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Grenzen verschieben


Der von jungen Stadtmachern gegründete Verein Adapter verfolgt das Ziel, temporären gewerblichen Leerstand für gemeinschaftliches Wohnen zu nutzen. Darüber hinaus versteht sich der Verein als Plattform, um Potenziale neuer Wohnformen für den sozialen Austausch sichtbar zu machen und Stadt mitzugestalten. Dazu veranstaltet Adapter Diskussionsforen, Workshops und Aktionen im öffentlichen Raum und gibt die Zeitschrift Urbant heraus, deren erste Ausgabe am 20. Juli erscheint. Anlässlich dieser Premiere veröffentlichen wir daraus in gekürzter Form einen Beitrag von Richard Königsdorfer über das Bedürfnis nach Privatsphäre und die Lust des Individuums an Gemeinschaft.


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Ansichtssache – Illustration von Dennis Tilke

Unser Zusammenleben in den Städten verändert sich rapide. Verhaltensweisen im öffentlichen Raum sind davon genauso betroffen wie unsere Vorstellung von einem privaten Zuhause. Das individuelle Grundbedürfnis des Menschen nach Geborgenheit und Privatsphäre ist Gegenpol zur Lust des Individuums an Gemeinschaft – und gleichzeitig Voraussetzung dafür. Das Verlangen nach Interaktion und Gemeinschaftsbildung ist wiederum essenziell für Austausch und Teilhabe, für Diskurs und Mitbestimmung und nicht zuletzt für eine funktionierende Demokratie und den gegenwärtig viel diskutierten gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Wir müssen deshalb immer wieder neu und grundsätzlich über öffentlich und privat genutzten Raum nachdenken. Dabei ist es wichtig, Wandel als Chance zu begreifen, ihn als eine potenziell positive Veränderung wahrzunehmen. Für eine den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördernde Stadt sind sowohl Räume des Rückzugs, als auch Flächen des Austauschs und der Gemeinschaft essenziell. Indem wir die Grenzen zwischen Privatsphäre und Gemeinschaft aktiv und bewusst gestalten, stärken wir den gemeinsamen Lebensraum Stadt.


Individualität und Identität

Die Wohnung soll sowohl Rückzugsort, als auch Begegnungs- und Repräsentationsort sein, hier möchte man sich entspannen und gleichzeitig unterhalten werden. Sie soll Arbeitsplatz sein und gleichzeitig die Grundbedürfnisse Schlafen, Essen und Hygiene in sich vereinen. (1) Offene Wohnungsgrundrisse spiegeln die gewünschte Vielseitigkeit wider, mobile Endgeräte befördern die Vermengung von Arbeit und Freizeit, Privatsphäre und Öffentlichkeit in der Wohnung.

Zwar wohnt der durchschnittliche Stuttgarter auf 39 Quadratmetern, geschützt durch Mauern, Dreifachverglasung und Schließanlage, die Aufgabe des Ruhepols, also des Rückzugsortes vor den Zumutungen der Welt, kann diese private Zone allerdings trotzdem immer weniger übernehmen.
Vielmehr scheint die Wohnungstür als Grenze zwischen privatem und öffentlichem Raum zunehmend zur Barriere für die Gemeinschaftsbildung mit Nachbarschaft und Stadt zu werden. Zu beobachten ist das an immer anonymer werdenden Hausgemeinschaften. Denn durch die Flexibilitätsanforderungen der modernen und globalen Arbeitsrealität, welche immer häufigere Arbeits- und Wohnortswechsel erfordert, wird die persönliche Bindung zu einem Ort geringer, und das Zugehörigkeitsgefühl der und des Einzelnen zur Hausgemeinschaft, dem Quartier und der Stadt nimmt ab. (2)

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Gemeinschaftsräume zwischen öffentlich und Privat bilden das Rückgrat des Projekts „Mehr als Wohnen“ auf dem Züricher Hunziker-Areal. Bild: Johannes Marburg

In Stuttgart lebt heute zudem in über der Hälfte der Haushalte nur eine Person. Nur ein Fünftel der Wohnungen wird von mehr als zwei Personen bewohnt. (3) Die Wohnform der familiären Mehr-Generationen-Einheit, schon in der Industrialisierung von der Kernfamilie abgelöst, wird heute durch Singlehaushalte ersetzt. Damit nehmen familiäre und soziale Bindungen zum und die Identitätsbildung mit dem Wohnort weiter ab.

Wenn nun das Öffentliche auch verstärkt im Privaten stattfinden kann, wird aus der Wohnungstür, welche eigentlich die Intimität schützen sollte, eine Barriere für die Kontaktaufnahme und -pflege mit der Nachbarschaft und eine weitere Hürde für einen Identitätsaufbau mit Umgebung und Quartier. Während die privaten Wohnungen umfassender und freizügiger gestaltet werden, verliert der öffentliche Raum an Bedeutung. Diese Entwicklung ist vor allem in und um Neubauten oft zu beobachten. So wird beispielsweise das Treppenhaus, einst architektonisches Aushängeschild und Ort der Begegnung, auf ein Minimum reduziert und zu einem identitäts- und charakterlosen Nicht-Ort degradiert. Diese anonymen, Aufenthaltsqualität verweigernden Räume stellen zwar Schwellen zum Stadtraum, sicher aber keine Möglichkeitsräume für die nachbarschaftliche Kontaktpflege dar.

