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Vom obsoleten System zum Rohstoff der zirkulären Stadt

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Veralten Nutzungen, werden Räume für neue Entwicklungen frei, wie in der Vergangenheit in vielen Häfen europäischer Städte. Im Bild der Medienhafen Düsseldorf. (Bild: Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0, Martin Kraft)

In den europäischen Städten sind immer wieder Gebäude auf Grund gesellschaftlicher Veränderungen aus der Nutzung gefallen. Die Treiber für diese urbanen Obsoleszenzen wurden aber nie systematisch untersucht. Heute stehen eine Vielzahl von Typen durch die Megatrends Digitalisierung, Verkehrswende und Wandel der Religiosität unter Nutzungsdruck. Anhand von georeferenzierten Daten lassen sich diese Obsoleszenzen in ihrer Größe und Lage in der Stadt bestimmen – dort, wo sie sich häufen, befinden sich die urbanen Transformationsräume einer zirkulären Zukunft.

Erst mit Aufkommen des modernen Denkmalschutzes, insbesondere in Folge des European Architectural Heritage Year (EAHY) von 1975 wurde das unablässige Schleifen der Geschichte eingestellt. Allerdings nur partiell, bezogen auf die Zeit vor 1914, die seither als vermeintlich historisches Stadtbild zementiert ist, während die Moderne trotz ICOMOS und Privatinitiativen weiterhin zur Disposition steht. Nun aber werden immer häufiger Gebäude umgebaut, die man noch vor Kurzem nicht für erhaltenswert gehalten hätte. Das bedeutet dreierlei: Offenbar fallen immer mehr Profangebäude der Moderne und Postmoderne aus der Nutzung – und weil die Boden-, Material- und Energiepreise stetig steigen, ist ein neues Marktsegment im Entstehen. Zum Zweiten gewinnt dadurch das Profane gegenüber dem vermeintlich Historischen an Wert. Und, es ist zum Dritten eine Revolution unter dem Diktum der grauen Energie, die mit der Vorstellung der zirkulären Ökonomie einhergeht. Während letzteres für das architektonische Objekt bereits hinlänglich diskutiert wird, liegt eine Theorie der Obsoleszenz und Wiederverwertung auf Ebene des Quartiers oder gar der gesamten Stadt bislang nicht vor. Eine Vorausschau auf das Recycling von Flächen und Häusern – also eine Strategie der zirkulären Stadt – wird aber in Anbetracht des Klimawandels zunehmend essenziell. Auf welchen Regeln beruht das Phänomen der Obsoleszenz in Architektur und Stadt, gibt es systemische Zusammenhänge und was bedeutet das für die aktuelle Situation?


Wallanlagen – ein historisches Narrativ obsoleter Systeme


Stadtgesellschaften produzieren in jeder Epoche eigene soziotechnische Systeme der Ver- und Entsorgung, des Transports, der Industrie oder der militärischen Abwehr. Wenn sich deren Bedingungen grundlegend ändern, werden sie obsolet. Es bleibt die bauliche Struktur selbst, in der enorme Energie und politischer wie ökonomischer Durchsetzungswille manifest ist, der wohl auf keine andere Weise und in keiner anderen Zeit wiederholbar ist – und im besten Fall Ausgangspunkt für eine soziale Innovation sein kann.

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Anton Radl, Bremer Wallanlagen, 1820. (Bild: gemeinfrei; Quelle: Wikimedia)

Eindrücklich lässt sich dies an großen Umbrüchen der Stadtentwicklung beschreiben, wie beispielsweise dem Umgang der Städte mit ihren historischen Befestigungsanlagen. Einst zum Schutz der Bevölkerung als massive bauliche Strukturen angelegt, konnten diese im Zuge der Urbanisierung und der Erfindung neuer Militärtechniken ihren ursprünglichen Zweck nicht mehr erfüllen. Die obsolet gewordenen Anlagen setzten enorme Flächenpotenziale frei. In Städten wie Frankfurt, Bremen, Hamburg oder auch Krakau wurden die transformierten Wallanlagen zu öffentlichen Grünräumen, die bis heute der städtischen Bevölkerung und damit dem Gemeinwohl dienen. In Wien nutzte man die Gunst der Stunde zusätzlich für die Anlage monumentaler Bauten der politischen und kulturellen Repräsentation, die das kollektive Bild der Stadt bis heute prägen. Paris hat dieses kurze Zeitfenster für eine grüne Transformation verpasst, nutzte den systemischen Raum später aber für den Bau des Boulevard Périphérique. Eine Transformation, die jetzt korrigiert werden soll. Bis zum Jahr 2030 ist geplant, die überlastete Ringautobahn in eine stadtverträgliche Anlage mit viel Grün zu überführen.


