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Bild: Christian Holl
Neue Großprojekte (V) | Auch wenn der Bestand sich als Maß der Architektur etabliert, wird weiter neu gebaut werden: als Ergänzung, Erweiterung, Überformung und Transformation. Was neu gebaut wird, ist aber in Kürze auch nichts anderes als Bestand. Das beim Entwerfen zu beherzigen, wäre ein echter Gewinn. In vielerlei Hinsicht.

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Haus aus Naturbaustoffen. Ökologisches Bauen sollte lange nicht mit anderem Bauen vergleichbar sein. (Bild: Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0, Superikonoskop)

Es sind schon Jahrzehnte, in denen der Fachdiskurs der Architektur um das ökologische Bauen kreist. Der Eindruck, der sich beim Blick in ältere Publikationen aufdrängt, ist aus heutiger Sicht erstaunlich. In den Diskussionen ging es nicht nur um energetische Konzepte, um Fragen von Technik und Material, sondern auch darum, wie und ob ökologische Architektur eine eigene Ästhetik haben müsse. Ökologisches Bauen einerseits und energetisches Sanieren einschließlich Umbau und Umnutzung andererseits wurden dabei lange merkwürdig getrennt voneinander behandelt – selbst beim ökologischen Bauen ging es fast immer um den Neubau. Und so war die Frage danach, wie sich ökologische Architektur zu zeigen habe, eine, die am Neubau abgearbeitet wurde. Von einigen Ausnahmen abgesehen (Thomas Herzog etwa) war die ökologische Architektur mit dem Makel behaftet, auch ästhetisch nur für eine Nische zu taugen. Grasdach, Holzfassade, Wintergarten – die ökologische Architektur war gemacht für eine gebildete Klientel mit politisch linker Orientierung und konsumkritischer Haltung.

Der Schritt aus der Sackgasse

Die nicht massenkompatible Ästhetik war also kein Zufall, sondern Programm. Und so kam noch 2009 Andreas Denk zu dem Urteil, „trotz zahlreicher technologischer Entwicklungen in Industrie und Forschung ist es bisher nicht gelungen, ökologische Anforderungen umfassend und in angemessener Weise auf die Architektur zu übertragen.“ Und etwas weiter im gleichen Text: „Sämtliche Solartechniken sind gestalterisch weitgehend unbewältigt.“ (1) Man konnte das auf zweierlei Art lesen. Entweder als vernichtende Kritik an den Pionieren des ökologischen Bauens, an Rolf Disch, Gernot Minke, Manfred Hegger, Joachim Eble, Peter Hübner ebenso wie an Sauerbruch & Hutton oder den Projekten, die von Transsolar begleitet worden sind. Oder Denk reagierte – und das scheint mir wahrscheinlicher zu sein – darauf, dass die Pioniere viel zu lange Pioniere geblieben sind und es kaum ein Interesse daran gab, energetische Konzept als architekturprägende Determinanten so zu integrieren, dass sie weder als Add-on noch als demonstratives, abgrenzendes Bekenntnis wahrnehmbar waren. Das Unbefriedigende war und blieb: ökologisch, nachhaltig, energetisch sinnvoll, wie auch immer man es bezeichnen will, es war eine Alternative, die stets nur als eine Alternative wahrgenommen wurde und nicht als eine dringende Notwendigkeit, die, wenn die Erde weiter bewohnbar bleiben soll, so prinzipiell Teil der Architektur werden muss, wie es etwa die Baukonstruktion oder die städtebauliche Einbindung ist.

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Cover des Katalogs, der zum deutschen Biennale-Beitrag 2012 bei Hatje Cantz erschien.

2012 wurde ein wichtiger Schritt aus der Falle, getan, in die die Suche nach einer anspruchsvollen Ästhetik des ökologischen Bauens offensichtlich geführt hatte. Der Biennale-Beitrag im Deutschen Pavillon „Reduce, Reuse, Receycle“, von einem Team unter der Leitung von Muck Petzet erarbeitet, würdigte auf maximal öffentlichkeitswirksamer Bühne die Bedeutung von Umbau, Umnutzung, Pflege, Wiederverwendung und Weiterbauen ebenso wie die Ergänzung städtebaulicher und baulicher Strukturen mit Neubauten als eine spezifisch ästhetische Strategie der Aneignung und Weiterentwicklung auch des alltäglichen Bestands. Man kann diesen Biennale-Beitrag durchaus als Meilenstein bewerten – er hat gleichzeitig das Thema neu ausgerichtet wie bereits bestehende Initiativen gebündelt und sichtbar gemacht hat. Der Umgang mit dem Bestand war unübersehbar in den Diskussionen ökologisches Bauen etabliert worden.

