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Siedeln, Hausen, Wohnen

2228_Rez_Unf_Haeuser_1Ein Buch über »Unfertige Häuser« – und eine Rezension dazu, welche die Betrachtungen über das Wohnen und Hausen in alten und neuen Häusern betrifft und mit einigen persönlichen Erfahrungen des Rezensenten endet.

Haus Hoinka, Pfaffenhofen; (Bild: Patrick Schneider © Atelier Kaiser Shen)

Einige Architekten begleiten ihre entwerfende und planende Tätigkeit mit erhellenden Erläuterungen zu ihrer konstruktiven Arbeit. Es sind Exkursionen in die Philosophie, Sozialarbeit, Politik, Ökonomie, Baugeschichte oder Kunst. Kahlfeldt, Hild, Brandlhuber, Ebbinghaus … seien stellvertretend für das weite Themenspektrum erwähnt. Nun kommt das Atelier Kaiser Shen mit seinen „Überlegungen“ dazu. Ihrer aktuellen Ausstellung in der Stuttgarter Architekturgalerie am Weißenhof gibt das Stuttgarter Büro eine Lesehilfe mit, „angeregt und diskursiv entwickelt mit externen Gästen“ in ihrem Büro.

Mehrzweckhalle in Ingerkingen (Bild: Patrick Schneider © Atelier Kaiser Shen)

Mehrzweckhalle in Ingerkingen (Bild: Patrick Schneider © Atelier Kaiser Shen)

Was sie ausführen, ist nicht neu oder originell, gleichwohl noch immer gültig. (Vor fünfzig Jahren war Lucien Kroll bei Studenten der Vorreiter.) Das erste Kapitel ihres kleinen Buchs plädiert für die vernünftige Forderung des Verzichts, bei Architekten heißt das „Wohnfläche reduzieren“, um das ursächliche Problem der Verteilung zu mildern. Dazu gehört auch, die gemeinschaftliche Nutzung von Räumen vorzusehen. Konsequent fordern die beiden Autoren Florian Kaiser und Guobin Shen, das Neubauen überhaupt durch ein nachhaltiges Weiternutzen und Weiterbauen zu ersetzen. Sogar die Denkmalpflege muss dann Federn lassen, wenn man pragmatisch „einen differenzierten Umgang mit dem Bestand“ anstrebt. So endet ihr Plädoyer, das sie mit Arbeiten aus ihrem eigenen Atelier beweiskräftig illustrieren.

Kyra Bullert, Klaus Jan Philipp (Hrsg.): Unfertige Häuser 未完的建築«. 128 Seiten, 14 × 20 cm, 19,80 €. Edition Axel Menges, ISBN 978-3-86905-031-7

Florian Kaiser, Guobin Shen (Hrsg.): Unfertige Häuser 未完的建築«. 128 Seiten, 14 × 20 cm, 19,80 €. Edition Axel Menges, ISBN 978-3-86905-031-7

 

Ein zentraler Begriff, der Ausstellung und Buch den Titel gab, ist ihre Überzeugung, „Unfertige Häuser“ zu bauen. Zunächst akzeptiert man die freundliche Ansage: „Wir halten auch den Anspruch vieler Architekt*innen, fertige oder vollendete Häuser zu bauen, für unnatürlich und unpragmatisch.“ Die Forderung nach Veränderbarkeit gehört ja regelmäßig ins Repertoire der Bauschaffenden, damit „sich die Menschen wohlfühlen und […] selbst etwas beitragen können“.

Allerdings zeigt schon der Weg durch eine beliebige neue Wohnstraße, dass sich fast immer die Bauherrschaften durchgesetzt haben oder ein architekturferner Planvorlagebrechtiger vulgo eine Massivbaufirma den populären Vorstellungen des Publikums gefolgt ist – bisweilen über die Studie einer Marketinganalyse. Die beiden Autoren suchen dagegen geradezu demütig danach, „welcher Spielraum […] den Nutzer*innen überlassen“ bleibt. Sie vertrauen auf eine „starke Raumidee“, die durch „geringe Veränderungen“ nicht zerstört wird.

Wohnskulptur 02t (Bild: Patrick Schneider © Atelier Kaiser Shen); Ausstellung in der architekturgalerie am weißenhof bis zum 3. Oktober 2022

Wohnskulptur 02t (Bild: Patrick Schneider © Atelier Kaiser Shen); Ausstellung in der architekturgalerie am weißenhof bis zum 3. Oktober 2022

Die Lösung für diese Weiterinterpretation durch die Bewohner sehen sie in einer Staffel gleichwertiger „Räume ohne Eigenschaften“, am liebsten mit quadratischen Abmessungen.
Nun gut. Als älterer Kollege darf ich Bedenken zu diesem Konzept äußern, gestützt auf die persönlichen Erfahrungen mit meiner Familie, gesammelt in mehreren Wohnungen beziehungsweise Häusern. Darunter waren Grundrisse mit elend langen Treppenfluren, wir wohnten auf einer oder vier Ebenen, schliefen auf Emporen hinter Bücherregalen oder in Arbeitszimmern, hatten den Essplatz in der Diele, in der Küche und im Schlafzimmer vor einem Efeu-berankten Raumteiler, es gab ein Bad oder drei Nasszellen, große oder kleine Kinderzimmer, Durchgangszimmer, herrschaftliche Salons und enge Kammern. Jede Behausung war ein Original, hatte Charakter, war ein Abenteuer, das man aushalten musste. Es stimmt: Die Wohnungen waren für uns „unfertig“, aber ihr störrischer Zuschnitt regte an und forderte heraus. Alle taugten schließlich. Nichts schlimmer als Räume ohne Eigenschaften. Legebatterien, die die Bewohner selbst vollräumen müssen, damit man ihre Bestimmung erkennt.

Otto Steidle (1943-2004) hatte mir einst in einem Gespräch auf die Frage, warum er keine Einfamilienhäuser baue, geantwortet: „weil ich nicht am Samstag mit der Gattin des Hauses Badezimmer-Fliesen aussuchen will“. Kann ich gut verstehen. Mitbestimmung und Partizipation haben beim Bauen ihre Grenzen. Da bin ich furzautoritär. Der Bauherr geht zum Arzt und in die Autowerkstatt und hofft ergeben auf einen guten Rat. Nur beim eigenen Haus will er alles besser können. So erwarte ich von einem Architekten ein fertiges Haus, das mich mit Räumen, Dimensionen, Wegen, Materialien und Details konfrontiert, die ich mir nie vorgestellt hätte. Und wenn ich alles genossen habe und richtig zuhause bin, ziehe ich weiter und freue mich auf die nächste Erfahrung. Unfertig bin ich selber.


Die Ausstellung in der architekturgalerie am weißenhof ist bis zum 3. Oktober 2022 zu sehen.