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Wahlen gehören zur Basis demokratischer Willensbekundung. Den Gewählten traut die Bürgerin zu, dass sie die Entwicklung des Landes zum Nutzen und Frommen aller vorantreiben. Nun sind in diesem Jahr Europa-Wahlen, zudem einige Landes- und Kommunalwahlen. Konkret in Rheinland-Pfalz: Termin am 9. Juni. Weil wir als Architekturpublizisten viel unterwegs sind, entscheiden wir uns für die Briefwahl. Und dann geht’s los: Bedurfte es je eines Beweises, dass die Demokratie in Gefahr ist, dann ist es systemisch hier nachzuweisen.


Für Architektur und Stadt und Land sind Wahlen wichtig. Die Weichen fürs Bauen werden in politischen Gremien, von gewählten Persönlichkeiten gestellt. Wie resistent diese gegen die nimmermüden und gut alimentierten Lobbyisten sind, sei hier nicht weiter erläutert. Aber wie absurd in einer überbürokratisierten und in den Verwaltungen beratungsresistenten Republik die Wahlen werden können, sei an aktuellem Beispiel gezeigt.

Das Kreuz mit den Kreuzchen

Bei der Briefwahl ist es so: Am Wahltag hat man keine Zeit oder ist nicht vor Ort. So treffen einige Wochen vor der Wahl die Wahlunterlagen ein. Es sind dieses Mal die Wahlunterlagen für die Kommunalwahl und die gleichzeitige Europawahl. Das heißt, es geht um viel in der politischen Entwicklung des direkten Umfelds und der Weltpolitik.
In dem Briefwahlumschlag liegen 4 Umschläge, zudem 2 „Wegweiser für die Briefwahl“, zwei Wahlbriefe, 3 Wahlzettel. Müsste man hinkriegen. Ich schiebe angesichts der 12 Papierdokumente alles zur Seite und beschließe, mit Ruhe zu wählen. Und überlege kurz: Wie könnte das in der Wahlkabine gelingen, vor dem sich vielleicht eine Schlange gebildet hat?
So nehme ich mir also Zeit und wähle zuhause. Sortiere die 12 Papierdokumente.

Stadtrat, Bezirkstag, Bezirksverband

Da ist ein brauner Stimmzettel. In den Wegweisern ist kein brauner Stimmzettel zu finden. Also lese ich: „Stimmzettel für … den Bezirkstag des Bezirksverbands Pfalz“.1)
Also ist „Kommunalwahl“ = „Bezirkstag des Bezirksverbands“. Wieso steht auf dem Umschlag für diesen Stimmzettel nicht „für den Bezirkstag des Bezirksverbands“? Und warum fehlt auf dem Umschlag der Hinweis auf die Stadtratswahl?
Es liegen hier nämlich 2 Stimmzettel vor. Einer, in dem nur 1 Kreuz bei 1 Partei zu machen ist. Das kriegt man hin.
Der andere, gelbe Stimmzettel – ebenfalls für die Kommunalwahl – betrifft nun den Stadtrat. Da hat man 44 Stimmen. Erster Blick: Die an Personen gebundenen Stimmen sind in Spalten aufgelistet, die je einer Partei zugeordnet sind. In der Spalte der AfD sind Personen 3 Mal aufgeführt. Bei den Grünen und der FDP sind manche 2 Mal aufgelistet. Wieso?

Ich lese die Erläuterungen, hier zum Mitlesen:

„Sie können alle 44 Stimmen an Bewerberinnen/Bewerber eines oder mehrerer Wahlvorschläge vergeben, dabei können Sie einer Berwerberin/einem Bewerber – auch eine/einem mehrfach benannten Bewerberin/Bewerber – höchstens 3 Stimmen geben (kumulieren), also |x| | | oder |x|x| | oder |x|x|x|,
oder
Sie können, wenn Sie nicht alle 44 Stimmen einzeln vergeben wollen, in der Kopfleiste einen Wahlvorschlag ankreuzen (X) mit der Folge, dass die restlichen Stimmen den Bewerberinnen/den Bewerbern des angekreuzten Wahlvorschlags zugutekommen,
oder
Sie können auch nur den Wahlvorschlag, den Sie wählen wollen, inder Kopfzeile ankreuzen (X) mit der Folge, dass jeder/jedem aufgeführten Bewerberin/Bewerber eine Stimme zugeteilt wird, bei Mehrfachbenennungen erhalten dreifach aufgeführte Bewerberinnen/Bewerber drei Stimmen, doppelt aufgeführte Bewerberinnen/ Bewerber zwei Stimmen.“

Alles klar?

Wieso, frage ich mich, tauchen die Personen der Parteien, die offenbar nicht genug Kandidaten haben, um eine Spalte zu füllen, mehrfach auf?

Anruf beim lokalen Wahlamt. Das sei aus grafischen Gründen so. Damit die Spalte voll werde.
Wie bitte? Welche unfähige Grafiker-Persönlichkeit macht so einen inhaltlich irreführenden Unfug?
Ich solle genau hinschauen: Die Kästchen hinten seien ja lang und gelten nur für die eine Person. Ich sage: Diese Personen seien allerdings 3 Mal aufgelistet und haben damit mehr Aufmerksamkeit als die anderen. Dazu könne er nichts sagen.

