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Entdeckungsreise im Bestand. Foto: orto

Die Architekturgalerie am Weißenhof in Stuttgart zeigt im Herbst die Ausstellung „Und jetzt – Akute Positionen junger Büros zu Architektur und Planung“. In einer Interview-Serie werden hier die Protagonisten der Ausstellung vorgestellt. Teil 1: Felix Matschinske und Alexander Werle


orto ist ein Software- und Vermessungsunternehmen aus Berlin. Alexander Werle und Felix Matschinske gründeten es 2021, um immer größer werdende Datenmengen aus der sensorischen Gebäudeerfassung breit zugänglich zu machen. Damit kann ein Gebäude mittels „Reality Capturing Technology“ als greifbares Objekt sichtbar gemacht und in einen vielschichtigen Komplex aus sichtbaren und unsichtbaren Qualitäten eingebettet werden. Die Offenlegung und der Zugang zu diesen Werten erlaubt es Gestaltungsteams, Kommunen, Genossenschaften und Bestandsexpert:innen, bestehende Gebäude besser einzuschätzen und zur Grundlage des Entwerfens und Erhalts zu machen.

Ein Gespräch über die Falle der Abstraktion, digitale Daten und die Bedeutung der Phase 0 für den Umgang mit dem Gebäudebestand.

Wo setzt ihr mit eurer Arbeit an, wo seht ihr orto im Kontext der Praxis von Architektur und Planung?

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Felix Matschinske: Das entscheidende Merkmal unserer Arbeit ist es, den Abstaktionsgrad zu senken, den Architektur immer mit sich trägt. Abstraktion ist ja durchaus wichtig für die Kommunikation und vorstrukturierte Arbeitsabläufe. In der Thematik um den Bestand, für den Erhalt von Bestand und die Auseinandersetzung mit dem Bestand ist sie aber ein Mangel, denn der Bestand trägt extrem viele Aussagen, die normalerweise, vor allem am Beginn eines Projekts, unberücksichtigt bleiben. Das wiegt umso schwerer, wenn man das Gebäude nicht oder nur selten besichtigen kann. Gerade wenn wir darüber sprechen, dass der Bestand besser genutzt, öfter wieder- und umgenutzt werden soll, muss ich über diesen Bestand mehr wissen, als die abstrahierten Daten liefern können. Abstraktion beunruhigt hier eher, denn sie sorgt dafür, dass die Daten nicht überall mit der Realität übereinstimmen.

Das alles spielt vor allem in der Phase 0 eine große Rolle. Wir glauben, zudem, dass die Daten, die wir sammeln, die wir aufbereiten und zugänglich machen, viel Atmosphärisches über diese Räume vermitteln können, was in einer abstrahierten Planvariante großteilig fehlt.

Alexander Werle: Ausgangslage unserer Arbeit ist die Frage, wer eigentlich über den Erhalt von Bestand entscheiden darf. Und wie man zu einer Entscheidung darüber findet, was eigentlich von dem, was wir vorfinden, erhaltenswert ist. Welchen Wert hat ein Material, unter Umständen auch im Sinne von den rezyklierbaren Werten? Wie aufwändig ist es, ungenutztes Material wieder in den Kreislauf zurückzuführen? Hier müssen wir die Menschen erreichen, die Bestandshalter:innen, die Entwickler:innen, die Eigentümer:innen. Sie brauchen Klarheit darüber, welchen Wert sie vorliegen haben und wie sie dann anschließend damit umgehen können. Diese Bewertung und Entscheidung wird nicht nur von einer Profession getroffen. Und diesen wichtigen Schritt begleiten wir mit Bestandserfassung und einfachem Zugang zu den Daten.

Wer kann, wer darf entscheiden?

Wenn ihr die Frage stellt, wer über Erhalt entscheidet, heißt das auch, dass ihr die Gruppe derer, die Entscheidungen treffen können, vergrößern wollt?

Alexander Werle: Exakt. Vom ersten Tag der Softwareentwicklung hatten wir das Ziel, eine Anschauungsqualität zu schaffen, die vor allem auch Nicht-Ingenieur:innen verständlich ist. So dass etwa auch Kommunen einen Zugang zu Liegenschaften haben und politische Akteure in einen Austausch mit Anwohner:innen kommen, der für alle Seiten nachvollziehbar ist. Wir vergessen oft, dass nicht jeder einen Grundriss lesen kann.

