• Über Marlowes
  • Kontakt

The Kids Are All Right


2228_AT_SDE_KAVisual

Team RoofKIT, Karlsruhe Institute of Technology, Visualisierung der Anwendung an einem der drei vorgegeben Standorte. (Bild: ©Solar Decathlon Europe, SDE)

Vom 10. bis 29. Juni zeigten 18 Hochschulteams aus elf Ländern beim Solar Decathlon Europe ihre Visionen für Architektur in der Klimakrise. Die Ergebnisse waren vielfältig, mitunter formalästhetisch ebenso wie architektonisch aufschlussreich. Vor allem aber zeigten sie, wie weit Architektur heute schon sein könnte.

Die Ausstellungsfläche des Solar Decathlon Europe in Wuppertal, am gefühlten Stadtrand zwischen Autobahn und Mirker-Bahnhof eingeklemmt, präsentiert sich zunächst enttäuschend. Dabei gäbe der Ort viel her. Utopia-Stadt, Mirker-Bahnhof, alte Glaserei: Hier wird seit einiger Zeit recht erfolgreich praktiziert, wie Stadt und unser Zusammenleben in unterschiedlichen Akteurskonstellationen neu verhandelt und gestaltet werden kann. Die Veranstaltenden haben wenig getan, um diesen Geist für den Hochschul-Wettbewerb vor Ort urbar zu machen. Schotter und Rindenmulch haben sie auf der Fläche verteilt, ein paar lustlos verteilte Catering-Wagen sorgen für ein Mindestmaß an Verpflegung, das jedoch von jeder Dorfkirmes überboten wird. Von jugendlichem Engagement, hippem studentischen Ambiente, Foodtrucks und Lampionketten ist das alles meilenweit entfernt.

default

Siegreich im Wettbewerb: Team RoofKIT, Karlsruhe Institute of Technology auf dem Wettbewerbsgelände. (Bild: ©SDE 2022)

Typos und Topos

Schon kurz hinter dem Zaun, der das Gelände einhegt, ist der Geist des Ortes aber spürbar. Der Biergarten im ehemaligen Bahnhof Mirke platzt aus allen Nähten, die Frittenbude an der nächsten Straßenecke hat verschiedene Biere eiskalt vorrätig und bietet neben dem „Frikadellen-Burger“ auch vegetarische Alternativen. Drei Orte aus diesem direkten Umfeld der Ausstellung im Wuppertaler Stadtteil Mirke dienten den Studierenden als Planungsgrundlage: Hier galt es den Gebäudebestand zu erweitern und fortzuschreiben. Damit wendet sich der Solar Decathlon von Typus Einfamilienhaus ab, hin zum klimaschonenden und damit zukunftsträchtigeren Thema der urbanen Nachverdichtung im Allgemeinen, im Speziellen dem Fortschreiben des vorhandenen Gebäudebestands in die Höhe. Das ist wichtig zu wissen, erklärt es sich anhand der in der Ausstellung gezeigten Prototypen doch nur wenig bis kaum. Dort stehen die Beiträge der Hochschulen dann doch wie freistehende Einfamilienhäuser auf der ihnen vorgeschriebenen Grundfläche von zehn mal zehn Metern. Einige Teams zeigen in oder vor ihren Entwürfen immerhin Modelle und Pläne, um den eigentlichen Bau zu verorten und im jeweiligen Bestand zu kontextualisieren.


Materialien und Fügungen


default

Team Scheden, Chalmers University of Technology. (Bild: © SDE 2022)

Mit Blick auf die Bauaufgabe ist es dann gleich doppelt einleuchtend, dass Holz das vorherrschende Baumaterial ist. Als CO2-bindendes Material trägt es nicht nur zu einer Kohlenstoffsenke bei, sondern lässt sich eben auch relativ einfach auf und um bestehende Häuser fügen. Bei allen Teams spielt es die entscheidende konstruktive Rolle – bis hin zum leider unvollendet gebliebenen Beitrag des schwedischen Teams der Chalmers University of Technologie, das einen 3D-Drucker mit Zellulose füttern und so Teile des Hauses errichten wollte. Geldmangel führte schließlich dazu, dass statt eines fertigen Prototyps eine Art Reallabor studentischer Arbeits- und Produktionsgemeinschaft entstand, in dem die schwedischen Studierenden gemeinsam mit allen anderen langsam, aber sicher im Laufe der Ausstellung an ihrem Projekt weiterarbeiteten.

