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Stilkritik (114) | Die Auseinandersetzung mit weltanschaulichen Fragen dominiert in akuten Krisenzeiten die öffentlichen Diskussionen. Betroffen sind derzeit Themen wie Pazifismus (Krieg in der Ukraine) oder Kunstfreiheit (Documenta in Kassel), aber auch in Debatten über Architektur taucht »Ideologie« als Kampfbegriff immer wieder auf, um ein Gegenüber einer beschränkten, wenn nicht falschen Sichtweise zu bezichtigen. Aber wer selbst im Glashaus sitzt, muss vorsichtig sein.

Die Ideen der herrschenden Klasse bestimmen die Ideen der Zeit: Karl Marx (1818-1883) zu öffentlicher Meinung und Ideologie (Bild: Wiki free)


Fangen wir mit einer Definition an. Ideologie ist zunächst einmal die Lehre von den Ideen. Als sozialwissenschaftlicher Terminus wird Ideologie jedoch oft benutzt, »um Theorien, die den Kriterien des Wahrheits- oder des Realitätsbegriffs des eigenen Standpunkts nicht genügen, als bewußte oder unbewußte Täuschung zu kritisieren.«1) Es ist Napoleon gewesen, der in der alltagssprachlichen Bezeichnung von Fanatikern und Träumern als »Ideologen« die negative Konnotation der Ideologie bewirkt hat. Doch denkt man an die Abgrenzung zum Idealismus, wird evident, dass dieser sich genauso realitäts- und wahrheitsfern, aber doch positiv konnotiert in die Ideengeschichte fügt. Evident ist auch die große Realitäts- und Wahrheitsferne, die sich beispielsweise im Diskurs zur Ideenlehre in Politik- und Religionslehren ergeben. Die unterschiedlichen Perspektiven von Politikern oder Gläubigen schließen eine gleiche Weltanschauung faktisch aus, Ideen und Ideale divergieren, die napoleonisch negative Bezeichnung der ideologischen Verblendung ist hier – wie in so vielen anderen Auseinandersetzungen zwischen Andersdenkenden – an der Tagesordnung.

Im Kontext logischer und empirischer Erkenntnistheorie und jüngerer Wissenschaftstheorie eignet der Ideologie eine wachsende Geringschätzung: Zu beobachten ist, dass alles, was wissenschaftlich widerlegt, aber von manchen Menschen noch als »wahr« bezeichnet wird, falsch oder richtig genannt werden kann. Dabei entstehen durchaus Konflikte, denken wir an die jüngsten Streitereien, die sich vertrauenswürdige Virologen und renitente Impfgegner geliefert haben.

Wertewelten

Die amerikanische Wissenssoziologie versteht unter Ideologie »jedes System von Ideen, Meinungen, Einstellungen und Werten, das sich innerhalb sozialer Gruppen bildet und dazu dient, das eigene Handeln zu legitimieren und fremdes Handeln zu beurteilen.«2) Um differenzieren zu können, schlug der Politikwissenschaftler Kurt Lenk drei Ideologie-Typen vor: Rechtfertigungs- und Komplementärideologien sowie Verschleierungs- und Ablenkungsideologien3) – letztere sind bemerkenswert, weil sie für die vielen Feindbildkonstruktionen verantwortlich sind, mit denen Diskussionen abgewürgt und Nachforschungen unterbunden werden sollen. Die streitlustige Fridays-for-Future-Aktivistin Luisa Neubauer schrieb beispielsweise über einen Auftritt von Kanzler Scholz beim Katholikentag: »Ein Bundeskanzler, der sich nicht anders zu helfen weiß, als klimabewegte Menschen der ideologischen, antidemokratischen Grundmotivation zu bezichtigen – das ist dramatisch, für die Klimabewegung, für die Demokratie. Es sollte uns aufschrecken lassen – die Wucht, mit der selbst der Kanzler im ungeskripteten Moment den Kampf für unser aller Lebensgrundlagen als ideologisch und demokratiefeindlich verkennt.«4)

Freiheit für Künstler und Architektinnen?

Hier wird es nun für Künstler und Architekten interessant. Erkennt man im Vertrauen in Wissenschaft und Technik per se eine Ideologie5), bieten Kunst und Architektur besonders hohes Streitpotenzial, weil sie Freiheit als Basis ihres Schaffensbereiches voraussetzen.

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Tages- und Fachpresse: Exkurse zur Ideologie statt zu Argumentationsketten

Damit zum Konkreten. Georg Vrachliotis widmete sich kürzlich im Baumeister den Folgen der Digitalisierung im Entwerfen und Lernen und analysierte, dass die Technologisierung des Lernens »stets von gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen und öffentlich geführten Ideologiedebatten geprägt war«. Um zu resümieren: »Ob Zeichensaal oder Maschine, Lernraum oder Lernautomat – was in der digitalen Kultur noch immer zur Disposition steht, ist die kritische Erforschung der produktiven Dimension disruptiver Praktiken im architektonischen Denken.«6) Was immer mit »architektonischen Denken« gemeint sein mag: Allein die Tatsache, dass von »disruptiven Praktiken« vermutet wird, sie seien im nicht-Digitalen kaum möglich, weist auf weltanschauliche Gegensätze, die es vielleicht gar nicht gibt.