Allerdings bildet Individualität ein dialektisches System zwischen Abgrenzung und Zugehörigkeit. (4) Die sich in ständig neu zu klärender, zu stabilisierender und zu reflektierender Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit ausdrückende Individualität der Einzelperson steht dem Verlangen nach Einordnung und Zugehörigkeit gegenüber, aus dem sich Identität des Individuums bildet. Zu dieser Identität gehört die Sehnsucht nach Austausch und Teilhabe, welche im besten Fall in Verantwortungsgefühl und Pflichtbewusstsein mündet. Wird dieses Bedürfnisses befriedigt, führt das zum Zusammenhalt einer Gruppe, ob Hausgemeinschaft oder Stadtgesellschaft.

Und genau hierin liegt der Schlüssel für die Gestaltung der Grenzen zwischen Privatsphäre und Gemeinschaft. Will man Zusammenhalt und Gemeinschaft in Nachbarschaft, Quartier und Stadt fördern, muss man Privatsphäre und uneingeschränkten Rückzug im Privaten gewährleisten. Das Private ist Basis für die Gemeinschaft. Gleichzeitig müssen im Umkehrschluss Räume für die Gemeinschaftsbildung angeboten und gestaltet werden. Wenn Privatsphäre und Intimität gesichert sind, lässt die gemeinschaftliche Fläche Aneignung und Teilhabe zu, befördert und motiviert zu Austausch und Kommunikation.


Räume neu denken


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Skizze von Vivien Staff

Die Größe ist für einen Schutz und Privatsphäre bietenden Raum nicht entscheidend. Er muss dem Individuum vielmehr die Möglichkeit zum vollkommenen Rückzug, zur uneingeschränkten Intimität und Selbstbestimmung geben. Durch die Kontrolle über diesen persönlichen Raum wird ein Sicherheitsgefühl erzeugt. Das Individuum kann Kraft schöpfen und Motivation zur Beteiligung an der Gemeinschaft generieren.

Karel Teige, tschechischer Theoretiker und Künstler, reduziert 1932 in „The minimal dwelling“ das Apartment auf eine individuelle Zelle. Dabei strebt er die Zentralisierung und Kollektivierung der ökonomischen, kulturellen und sozialen Faktoren des Wohnens an. Jede erwachsene Person hat einen Raum, welcher die Funktion des Wohn- und Schlafzimmers vereint. Definiert man diesen Individualraum als das Private, wird die Grenze zwischen Öffentlich und Privat neu gezogen. Sie verläuft nicht mehr zwischen herkömmlicher Wohnung und öffentlichem Raum, wie man ihn heute üblicherweise versteht, sondern zwischen Individualraum und Kollektiv. Es ist keine das Wohnen definierende, sondern die Privatsphäre schützende und den Gemeinschafts- und Stadtraum aufspannende Grenze.

Werden die programmatischen Ansprüche an die Individualräume minimiert und damit einhergehenden die privaten Zone angemessen reduziert, dann gewinnen die gemeinschaftlich genutzten Flächen an Raum und Bedeutung, an Funktion und Aktivität. Während das Individuum zur Teilhabe angeregt wird, können Alltagspflichten geteilt und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit erzeugt werden. Das Leben findet verstärkt im Gemeinschaftlichen statt, das Private hat nun die Möglichkeit, in das Öffentliche hineinzuwirken. Weil sich die einzelnen Personen in der Gemeinschaft einbringen, wird das Kollektiv und in ihm das Individuum ablesbar. Der öffentliche Raum wird divers und auch für Vorübergehende nahbar, die Identität der Bewohnerinnen und Bewohner mit der Stadt wird ersichtlich.

Dafür muss der öffentliche Raum die Aneignung durch das Individuum zulassen, unterstützen und provozieren. Als eine Aneinanderreihung von unterschiedlichsten Zonen und Atmosphären ist dies der Stadtraum, welcher die Individualräume umspült, sortiert und verbindet. Beginnend bei Gemeinschaftsflächen einer Wohngruppe oder eines Hauses zieht er sich, gegliedert durch Schwellen, bis hin zum öffentlichsten Platz. Er bildet häusliche Gemeinschaften, definiert somit gemeinschaftliche Wohnformen und verortet diese im großen städtischen Kontext.

Aus diesem Gedankenspiel ergibt sich das Plädoyer für den Bruch mit den konventionellen Grenzen zwischen Öffentlich und Privat. Für den Bruch mit dem Bild von den Polen des privaten Wohnens, also der Wohnung und dem öffentlichen Leben, dem Straßenraum, welche sich nur noch scheinbar entgegenstehen. Das Verlangen nach gemeinschaftlichem Leben beginnt im Wohnen. Es geht um das Recht auf Rückzug und in gleichem Maße die Lust, die dabei gewonnene Individualität im Öffentlichen wirken zu lassen. Es geht um die Forderung der Präsenz des Privaten im Öffentlichen, und die Warnung vor zu wenig Privatsphäre und Intimität im Privaten. Und es geht um die Chance, das Verantwortungsgefühl der Stadtbewohnerinnen und Stadtbewohner für die Gemeinschaft zu steigern, das Miteinander zu stärken und sowohl durch individuelle als auch gemeinschaftliche Aneignung eine lebendige Stadt zu gestalten.


(1) Vgl. Stefan Breit und Detlef Gürtler, Microliving. Urbanes Wohnen im 21. Jahrhundert, Rüschlikon 2018, S.4.
(2) Vgl. Albrecht Göschel, Identität, in: Planen, Bauen, Umwelt. Ein Handbuch, hg. von Dietrich Henckel, Kester von Kuczkowski, Petra Lau, Elke Pahl-Weber und Florian Stellmacher, Wiesbaden 2010, S.216.
(3) Vgl. URL: https://www.statistik-bw.de/Presse/Pressemitteilungen/2018006
(4) Vgl. Anne Kaestle, Wer teilt hat mehr, in: Neue Standards. Zehn Thesen zum Wohnen, hg. von Olaf Bahner und Matthias Böttger, Berlin 2016, S. 123–134, hier 125.