Globalisierung als prägender Treiber urbaner Obsoleszenz der letzten Dekaden


In den letzten Jahrzehnten hatten andere Obsoleszenzen für die Entwicklung der Städte große Bedeutung. Für die seit der Einführung der Container 1956 stetig wachsenden Containerschiffe waren etwa viele Hafenanlagen in den europäischen Städten nicht mehr geeignet. Sie wurden entweder ganz aufgegeben oder verlagert. Weitere Beispiele sind die Auflassung von Kasernen nach dem Fall der Mauer, alte Industrieareale aus der Gründerzeit, die im Zuge der Globalisierung aus der Nutzung gefallen sind, oder zentral gelegene Güterbahnhöfe, die durch Güterverkehrszentren in Stadtrandlage ersetzt wurden. Weitere vormals städtische Funktionen wie Schlachthöfe, Brauereien oder Großmarkthallen wurden ebenfalls an sogenannte Punkte höchster Erreichbarkeit ausgelagert, weil auch sie in internationale oder zumindest überregionale Produktions- und Lieferketten eingebunden sind. In der Summe handelte es sich um enorme und zudem wertvolle Flächen für die Innenentwicklung von Städten. Denn sie waren zentral gelegen, gut erschlossen und verhältnismäßig einfach umzugestalten, da das Grundeigentum bei der öffentlichen Hand oder bei Alleineigentümer*innen der Industrie lag. Auf diesen Raumressourcen konnten attraktive Quartiere wie die Hamburger HafenCity, die Bremer Überseestadt, der Ackermannbogen in München oder Kreativviertel wie die Leipziger Baumwollspinnerei entwickelt werden. Diese Flächen wurden auch dringend benötigt, denn seit den 1990er-Jahren wachsen die meisten Großstädte sowie kleinere Universitätsstädte (Schwarmstädte), rapide, und die Diskussion über Wohnungsmangel und steigende Mieten reißt nicht ab. Hier wirkt im Hintergrund ein Megatrend: Wissenskultur und Wissensgesellschaft treiben einen Strukturwandel auf dem Arbeitsmarkt an. Gerade in den Groß- und Universitätsstädten konzentrieren sich Kreativwirtschaft sowie bedeutende Zentren von Forschung und Entwicklung mit attraktiven, gut bezahlten Jobs.

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Raumwirksamkeit von Megatrends auf städtische Typologien. (Grafik: Rettich, Tastel 2022)

Megatrends und die Transformationsfelder von morgen

Grundlegende gesellschaftliche Entwicklungen, sogenannte Megatrends, wirken sich also mittelbar auf die Nutzung des Raums aus, sind Auslöser für Flächenverknappung, aber auch für Leerstände mit dem Potenzial neuer Nutzungen. Kann man die Erfahrungen aus der Vergangenheit nutzen, um herauszufinden, welche Flächen der Stadt in Zukunft obsolet werden und welche Gebäudetypen davon betroffen sein werden? Dazu müssen aktuelle Megatrends auf ihre Raumwirksamkeit untersucht werden.