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Wurde 2012 im deutschen Pavillon gezeigt: Ostflügel des Museums für Naturkunde Berlin Diener & Diener Architekten, 2008–2010. (Bild: Christian Holl)

Inzwischen ist die graue Energie als relevante Größe längst in den Diskussionen um verantwortungsvolles Bauen angekommen, das Thema zirkuläres Bauen nimmt Fahrt auf: Kaum eine Fachzeitschrift, die das Thema in den letzten Monaten nicht aufgegriffen hätte, an entsprechenden Konferenzen und Vorträgen ist kein Mangel. Die Frage des Umgangs mit dem Bestand, auch dem, der nicht denkmalwürdig ist, ist inzwischen glücklicherweise schon einige Jahre fester Bestandteil des Diskurses. Die Skepsis gegenüber einem immer weiteren Wachstum ist gestiegen, Systemkritik keine Nischenerscheinung mehr, kein Privileg eines eingegrenzten Milieus mehr. Erhalt, Sanierung, Umnutzung ist keine von der Frage nachhaltigen Bauens getrennte Sphäre mehr. Damit ist die Diskussion über ein ökologisches, nachhaltiges Bauen aus einer Verengung geführt worden ist. Wenn das Umbauen, Erhalten, Weiterbauen an sich schon eine ökologische Qualität ist, erhalten die architektonischen Techniken des Umbaus mit dem Bestand wie Collage, Kontrast, Anpassung eine auch in neu zu Bauendes ausstrahlende Fundierung. Das Entwerfen ist nun immer schon unter der Voraussetzung des Bestehenden zu verstehen, das den Rahmen setzt, aber die Unterordnung nicht einfordert, sondern die Lust weckt, sich durch das Bestehende herausfordern zu lassen und mit ihm in den Dialog zu treten.

Und die Tür wurde geöffnet, im Normalen einen schon grundsätzlichen Wert zu erkennen. Nicht zuletzt wird inzwischen nach Wegen gesucht, einfach zu bauen, wird der Hoffnung, Umweltfragen im Bauen mit komplizierter und ressorucenaufwändiger, wartungsintensiver und fehleranfälliger Technik zu lösen, die Alternative des einfachen Bauens, des Verzichts auf Technik entgegengehalten, mit der auch die absurden Komfortansprüche – beispielsweise ganzjährig konstante Raumtemperaturen – auf den Prüfstand gestellt werden können.

Eingebunden sein

Das heißt nun nicht, dass keine Diskussionen mehr über Architektur geführt würden. Wärmedämmverbundsysteme sind immer noch in der Kritik, wenn auch darüber nur noch wenig gestritten wird. Und angesichts einer kaum mehr kontrollierbaren Entwicklung der Erderwärmung, Artensterben und unablässig wachsender Müllbergen ist eine Diskussion über die ästhetische Ortsbild-Verträglichkeit einer aufgeschraubten PV-Anlage eher eine Bagatelle, eine Ablenkung vom eigentlichen Problem, Prokrastination, schon erholsam, denn man kann ja selbst noch in der unpassendsten und erbärmlichsten PV-Anlage einen Funken Problembewusstsein ablesen. Es ist auch deswegen eine Erholung, weil sich aller Klimaveränderungen und Nachhaltigkeitsdiskussionen zum Trotz im Bauen eigentlich verstörend wenig geändert hat. In der Bau- und Immobilienwirtschaft scheint die Klimakrise weitestgehend ignoriert, als wäre sie eine Erfindung der Klatschpresse, hin und wieder wird ein kimaverträglicheres Bauen als Marketinginstrument genutzt, um parallel dazu weiter zu machen wie bisher. Es wird weiter Boden versiegelt, Einfamilienhäuser werden abgemetert, Einkaufszentren hochgezogen. Dass Beton eine höchst problematische C02-Bilanz hat, dass Sand immer knapper wird, dass Boden nicht vermehrbar ist, scheint kaum zur Kenntnis genommen zu werden.

