In der neuen Architekturpraxis steht die Zusammenarbeit im Mittelpunkt. Projekte entstehen nicht mehr allein am Schreibtisch, sondern im Austausch mit verschiedenen Akteur:innen – von Nutzenden bis zur Stadtgesellschaft. Diese Arbeitsweisen erweitern unser Verständnis von Architektur und öffnen Architekt:innen neue Wege der Tätigkeit.
Hanna Noller In der Komplexitätstheorie wird davon ausgegangen, dass komplexe Fragestellungen nicht mit einfachen oder ressourcensparenden Lösungen bewältigt werden können. Komplexe Probleme erfordern stets einen ebenso komplexen Lösungsansatz. Um diesen Herausforderungen gerecht zu werden, sind vielfältige Analyse- und Darstellungs-Methoden nötig, um die Zusammenhänge umfassend zu verstehen und differenzierte Lösungen zu entwickeln. Zusätzlich beeinflussen sich innerhalb eines komplexen Systems die Elemente gegenseitig: Der Zustand eines Elements ist stets vom Zustand anderer Elemente abhängig und beeinflusst diese wiederum. Daher ist es unerlässlich, möglichst viele – oder zumindest vielfältige – Perspektiven der beteiligten Akteur:innen zu integrieren, um ein möglichst vollständiges Bild der Problemlage zu erhalten. (*)
Lena Engelfried: In dieser Herangehensweise an komplexe Aufgaben spiegelt sich vieles wider, was mich ursprünglich bewogen hat, Architektur zu studieren. Der Beruf der Architektin erschien mir als eine reizvolle Kombination aus Ingenieurwissenschaften und kreativer, innovativer Gestaltung – mit dem Ziel, durch gestaltete Räume eine lebenswertere Umwelt für die Menschen zu schaffen. Das klischeebehaftete Bild, das ich von Architekt:innen hatte, gefiel mir: elegant und vorzüglich schwarz gekleidet; gesellschaftlich hoch angesehen, vergleichbar mit Mediziner:innen und Jurist:innen – eine große Verantwortung tragend. Multidisziplinäre Expert:innen – ausgebildet in Geschichte, Theorie, Philosophie, Mathematik, Physik, bildenden Künsten, Sozialwissenschaft und Kommunikation. Wahre Superhelden unserer Zeit!
Umso ernüchternder waren die Erkenntnisse, zu denen ich nach und nach in meinem Architekturstudium kam. Sie führten dazu, dass ich nach 16 Semestern, die begleitet waren von diversen Büro-Praktika und studentischen Projekten, in einer tiefen Krise in das Berufsleben verabschiedet wurde. Ich hatte vor allem gelernt, wie ich nicht arbeiten möchte. Ich verstand immer besser, welche Missstände Architekturschaffende in einem anhaltenden Teufelskreis rund um das Thema Bauen tanzen lassen. Architekt:innen werden gezwungen, sich in einem wirtschaftlichen System und normierten Regularien zu bewegen, die Werte, Gestaltungsansprüche und Selbstachtung dermaßen in die Knie zwingen, dass ich mich frage, wie groß die Leidenschaft und Ausdauer für diese Berufung wohl sein muss, um solche Bürden langfristig tragen zu können.
Auf meiner Suche nach anderen Wegen der Architekturpraxis begegne ich immer wieder Weggefährt:innen und stelle fest, dass ich mit meinen Erkenntnissen über Missstände nicht alleine bin, dass das Klagen überall groß ist. Andererseits zeigt sich auch: Mit Neugierde, Mut und viel Fleiß tun sich Bereiche im weiten Feld der Gestaltung unserer Umwelt auf, die mindestens genauso, wenn nicht sogar wichtiger sind als die klassische Architektur. Es ist schlicht eine Frage des Aufwands und der Motivation. Wie sehr wollen wir, dass sich etwas verändert, wie viel Energie sind wir bereit in die trägen Mühlen bestehender Systeme zu geben, um Veränderung anzustoßen und neue Wege zu finden?
Hanna Noller: Nimmt man die Komplexitätstheorie ernst, ist es illusorisch zu hoffen, dass die Herausforderungen der Architektur durch einfache Lösungen bewältigt werden können – und auch nicht durch gefällige Gestaltung einer einzelnen Person, die für und über andere hinweg entscheidet. Stattdessen ist die Kooperation verschiedener Institutionen und Akteur:innen erforderlich. Diese Kooperation erfordert nicht nur die Anwesenheit der relevanten Akteur:innen, sondern auch geeignete Räume und Formate für effektive Ko-Kreation. Solche Räume können physischer oder digitaler Natur sein – von Workshops und Planungsrunden bis hin zu digitalen Plattformen für kollaborative Prozesse. Wesentlich sind zudem die Menschen, die den Prozess moderieren und die Zusammenarbeit gestalten. Diese Moderator:innen spielen eine Schlüsselrolle. Denn von ihnen hängt es ab, ob eine Atmosphäre geschaffen werden kann, in der ein offener Dialog möglich ist und sichergestellt wird, dass alle relevanten Perspektiven gehört werden, der Dialog offen bleibt und die Diskussion produktiv geführt wird. Nur durch gezielte Moderation und Prozessgestaltung kann eine fruchtbare Zusammenarbeit entstehen, die die komplexen Anforderungen der Architektur nachhaltig bewältigt. Es geht darum, diese Erkenntnisse stärker in der alltäglichen Praxis der Architektur zu verankern.