Auch auffällig: Lehm spielt die zweite entscheidende Rolle. Auch er taucht fast überall auf, seine für das Raumklima hervorragenden Eigenschaften sind erkannt und setzen sich wenigstens hier durch. Die Teams aus Karlsruhe und Eindhoven setzen außerdem dezidiert auf rezyklierte Materialien. Wer die Arbeiten von Dirk E. Hebel am Forschungshaus im schweizerischen Dübendorf und seinem Lehrstuhl kennt, wird mit Blick auf das von ihm betreute Projekt aus Karlsruhe wenig überrascht sein, spannend ist es dennoch, die aus vermeintlichem Abfall hergestellten Oberflächenmaterialien und aus der urbanen Mine gewonnenen Hölzer, Türen und Fenster hier erneut räumlich gefügt zu sehen. Überhaupt die Fügungen: Dass jedes Gebäude ein künftiger Altbau ist, bei dem es irgendwann womöglich um die Nach- und Weiternutzung seiner Materialien gehen wird, haben viele Teams verinnerlicht. Leimfrei wird gefügt, geschraubt oder in tradierten Handwerkstechniken verbunden. So sind die einzelnen Komponenten künftig sortenrein demontierbar und an anderer Stelle ohne wesentliche Qualitätsverluste wiederverwertbar.


How we will live together


default

Team MIMO, Hochschule Düsseldorf. (© SDE 2022)

default

Team MIMO, Hochschule Düsseldorf. (© SDE 2022)

Was aber heißt all das räumlich und damit architektonisch? Vor dem Erfahrungshintergrund der Teilnehmenden lassen sich viele der studentischen Entwürfe nachvollziehen. Immer wieder zeigen unterschiedliche Hochschulteams Mikro-Appartements, die auf verschiedene Arten räumlich zusammengeschaltet werden. Am überzeugendsten gelingt es vielleicht dem Beitrag MIMO der Hochschule Düsseldorf. Die Studierenden entwickelten eine Klimahülle, die auch bei drückender Hitze über 36 Grad Celcius, die am Besuchstag im Schatten herrschten, erstaunlich gut funktionierte: An Tagen wie diesem merklich wärmer als die unter aktuellen Standardvorstellung verstandenen Behaglichkeitsideale, im Winter vielleicht nur 16 Grad und damit kühler, in beiden Fällen aber immer noch sehr gut auszuhalten und in der sommerlichen Hitze von einem angenehmen Luftzug durchweht. Weder aktive Kühlung noch aktive Heizung sind für diesen großen Raum notwendig, der der Gemeinschaft des Hauses gewidmet ist. Gemeinschaftsküchen gibt es hier, Tische, an denen sich kleine und größere Gruppen treffen können, an denen Besuch empfangen oder alleine gearbeitet werden kann. All das über zwei Ebenen räumlich akkurat verschränkt und mit adäquaten Schwellen versehen. Der Vorwurf, dass Studierende immer wieder solch vermeintlich naive Ideen des Zusammenlebens entwickeln, erscheint wohlfeil. Studierende sind offenkundig bereit zur räumlichen und materiellen Reduktion. Wo also, wenn nicht in einem solchen Umfeld, sollten diese Formen des Zusammenlebens erprobt werden, die es ermöglichen, sowohl dem Flächenfraß zu begegnen als auch notwendige infrastrukturelle Einrichtungen – vom Internetkabelstrang über die Waschmaschine bis zum Kühlschrank – zu teilen und damit deren Gesamtzahl zu reduzieren?