Ach so.

Das „Merkblatt“ hilft nicht weiter, die Abbildungen der Papiere entspricht nicht vollständig dem, was man geschickt bekommen hat.

Nun zur Europawahl…

Der Stimmzettel für die „Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlamentes am 9. Juni 2024 in Land Rheinland-Pfalz“ zeigt unmissverständlich: Ich habe 1 Stimme. Und die bezieht sich eindeutig auf eine Partei, siehe linke Spalte. In der rechten Spalte steht in Zeile 1, CDU, „Liste für Rheinland-Pfalz“. In allen anderen Zeilen steht „Gemeinsame Liste für alle Länder“. Wie soll man das verstehen?2)

Ich rufe beim zuständigen Wahlamt an. Eine Dame sagt freundlich, das wisse sie nicht, aber verbindet mich an die nächste Instanz. Der dortige Wahlamtsleiter ist auch freundlich und sagt, das sei eine „äußerst interessante Frage“, das sei ihm noch nicht aufgefallen. Und er nennt mir eine Telefonnummer in Bad Ems, wo die nächste Instanz antwortet. Dort erfahre ich von einer nicht ganz so freundlichen Persönlichkeit: Das stehe doch alles in § 8, Absatz 2 des Wahlgesetzes. Die Parteien hätten zu entscheiden, ob sie eine Landes- oder Bundesliste haben. Ich gebe zu bedenken, das wisse der Wahlamtsleiter offenbar nicht, und ich schon gar nicht, und ob diejenigen es wissen, die am 9. Juni in der Wahlkabine stehen? Mutmaßlich auch nicht. Der promovierte Wahlamtsleiter lässt mich wissen, dass die Wähler „mündige Bürger“ seien und wissen müssten, was im § 8 Absatz 2 stünde.
Ich frage ihn, was man vom „mündigen Bürger“ erwarten könne, wenn der örtliche Wahlleiter nicht erklären könne, was auf dem Stimmzettel zu sehen ist.

Das sei ja nun nicht das Problem der Wahlleitungen.

Den § 8 Absatz 2 finde ich nicht im Internet. Schaue deswegen auf der Website der Bundeswahlleiterin nach, dort unter > Europawahl 2024.3) Was ich suche, finde ich dort nicht. Rufe an, das Übliche: Keine direkte Ansprache, Kontaktformular nutzen.

Aber schon einen Tag später bekomme ich von der Bundeswahlleiterin eine exakte Auskunft:

„Bei der Europawahl reicht eine Partei oder sonstige politische Vereinigung, die an der Wahl teilnehmen möchte, als Wahlvorschlag eine Liste ihrer Bewerberinnen und Bewerber ein. Sie muss dabei angeben, ob sie mit dieser Liste entweder nur in einem Bundesland zur Wahl antreten möchte oder in allen Bundesländern. Geregelt ist dies in § 8 Absatz 2 des Europawahlgesetzes: https://www.gesetze-im-internet.de/euwg/__8.html
 
Zur Europawahl treten 33 Parteien und sonstige politische Vereinigungen mit einer gemeinsamen Liste für alle Bundesländer an. Lediglich die CSU tritt mit einer Liste nur im Bundesland Bayern an, die CDU mit 15 Listen – jeweils einer Liste in den übrigen 15 Bundesländern.
Eine Übersicht hierzu finden Sie auch in unserer Pressemitteilung: https://www.bundeswahlleiterin.de/info/presse/mitteilungen/europawahl-2024/14_24_zulassung-1bwa.html

Das muss man wissen, um sich die Auflistung bis ins Detail erklären zu können. Aber ehrlich: Wer kennt diesen § 8 Absatz 2 des Europawahlgesetzes?

Wählt, Leute, wählt!

Dieser Nachmittag liefert eine sehr schlüssige Erklärung dafür, warum die Wahlbeteiligung sinkt und sinkt und sinkt. Unlust ist das Eine, das Andere ist die völlige Unfähigkeit der Behörden, sich klar zu machen, was von Wählenden erwartet werden kann. Wir erkennen in jungen Menschen ein ausgeprägtes, politisches Interesse. Aber was ich selbst erlebt habe, lässt nur den Schluss zu, dass politisch relevante Wahlen potenziellen WählerInnen nicht leicht gemacht werden.

Von der Bundeswahlleitung kann  man erwarten, dass sie sich ihr eigenes Chaos und die Unschlüssigkeit ihrer Wahlunterlagen klar macht. Es ist nicht so, dass dort in einer Fußnote auf den § 8 Absatz 2 des Europawahlgesetzes hingewiesen würde. Und wer in der Wahlkabine steht, ruft ja auch nicht gleich beim Wahlamt an. Oder bei der Bundeswahlleiterin in Wiesbaden.

Also hier schon mal ihre Telefonnummer: 0611 753444.

Und nehmen Sie sich genug zu essen und zu trinken für die Zeit in der Wahlkabine mit.


1)  Hinweise für Kommunalwahl

2)  Alle Musterstimmzettel der Länder zur Europawahl finden Sie hier: https://www.wahlumfrage.de/musterstimmzettel-zur-europawahl-2024/