Aber es geht nicht nur um die Konstruktions- und Materialqualitäten, sondern auch um die Atmosphäre.

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Im Dialog können die Qualitäten und Möglichkeiten des Bestands erkundet werden. (Bild: orto)

Felix Matschinske: Wir benutzen zunächst einmal eine andere Software, um Rohdaten, die wir über andere Quellen bekommen, zu bereinigen, auseinanderzunehmen, zu registrieren und zusammenzusetzen. Unsere Software nutzen wir, um diese Daten auszuwerten, sie anschaulich und zugänglich zu machen, aber auch, um bestimmte Fehler innerhalb dieser Daten zu finden. Ein häufiger Anwendungsfall ist der Vergleich von Originalplänen und dem tatsächlichen Schnitt. Hier stoßen wir eigentlich immer auf Überraschungen. Aber der Kernaspekt der Software ist die Zugänglichkeit der sehr großen Datensätze für das alltägliche Arbeiten. Wir haben diese Software entwickelt, weil wir mit den großen Datensätzen auf unseren Rechnern oft nichts anfangen konnten. Es gab einfach keine Tools, die diese Datenmengen so zugänglich gemacht haben, dass man sie gerne mit anderen teilt oder in den eigenen Arbeitsprozess integriert.

Wir wollen sichtbar machen, wie inspirierend die Gebäude sein können. Wir können die Gebäude durchschreiten und etwas über sie erfahren, ohne vor Ort sein zu müssen, ohne all die Daten, die es gibt, interpretieren zu müssen, woran viele scheitern, weil die Übersetzung der abstrakten Darstellung in eine konkrete Anschauung von kaum jemandem zu leisten ist.

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Laser-Scan im ehemaligen Vollgutlager der Kindl-Brauerei in Berlin Neukölln. (Foto: orto)

Alexander Werle: Wir haben gelernt, wie kontraproduktiv Abstraktion in der Auseinandersetzung über Wertschöpfung ist, um einen Konsens herzustellen. Wenn es uns gelingt, diese Diskussion einfach und inklusiv zu führen, können wir die vermeintlich selbstverständlichen Planungsprozesse hinterfragen. Und das ist einfacher, wenn alle über das Gleiche sprechen. Wir wollen letztlich, dass in einer Gruppe mit verschiedenen Kompetenzen, Erfahrungen und Kenntnissen alle miteinander reden können. Das ist der größte Hebel, den wir haben, um Veränderungen in der Bauindustrie und im Bestandserhalt zu bewirken.

Könnt ihr ein Beispiel dafür geben, was das heißt?

Alexander Werle: Ein Projekt, das wir in den letzten Monaten begleitet haben, ist das alte Vollgutlager der Kindl-Brauerei in Berlin. Das sind knapp 40.000 Quadratmeter Lagerfläche. Von fünf Geschossen sind vier unterirdisch, eine Genossenschaft entwickelt das Gebäude gemeinwohlorientiert weiter. Und dem soll zunächst nicht eine Idee der zukünftigen Architektur übergestülpt werden, die dann erst einmal vermittelt: Das ist es jetzt, es soll diese Mischnutzung geben, und das wird ausgeführt.

Die Genossenschaft besteht derzeit aus fünf Vorständen. Das Ziel ist es, mit Technikplanenden, Rückbau-Unternehmen und künftigen Nutzenden eine Machbarkeitsüberprüfung zu erarbeiten und die Vision des Zukünftigen, die Vorstellungen, was verändert werden kann, was gebraucht wird, mit der Realität abzugleichen. Was haben wir eigentlich überhaupt vor uns liegen, was ist wirtschaftlich machbar? Wenn hier die richtige Balance gefunden wird, kann die Planung darauf aufbauen und sinnvoll vorangetrieben werden. Wir wollen dazu beitragen, ein gemeinsames Verständnis über die Gegenwart zu schärfen.

Unbekannte Möglichkeiten

Woher wissen die Menschen von eurem Angebot?