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Umbauen, ein altes Prinzip. (Bild: Christian Holl)

Die Frage stellt sich daher, ob das, was mit dem Deutschen Pavillon 2012 als Aufbruch ausgemacht werden kann, nicht noch weiter getrieben werden könnte, um das Bauen in einer Realität zu verorten, in der sektorales Optimieren keine Lösung ist, wenn es blind ist für die Wirkungen ist, die es hervorruft und die Zusammenhänge, in die es eingebunden ist.

Das würde das Entwerfen weiter verändern können. Dann nämlich, wenn wir das Bauen nicht als einen Neuanfang verstehen, sondern das Neue von Anfang an als eine Position innerhalb eines bestehenden und intensiven Geflechts aus Räumen, Stoff- und Energieströmen, Alltagspraxis und Alltagslogik verstehen. Dabei müsste nicht nur ernstgenommen werden, dass das Gebaute Teil dieses Geflechts ist, in das sich das Neue so integriert, dass es den Menschen erlaubt, ihren Alltag besser zu bewältigen. Es geht eben nicht nur oder in erster Linie darum, eine bestimmte Anzahl von Wohnungen neu zu bauen, sondern den Bestand auch im Bereich der Finanzierung und im Sinne des Gemeinwohls so zu behandeln, dass der Wohnraum effizient genutzt werden kann, dass der Gesamtbestands alles Gebauten als ein mit dem Arbeiten, mit der Freizeit, verknüpften Prozess zu gestalten ist, der Straßen, Fahrangebote, Freiräume, Einkaufsmöglichkeiten aufeinander bezieht, ohne darin je eine endgültige Antwort in Form einer Lösung zu finden, die nicht mehr verändert werden muss. Dass dabei politische Voraussetzungen (Bodenpolitik) ebenso geschaffen werden müssen, wie es notwendig ist, viel stärker als es bislang üblich ist, die Realität derer, für die man baut, zu berücksichtigen, hat Stefan Kurath dargelegt. (2)

Optionen gewinnen

Für die Haltung der Entwerfenden wäre es dafür hilfreich, ihre Haltung zu ändern. Sie sollten den Wunsch aufgeben, so lange wie möglich (eben auch über den Zeitpunkt der Übergabe an die Nutzenden hinaus) die Kontrolle über das Gebäude zu behalten, und dies gelingt umso besser, je mehr sie das Neue als das verstehen, was es in Kürze ohnehin sein wird: Bestand.

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Kontrollierte Architektur. (Bild: Christian Holl)

Der Wunsch nach Kontrolle ist dabei gerade kein Verzicht auf gestalterische Vielfalt. Im Gegenteil: Es ist durchaus lohnend, darüber nachzudenken, ob dieser Wunsch nach Kontrolle über die Gestalt nicht gerade eine Einschränkung des gestalterischen Repertoires bedeutet, weil es die Lösungen begünstigt, die möglichst lange sichtbar bleiben, und sei es als eine durch die Nutzenden gestörte. Als vermeintlich zeitlos, orientiert an der Geometrie platonischer Körper ist Architektur umso besser lesbar, je mehr sie Objekt ist und keiner Veränderung mehr ausgesetzt wird. Je perfekter sie die Klarheit des geometrischen Körpers sichtbar macht, desto mehr muss als Verlust empfunden werden, wenn diese Klarheit später – von den Nutzenden – beeinträchtigt wird; und je eher sie von vorne herein nahe an der Perfektion ist, desto weniger besteht eine Notwendigkeit, später etwas zu ändern. Die damit einhergehende Abstraktion ist so unter der Hand eine eingebaute Sicherung gegen die Veränderung, nachdem der Bau an den Nutzerschaft übergeben wurde, ebenso wie sie zuvor die im Plan festgehaltene Qualität gegen die möglichen Unzulänglichkeiten oder Eigenheiten der Ausführung schützt: Sie lässt sich sowohl leicht vermitteln als auch kontrollieren. Die Abstraktion der glatten Fläche und des präzisen geometrischen Körpers macht es schwer (und soll es schwer machen), die Ausführung mit einer nicht im Plan schon festgelegten Qualität zu versehen, so dass sie nicht als eine solche sichtbar ist. Und greifen die Menschen im Gebrauch dennoch in die Architektur ein, so kann die Veränderung als Zutat gelesen werden, von der abstrahiert werden kann: Sie lässt sichtbar, was ursprünglich gebaut, gedacht und entworfen worden ist. Gute Architektur ist in diesem Verständnis keine, die sich durch die Nutzung und ein prinzipiell nicht zu vollendendes Weiterbauen erst erfüllen könnte.