Lena Engelfried: Die Herausforderungen unserer Zeit – Klimawandel, Ressourcenschonung, soziale Gerechtigkeit – erfordern von Architekt:innen mehr als bauliche Lösungen. Es braucht eine neue Haltung und Praxis, um den Anforderungen der Gegenwart gerecht zu werden. Um einen Sinn und Zweck aus dem Studium ziehen zu können, versuche ich einen anderen Weg als den einer klassischen Architektin einzuschlagen. Die Arbeit der Architekt:innen umfasste schon immer weit mehr als nur das Entwerfen von Gebäuden. Dennoch wurde dieser facettenreiche Beruf oft von dem dominanten, heroischen Bild der genialen, allein gestaltenden Architekturpersönlichkeit überstrahlt. Umso wichtiger ist es, heute sichtbar zu machen, wie sehr wir Vermittler:innen, Berater:innen und Moderator:innen sind und dass viele tradierte Arbeitsweisen an ihre Grenzen stoßen, weil die Herausforderungen zu vielschichtig für Methoden von gestern sind. Es ist an der Zeit, unser Berufsbild neu zu denken und zu erweitern.
Hanna Noller: Um innovative Lösungen zu finden, ist es notwendig, Neues auszuprobieren und Experimente zu wagen. Erkenntnis entsteht durch das gemeinsame Tun. In der Ko-Kreation können unkonventionelle Ansätze entwickelt werden, die besser auf die sich wandelnden Anforderungen reagieren und nachhaltige Ergebnisse liefern. Die Bereitschaft zur Innovation und zum Experimentieren ist entscheidend, um die komplexen Herausforderungen der Architektur erfolgreich zu meistern und zukunftsfähige Lösungen zu entwickeln. Wir sollten keine Angst vor Komplexität haben, sondern sie als etwas Wertvolles verstehen, das es zu pflegen gilt. Die Komplexität ist nicht nur eine Herausforderung, sondern auch eine Chance für tiefgreifende Innovation und umfassendes Verständnis. Indem wir uns der Komplexität mit Offenheit und Entschlossenheit begegnen, können wir Lösungen entwickeln, die nicht nur den heutigen Anforderungen gerecht werden, sondern auch zukunftsweisend sind.
Lena Engelfried: Auch die Institutionen müssen sich an die veränderten Rahmenbedingungen anpassen. Die bestehenden Regelungen fördern oft nicht ausreichend innovative und nachhaltige Praktiken. Es ist entscheidend, dass die Kammern die Herausforderungen anerkennen und sich für eine Reform der Strukturen einsetzen, um kreativen und zukunftsweisenden Ansätzen mehr Spielraum zu geben.
Mit dieser Ausstellung möchten wir dazu anregen, die Architektur und die Art, wie sie gedacht, produziert, behandelt wird, weiterzuentwickeln.
Die ausgewählten Büros zeigen, dass es möglich ist, neue Wege zu gehen. Sie arbeiten kollaborativ, denken interdisziplinär und handeln ressourcenbewusst. Ihre Projekte sind Antworten auf Fragen der Nachhaltigkeit und sozialen Verantwortung, sie orientieren sich an den Bedürfnissen der Menschen, die die gebauten Räume nutzen. Damit beweisen sie, dass sich Architektur erfolgreich den neuen Herausforderungen stellen kann. Architekt:innen müssen weder aufhören kreativ zu sein noch ihren Gestaltungsanspruch aufgeben. Es geht vielmehr um eine Weiterentwicklung, die neue Möglichkeiten eröffnet und Impulse gibt die Rolle der Architekturschaffenden in der Gesellschaft neu zu definieren.
Wir laden ein, diese Impulse aufzunehmen und die Architekturpraxis der Gegenwart kritisch zu hinterfragen: Wie können wir nachhaltiger handeln? Wie können wir soziale Ungleichheiten abbauen und den Zusammenhalt in unseren Städten stärken? Welche neuen Arbeitsweisen können wir etablieren? Und wie können wir die Architektenkammern reformieren, um diese Ziele zu unterstützen? Gemeinsam können wir diese Fragen beantworten und den Wandel aktiv mitgestalten. Die Zukunft der Architektur liegt in unseren Händen – und sie beginnt jetzt.
Bis zum 1. Dezember: In der Architekturgalerie am Weißenhof, Stuttgart
Die Begleitpublikation kostet in der Ausstellung 5 Euro.
Am 22. November, 15-19 Uhr, findet an der Akademie der Bildenden Künste ein Symposium zu der Ausstellung statt, in der über Gegenwart und Zukunft von Lehre, Praxis und Berufsbild diskutiert wird.
Mit den an der Ausstellung beteiligten Büros sowie Anne Bergner, Bettina Kraus, Vera Krimmer, Jan Keinath, adapter, Felix Goldberg, Alija Doll, Lorenz Hahnheiser