Bis 18. September in Kassel: Die 15. Documenta (https://documenta-fifteen.de)

Bis 18. September in Kassel: Die 15. Documenta (https://documenta-fifteen.de)

Verschleiern, Ablenken, Ausweichen

Ein anderes Beispiel. Die gegenwärtigen Auseinandersetzungen über Kunstwerke bei der Documenta kulminieren zu einer Weltanschauungsschlacht, Ideologie-Vorwürfe zischen wie vergiftete Pfeile durch die kulturinteressierte Öffentlichkeit. Es ist hier nicht der Ort, an dem die Sachverhalte nochmals erwähnt werden müssten, alles lässt sich nachlesen.7) Aber je schärfer die Diskussionen geführt werden, desto öfter tauchen sie auf: die Ideologievorwürfe. Es wirken dabei ein Kuratoren-Kollektiv und Künstlergruppen mit maximalen, antiautoritären Freiheitsvorstellungen, politisch Verantwortliche, politische Gremien und die Presse, Sachverständige und Finanziers – wie immer man über alles denkt: Die Debatten werden mehr und mehr emotional geführt, und schon tauchen Ideologie-Vorwürfe geradezu en masse auf. Zuletzt wird ein »hoch subventioniertes Organisationsversagen im deutschen Kulturbetrieb« angeprangert, was man für typisch deutsch halten könnte. »Ruangrupa betreibt das Aufweichen formaler Zuständigkeiten mit antiautoritärem Anspruch und ideologisch überhöht. (…) Ruangrupas Ideologie des Kontrollverzichts dürfte in vielen Kulturinstitutionen auf diffuse Sympathie stoßen. (…) Hinter diesen Kollektiv-Ideologien steht der Wunsch, arbeitsteilige Organisationen zu Gruppen umzuformen, in denen alle, von Mensch zu Mensch, jederzeit mit allen über alles reden und gemeinsam entscheiden können [Hervorhebungen durch die Autorin].«8) Die Ideologie-Vorwürfe gipfeln darin, fehlende Organisationsstrukturen zu beklagen, diese seien »kein Selbstzweck, auch keine Herrschaftsinstrumente, wie die Freunde des Kollektiv-Kitschs vermuten«.9)

Warum wird hier dauernd die Ideologie-Keule geschwungen? In Kassel nehmen sich Künstler die Freiheit der Kunst, die immer wieder eingefordert werden kann. Es muss hier über die Grenzen der künstlerischen Freiheit gestritten werden – ja, unbedingt. Aber so einfach ist das nicht, dass man abschließend von »ideologischer Überhöhung« reden könnte, um einer bitteren, verletzenden, Abgründe offenbarenden und wichtigen Debatte über Kunst und Freiheit auszuweichen. In einer pluralistischen, freien Gesellschaft kann man keine pauschalen Ideologie-Verdächtigungen hinausposaunen – jede Diskussion muss leider geführt werden. Mühsam, nervend, abscheulich. Aber so ist es eben.


1) Herbert R. Ganslandt: Ideologie. In: Jürgen Mittelstraß (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 2, 1984, Seite 194

2) ebda., Seite 196

3) Kurt Lenk: Ideologie. Ideologiekritik und Wissenssoziologie. Frankfurt a. M., 9: 1984

4) Luisa Neubauer: Nur weil die Richtigen regieren, wird nicht gleich richtig regiert. In: Die ZEIT, 9. Juni 2022, Seite 11; bemerkenswert ist: Robert Habeck verabschiedet sich gerade – pragmatisch – von grünen »Idealen«, die ihnen (den Grünen) über Jahrzehnte stets »Ideologieverdacht« eintrugen, siehe: Hilmar Klute: Adieu, Ideale. In: Süddeutsche Zeitung, 28. Juni 2022

5) Jürgen Habermas: Wissenschaft und Technik als Ideologie.

6) Georg Vrachliotis: Unter Spannung: Räume des Lernens. In: Baumeister 7/2022, Seite 114

7) u. a. aktuell: Stefan Trinks: Kassles größtes Kunstbeben. Eine kurze Geschichte der Documenta-Kritik. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. Juli 2022 (https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst-und-architektur/documenta/documenta-skandale-kassels-groesstes-kunstbeben-im-rueckblick-18165633.html)

8) Peter Laudenbach, Kai Matthiesen, Judith Muster: Kollektiv und Desaster. In: Süddeutsche Zeitung, 11. Juli 2022, Seite 9

9) ebda.