Kontrolle abzugeben hingegen würde im Zusammenhang mit den Forderungen nach zirkulärem Bauen die Bereitschaft öffnen, einen Umgang mit den Materialen zu finden, die verfügbar sind. Und sie würde die Erkenntnis öffnen, dass politische Aushandlungsprozess und gestalterische Entscheidungen keine Gegensätze sind, dass das eine das andere nicht ersetzen muss, sondern dass beides im Wechselspiel miteinander entstehen kann. Daraus entstehen fraglos auch Konflikte, aber eben auch Räume des Möglichen, Kontingenzen, die Teil der Architektur und der Stadt sind. Das ist fraglos ein Moment der Instabilität, weil es ausschließt, eine möglichst lange nicht zu verändernde Lösung zu verfolgen. Instabilität heißt aber letztlich nichts anderes, als Optionen zuzulassen – und damit auch das Politische notwendig zu machen, das nur dann wesentlich wird, wenn es sich als ein Aushandlungsprozess über grundsätzliche Alternativen versteht.

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Optionsraum Stadt. (Bild: Christian Holl)

Den Blick auf Architektur und Stadt würde sich vermutlich wesentlich ändern, könnte dies viel besser als Qualitäten anerkennen und einen Umgang damit finden, wenn sie im Sinne von Francois Jullien als eine Ressource zu verstanden würden, einen Begriff, den ich auch dem der städtischen Mine vorziehen würde, da Minen ausgebeutet werden, Ressourcen sich aber erneuern können. In seinem Essay „Es gibt keine kulturelle Identität“ betont Jullien, dass „Kultur sich dadurch auszeichnet, dass sie mutiert, dass sie sich permanent verändert.“ (3) Dass könnte auch für die Architektur gelten. (4) Ein Neubau wäre dann nur der noch unfertige Bestand – weil er sich noch nicht als Ressource bewährt hat, noch nicht gezeigt hat, wie er durch Mutationen und Veränderung den Alltag bereichern und neue Wege öffnen kann, Gemeinschaft zu leben und einen Umgang mit der Welt zu finden, weil er erst noch sein kulturelles Potenzial unter Beweis zu stellen hat. Neubau ist etwas, was nur noch nicht verändert worden ist, sich aber so verändern darf, wie der Bestand jetzt schon verändert wird. Das hieße auch, darüber nachzudenken, wie Architektur gebaut werden muss, damit sie sich verändern lässt, zum Umbau ermutigt, weil wir ohnehin nicht wissen können, für was alles sich ein Gebäude noch eignen könnte.

Jeden Neubau als zukünftigen Bestand zu verstehen wäre auch eine Forderung nach Demut bei technischen Lösungen, bei denen immer schon gefragt werden muss, wie sie in 50 oder mehr Jahren noch stabil funktionieren können. Auch hier ist Resilienz als Qualitätsanspruch erst noch zu etablieren. Hierin ist Einschätzung Andreas Denks von 2009 aktuell geblieben: Noch viel zu oft vertrauen wir auf Techniken, „die in der Produktion der notwendigen Materialien und in der Unterhaltung mittel- und langfristig wahrscheinlich größeren materiellen Schaden anrichten als verhindern.“ (5) Wenn das vermieden wird, hätten wir schon viel gewonnen.


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Neue Großprojekte (II): Berliner Ideologieen >>>
Neue Großprojekte (III): Ortsranderweiterung >>>
Neue Großprojekte (IV): Alt ist das neue Neu >>>


(1) Zeitschrift „der architekt“ der Ästhetik der Ökologie, 3/2009, S.22 /23
(2) Stefan Kurath: jetzt: die Architektur! Zürich 2021. Siehe die Rezension von Jürgen Tietz >>>
(3) François Jullien: Es gibt keine kulturelle Identität. Berlin 2017. S. 7
(4) »Ressource Architektur« war nicht zuletzt auch der Untertitel des deutschen Biennale Beitrags von 2012.
(5) siehe Anmerkung 1