DC Außenansicht Straßenansicht

Team MIMO, Hochschule Düsseldorf, Visualisierung der Übertragung auf den städtichen Kontext (© SDE 2022)

Das Düsseldorfer Team denkt den eigenen Entwurf dabei erstaunlich weitreichend vom Stadtraum, wo auf dem Wuppertaler Grundstück eine Art Allmendegarten mit kleinem Forum und Gemeinschaftsgärten angedacht wird, bis zum Individualraum, der über die in der Klimahülle etablierten halböffentlichen Flächen und einen halbprivaten Raum innerhalb der eigentlichen und mit Korkplatten gedämmten Kleinstwohnung, feinfühlig angebunden wird. Materialwahl und Fügungspunkte sind hier ebenso reif, wie die architektonische Raumfolge.


Setzkasten der Ideen


default

Team coLLab, Hochschule für Technik, Stuttgart. (Bild: © SDE 2022)

2228_AT_SDE_SVVisual

Team coLLab, Hochschule für Technik, Stuttgart. Visualisierung der Übertragung auf den städtichen Kontext. (Bild: © SDE 2022)

Und so scheint diese vermeintliche Musterhausausstellung wie ein Setzkasten von architektonischen Ideen für die Klimakrise – man durfte sich nur nicht von der brennenden Sonne blenden oder den irrwitzigen, aber wohl normaler werdenden Temperaturen ablenken lassen. Dächer werden hier mit Solarpanelen und Photovoltiakanlagen gleichermaßen zu Warmwasserbereitern und Kraftwerken wie zu Anbaugebieten für Nutzpflanzen der Hausbewohner:innen. Fassaden dienen als Nistgelegenheiten für Vögel und Fledermäuse oder werden mittels weiterer Photovoltaikelemente zu Energielieferanten. Der poetischste Umgang mit diesem Thema findet sich vielleicht beim Team aus Stuttgart. Hier dient die tragende Holzstruktur, die dem Bestand wie ein Regal übergestülpt wird, auch als Rankgitter für im Boden wurzelnde Pflanzen und dünne, lichtdurchlässige Photovoltaik-Elemente. Das ist räumlich spannend, energetisch und mit Blick auf Biodiversität sinnfällig und geht doch viel weiter als jene naiven Fassadenbegrünungen, die mit Projekten wie dem Bosco Verticale in Mailand oder jüngst der Calwer Passage in Stuttgart als „grüne Vorzeigeprojekte“ gelten und die sich auch hier in Wuppertal finden.

default

Team levelup, Technische Hochschule Rosenheim. (Bild © SDE 2022)

default

Team AuRA, Ecole Nationale Supérieure d’Architecture de Grenoble. (Bild: © SDE2022)

An anderer Stelle laden feingestaltete Apps und Bildschirme Bewohner:innen zu „Challenges“ ein, um den eigenen Energiebedarf zu untersuchen und gegebenenfalls zu reduzieren. Lässig gestaltete Außenräume und Dachterrassen – wie bei den Beiträgen aus Grenoble oder Rosenheim – zeigen, dass allenthalben über eine tatsächlich räumliche und nicht bloß konstruktive Anbindung von Alt und Neu nachgedacht wird.

Nicht zuletzt ist es beeindruckend zu sehen, wie diese jungen Menschen miteinander umgehen.

Bei den Verleihungen der insgesamt zehn Preise dieses architektonischen Zehnkampfs und den verschiedenen Sonderpreisen der Industrie werden die anderen Teams enthusiastisch bejubelt, der verhinderte schwedische Beitrag wird von anwesenden Studierenden mit einem Sonderpreis ausgezeichnet, die Studierenden feiern miteinander, tauschen sich inhaltlich aus, zeigen sich tatsächlich interessiert an den Ideen den anderen. Wenn sich dieses Miteinander und ein bunter Reigen der hier präsentierten Ideen möglichst kurzfristig in die architektonische Praxis übertragen ließen, wäre es um die Disziplin nicht so schlecht bestellt, wie es mit Blick auf unsere gebaute Umwelt in Stadt und Land derzeit den Anschein macht.

 


Homepage des Solar Decathlon >>>

Überblick über die Teams >>>