Während der Logdowns der Corona-Pandemie zeigte sich beispielsweise wie unter dem Brennglas, wie stark sich die Digitalisierung auf fast alle Lebensbereiche und damit auch auf den Wandel von Arbeit und Handel auswirkt. Covid-19 wirkte hier nur als Katalysator, nicht als Auslöser. Der stationäre Einzelhandel steht schon länger unter dem Druck der Plattformökonomien von Amazon und Co. Im kulturellen Bereich setzen Streaming-Dienste den Kinos ebenfalls seit geraumer Zeit zu, und im Büro- und Dienstleistungssegment sind es professionelle Video-Clients, wie etwa zoom, die den klassischen Büroturm infrage stellen. Auch im produktiven Sektor kommt es zu Neuordnungen durch Digitalisierungsprozesse. Der wachsende Einsatz von IT und Robotik führt hier zu Flächenüberschuss. Für die sogenannte Industrie 4.0 werden weniger Facharbeiter*innen benötigt, dafür mehr Informatiker*innen. Eingeschossige Fabrikhallen könnten in Teilen Softwareschmieden weichen, die sich vertikal organisieren lassen – Flächen werden dann für andere Nutzungen frei. Der Einfluss auf den Arbeitsmarkt und damit auf die Flächenbedarfe ist aber branchenabhängig und variiert selbst dort in verschiedenen Fertigungssegmenten erheblich.


Das Arsenal der autogerechten Stadt


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Ebenerdige Parkplatzflächen in Hamburg (Grafik: Rettich, Tastel 2022)

Neben der Digitalisierung sind es perspektivisch der Klimawandel sowie die mit ihm verbundene Energie- und Verkehrswende, die sich als Megatrends auf städtische Funktionen und damit auf die Raumentwicklung auswirken werden. Vor allem beim ruhenden Verkehr könnten Flächen – Parkplätze – eingespart werden. Die Frage ist nur, wann und ob es dafür weiterer disruptiver Ereignisse bedarf wie etwa der Diesel-Gate-Affäre, bis politisches Handeln umfassend einsetzt. Die Flächengewinne wären immens – in einer Stadt wie Hamburg entfallen derzeit über 700 Hektar Grundfläche allein auf ebenerdige Parkplätze. Berechnungen des Umweltbundesamtes zeigen, dass ein Carsharing-Auto je nach örtlichen Verhältnissen vier bis teilweise mehr als zehn private Fahrzeuge ersetzt. Angenommen, der komplette Autoverkehr würde auf Sharing-Dienste verlagert, könnten im Idealfall über 90 Prozent der Stellplätze eingespart werden. Der tatsächliche Wert wird sich in der täglichen Mobilitätspraxis irgendwo zwischen diesem und dem heutigen einpendeln. Noch sind Projekte wie der Gröninger Hof – der Umbau eines Parkhauses in einen genossenschaftlichen Wohnungsbau in der Hamburger Innenstadt – oder der Rückbau des Parkhaus Büchel in Aachen zu Gunsten eines innerstädtischen Parks, Einzelfälle. Aber dass deutschlandweit etwa 600 Autohäuser pro Jahr in die Insolvenz gehen, ist ein weiteres Indiz dafür, dass das ganze Arsenal der autogerechten Stadt auf dem Prüfstand steht.


Wandel der Religiosität


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Kirchen, Gemeindehäuser und Friedhöfe in Hamburg. (Grafik: Rettich, Tastel 2022)

Besonders dramatisch ist die Entwicklung bei den kirchlichen Einrichtungen. Prognosen besagen, dass die Mitgliederzahlen in beiden Kirchen bis 2060 um annähernd 50% zurückgehen. In allen Kirchenkreisen und Diözesen wird händeringend nach Strategien zur Umnutzung kirchlicher Immobilen gesucht. Diese besonderen Versammlungsorte haben eine hohe gesellschaftliche Bedeutung, die Thematik ist entsprechend diffizil. Neben den Kirchen selbst betrifft dies auch die zugehörigen Pfarr- und Gemeindehäuser. Diese sensiblen Immobilien liegen in der Regel sehr zentral in den Nachbarschaften und sind im kollektiven Bewusstsein der Anwohner:innen gut verankert. Sie könnten also auch gut für andere soziokulturelle oder andere bedeutende Nutzungen im Quartier Verwendung finden. Mittlerweile finden sich eine Reihe exzellenter Beispiele für die Umwandlung von Kirchen, die von der KiTa in der ehemaligen Pfarrkirche St. Sebastian in Münster über die Kunstgalerie König in der brutalistischen Kirche St. Agnes in Berlin bis hin zu einer Buchhandlung in der früheren Dominikanerkirche in Maastricht reichen. Das zweite Phänomen in diesem Bereich, ist ein Wandel in der Bestattungskultur. Mehr als ein Drittel der Friedhofsflächen in Deutschland sind Überhangflächen. Sie werden nicht aktiv genutzt, müssen aber teuer unterhalten werden. Der Grund liegt hier im Wandel von der Sarg- zur Urnenbestattung, die nur etwa ein Viertel der Fläche benötigt. Große Teile der Friedhöfe könnten daher nach einer Pietätsfrist in Freizeit- und Erholungsflächen umgewandelt werden.