Alexander Werle: Häufig werden wir für digitale Bestandserfassung angefragt. Jemand benötigt einen 3D-Scan, und er bekommt einen 3D-Scan. Die Software-Lösung orto kann aber mehr, wir können zeigen, dass die erfassten Daten mehr Potenzial haben. Dass etwa Schnitte, Grundrisse, Volumenberechnungen oder Segmentierungen möglich sind oder sich Ansichten der Gebäude in einen Präsentationsmodus überführen lassen. Das Potenzial wird häufig erst sichtbar, wenn wir es vorführen. Unsere Projektpartner:innen kommen dann oft auf ganz eigene Ideen, zu welchen Zwecken sie die Daten einsetzen können, etwa als Kommunikationswerkzeug für ihr Stakeholder-Management oder virtuelle Voranalysen mit Materialexpert:innen. Im Moment sind solche Anwendungen aber selten Teil von initialen Projektanfragen, sondern entstehen in deren Folge.

Woran liegt das?

Alexander Werle: Man weiß einfach noch nicht, dass es die Option gibt. Und die Phase 0 ist noch nicht so etabliert, so in ihrem Potenzial erkannt, dass man diese Information fordert, die man braucht, um wirklich dieser Phase 0 gerecht werden zu können. Deswegen ist sie auch selten budgetiert.

Was dann wiederum bedeutet, dass der Auftraggebende schon den Anspruch haben muss, so eine Grundlagenanalyse durch diese Software als Basis für die Entwurfs- und Planungsarbeit zur Verfügung zu haben.

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Ein Schnitt durch den Bestand in der orto-Software. Von der Grundlagenarbeit aus können Nutzungsszenarien ebenso entwickelt wie Fragen nach Schadstoffen und Ökobilanz beantwortet werden. (Bild: orto)

Felix Matschinske: An diesem Punkt sind die Architekt:innen wichtig. Normalerweise bekommen sie zusätzlich Punktwolkendaten, um mit dem Bestand zu planen. Und wenn sie erkennen, was man mit diesen Daten machen kann, können sie die Auftraggebenden von unserem Angebot überzeugen, weil sie das befähigt, früh Entscheidungen zu treffen, die vor Planungsbeginn getroffen werden müssen: Erhaltbarkeit, Qualität, Machbarkeit. Meistens ging es bisher darum, zunächst die Planungsgrundlagen, die fehlten oder die überprüft werden mussten, zu generieren. orto zu nutzen ist im Moment noch das Nebenprodukt.

Alexander Werle: Uns interessiert, welche Informationen wir brauchen, um das Bestehende erhalten oder reparieren zu können. Aber diese Frage wird allgemein noch zu selten von Entwicklern gestellt. Deswegen haben wir im Moment weniger klassische Kund:innen, die wir einfach nur mit einem Produkt bedienen, sondern eher Forschungspartner, auf die wir mit einer Hypothese zugehen können. Wir erklären unsere Vision, wollen unterschiedliche Informationen zusammenführen, um für einen Erhalt argumentieren zu können. Das beinhaltet zum Beispiel auch rechtliche Rahmenwerke. Die Projektpartner lassen sich dann glücklicherweise auch oft darauf ein, einen Schritt ins Unbekannte mitzugehen. Ich würde mir wünschen, diese Arbeitsweise beizubehalten.

Meist wird versucht, mit dem CO2-Ausstoß, mit der Klimabilanz für den Erhalt eines Gebäude zu überzeugen. Ihr sagt, das reicht nicht. Was fehlt?

Felix Matschinske: Es ist ja nicht so, dass die Daten schon so vorliegen würden, dass man klar über die Klimabilanz eines Abrisses sprechen könnte. Wer weiß denn schon genau, was in einem Gründerzeitgebäude seit seiner Errichtung so gebunden ist, dass ich es im Rahmen einer Ökobilanz bewerten kann, um zum Beispiel Fördergelder oder Investitionen zu akquirieren? Wer hat denn die Information, die er braucht, um eine Schadstoffbilanz zu erstellen, um zu bewerten, was hinsichtlich der Schadstoffe zu tun wäre? Hier sind wir noch am Anfang der technischen Analyseverfahren.

Wir glauben aber daran, dass man den Schadstoffgehalt und Risiken effizienter in einer Vorbewertung auf Basis von Erfahrungswerten abschätzen kann, die digital vorqualifiziert wurden. Ich könnte so gezielter vorgehen, mit einem präzisen Auftrag und Expert:innen vor Ort. Eine so strukturierte Arbeit hilft auch, Kosten zu sparen.

