturwissenschaftliche, geschichtliche Positionen miteinander. Es geht dabei um die Gaia-Hypothese und CIAM, um Luftkrieg und aufgelockerte Städte, um Gentrifizierung, Vertreibung und Heimatideologien, um die Tonne des Diogenes, die urbane Praxis des Sokrates und um Kant, der dem Fremdling ein Besuchsrecht, aber kein Gastrecht einräumt. Am Ende ergibt sich in einer Mischung aus Kritik an Herrschaftstechniken und Stadtfeindlichkeit, an Kapitalismus und Immobilienwirtschaft einerseits, den sprichwörtlichen „good intentions“, die den Weg zur Hölle pflastern, andererseits das eingangs angedeutete Bild einer wenig verheißungsvollen Zukunft. Was Hoffnung machen könnte: dass Zukunft immer erst noch kommt, und als Gegenwart dann auch dank unserer Handlungen immer anders wird, als sie vorherzusehen war.