Bei allen genannten Beispielen ist die Lage entscheidend, denn das Obsoleszenz-Risiko einer städtischen Funktion ist nicht an jeder Stelle gegeben oder gleich hoch. Jene Ressourcen aber vorausschauend zu identifizieren und systematisch zu erschließen, scheint aufgrund der akuten Flächenknappheit in den Städten zu einer wesentlichen Aufgabe der Stadtentwicklung zu werden.

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Matrix obsoleter Typen. (Grafik: Rettich, Tastel 2022)

Zirkuläre Stadt – Möglichkeiten und Notwendigkeiten


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Abb. 06: Potenzialräume mit Häufungen obsoleter Typen in Hamburg. (Grafik: Rettich, Tastel 2022)

Digitalisierung, Klimawandel, Verkehrswende und Wandel der Religiosität sind demnach die Treiber, die mit teils disruptiven Effekten Obsoleszenzen in städtischen Funktionen und präzise definierbaren Gebäudetypen hervorrufen. Betroffen sind Objekte und Flächen in den Kategorien Handel, Arbeit, Mobilität, Kultur und Religion. (Abb. 05) Wo aber befinden sich diese konkret in den Städten und in welchem Ausmaß werden die einzelnen Gebäude- und Flächentypen betroffen sein? Hier bedarf es einer Annäherung auf mehreren Ebenen. Die Grundlage bilden differenzierte georeferenzierte Datensätze, über die mittlerweile die meisten Städte verfügen. Mit ihnen ist es möglich, die Objekte in ihrer Lage abzubilden und deren Größe zu ermitteln. Für Hamburg, Hannover und mittlerweile auch für Mannheim wurden diese Daten für alle potenziell obsoleten Typen kartiert, überlagert und Fremdstudien zur empirischen Entwicklung einzelner Segmente ausgewertet. Die Gebiete, in denen sie sich häufen, sind denn auch die Transformationsfelder von morgen. Dort sollte die öffentliche Hand proaktiv in Kommunikation, Planung und in den Ankauf von Grundstücken investieren, bevor Preise und Nutzungen vom Markt diktiert werden. In Hamburg konnten nach dieser Methode 24 Potenzialräume identifiziert werden. (Abb. oben)

 

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Bedarfsmatrix – Neue städtische Funktionen und Transformationsbegabungen obsoleter Typen. (Grafik: Rettich, Tastel 2022)

Wesentlich ist zudem die Auseinandersetzung mit den Nutzungen, die perspektivisch in die Städte integriert werden müssen – diese mit den Begabungen obsoleter Typen abzugleichen ist ein Schlüssel für die Strategie der zirkulären Stadt. (Abb. 07) Damit diese effizient umgesetzt werden kann, bedarf es allerdings auch einer Flexibilisierung des Planungsrechts. Das heißt, neue Nutzungen müssen schon einziehen dürfen, wenn die alte Nutzung noch (teilweise) am Werk ist. Auf dem viel gelobten Leipziger Spinnereigelände wurden Ateliers und Wohnungen schon realisiert, als in manchen Fabrikhallen noch Reifen-Cord produziert wurde – allerdings als illegale Schwarzbauten.

Der Text basiert auf Erkenntnissen des Forschungsprojekts „Obsolete Stadt“, das von der Robert-Bosch-Stiftung gefördert wird (www.obsolete-stadt.net) sowie einem Text von Stefan Rettich, der 2021 in dem Buch „Stadt nach Corona“ von Doris Kleilein und Friederike Meyer (Hg.) erschienen ist. Dieser Quelltext ist zudem in einer längeren Fassung in der archithese 02/2022 (mit N. Beucker) sowie in einer kürzeren Fassung in der Bauwelt 7/2023 erschienen.