Tatort Bestand

Das klingt sehr pragmatisch und technisch. Zudem habt ihr auch das emanzipatorische Anliegen der Zugänglichkeit, die alle Beteiligten integriert. Gibt es auch eine Freude am Raum, die euch bewegt?

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Im Bestand lässt sich viel entdecken. (Foto: orto)

Alexander Werle: Gestern waren wir in einem alten Plattenwohnbau aus den 1980ern, direkt an der Ostsee. Eine Bauart, die nicht immer gut wegkommt. Und ein Projekt, wo es konkret um eine Weiterentwicklung des Bestands geht. Da packt uns dann schon die Begeisterung. Wir sehen uns das Haus lange an, laufen lange gemeinsam durch die Räume, schauen uns Details an. Da fühlen wir uns wie Kommissare, die sich an einem Tatort bewegen. Uns interessieren die Dinge, die Häuser, wo die Antworten auf die Frage, wie es mit ihnen weitergeht, nicht schon auf der Hand liegen. Da geht es erst einmal um die Substanz mit seiner Geschichte, ganz eigenen Proportionen, Oberflächen, wir setzen uns sehr konkret mit der jeweils ganz eigenen Ästhetik auseinander. Da sind Potenziale, die man heben kann, wenn man das Pragmatische und die trockenen Fakten mit der Ästhetik und Idee, die diese Architektur hervorgebracht hat, zusammendenkt. Das sind Grenzgänge, die eine eigene Magie haben, die in den Zwischenräumen zwischen den Disziplinen passieren.

Würdet ihr denn auch sagen, dass ihr eine neue Disziplin in der Architektur begründet?

Felix Matschinske: So weit will ich nicht gehen. Es gibt ja Architekt:innen, die schon genau auf diese Art und Weise arbeiten. Wir haben nichts Neues erfunden, sondern vielleicht nur eine bessere Methodik, die alten Spielregeln ein bisschen aufzuweichen oder auch die Tools zu entwerfen, um Übergänge zwischen Phasen weicher und kohärenter zu machen.

Viel wichtiger ist, dass in Zusammenarbeit mit Bauingenieur:innen, mit Architekt:innen und Entwickler:innen sich das isolierte Silo-Denken beginnt, aufzulösen, dass die Arbeit ineinandergreift. Das scheint mir dann auch der Schlüssel zu einer guten Entscheidung, dass nicht mehr jede:r in der eigenen Disziplin bis zum letzten Punkt und zur finalen Übergabe denkt. Wir suchen nach einer Auseinandersetzung, die nicht hermetisch ist, wie das oft in der Architektur der Fall ist, wenn es darum geht, das Hoheitswissen der Architektur, das eigene Werk zu schützen. In gewisser Weise ist das auch nachvollziehbar, denn der Input von außen macht einfach mehr Arbeit, die nicht vergütet wird. Ich habe keine Idee, wie das gelöst werden kann. Ich verstehe die Sorgen, dass ein Prozess aufgebläht wird, in dem man weiteren Stimmen erlaubt, mitzureden. Wir glauben dennoch, dass wir die Prozesse neu denken müssen. Und dafür bieten wir ein Puzzlestück.

Alexander Werle: Wir versuchen, Eingriffe wirtschaftlich und gestalterisch belastbar zu machen. Zum einen wollen wir die Zugänglichkeit zu den Orten, zu den Qualitäten, verbessern. Das ist digital möglich. Natürlich auch nur eingeschränkt. Denn es ist auch wichtig, vor Ort zu sein, sich mit Menschen zu unterhalten, die dort leben und ihre eigene Vergangenheit haben, die mit den Häusern verwoben ist. Letztlich wollen wir es befördern, dass man sich viel stärker mit Orten auseinandersetzt, über die man Entscheidungen fällt. Unser Beitrag besteht darin dass man schon früh die Chance erhält, die Komplexität eines Ortes zu erkennen und auf sie einzugehen.



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Alex Werle (links) und Felix Matschinske. (Foto: Gesine Born)

Alexander Werle ist Industriedesigner und Strategieberater. Er war lange im Nachhaltigkeitsmanagement tätig.

Felix Matschinske ist Architekt und Unternehmensgründer. Er führt die Digitalagentur LUCID.

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Das Interview haben Lena Engelfried, Hanna Noller und Christian Holl am 18. April 2024 geführt.