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Bild: Christian Holl

Fragen zur Architektur (24): Grenzen sind normal. Jede Geschichte, jede Entwicklung könnte man über Grenzen beschreiben: Wer sie zieht, was durch sie voneinander getrennt wird, wer ausgeschlossen wird, wie sie verschoben werden. Grenzen bestimmen Regeln des Zusammenlebens. Es gilt deswegen genau hinzuschauen, wenn eine Grenze verrückt wird. Symptomatisch: ein aktueller Fall aus Kassel.


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Bild: Christian Holl

Auch Architektur ließe sich als das Setzen von Grenzen verstehen: zwischen innen und außen, oben und unten, zwischen Rechtsräumen, Eigentumsverhältnissen, zwischen privat und öffentlich. Soweit so banal. Aber gerade Architektur macht deutlich, dass es bei Grenzen nie nur darum geht, etwas dauerhaft und endgültig voneinander zu trennen. Wer hat wozu und unter welchen Bedingungen Zutritt? Wer wird von wem gesehen? Erst aus den Antworten bestimmt sich die spezifische Qualität des Hauses.

Welche Macht ausgeübt wird, welche Regeln, welches Gesetz gilt, wer dazu gehört, wer ausgeschlossen wird: Inklusion und Segregation werden darüber bestimmt, wer Grenzen zieht und wer sie übertreten darf. Deswegen gehört zur Architektur immer auch die Inszenierung der Grenze als Medium – die repräsentative Fassade ebenso wie das farbige Kirchenfenster, die Gestaltung der Schwelle und des Eingangs, die Höhe des Gebäudes ebenso wie die Tiefendimension der Grenze: Die Sicherheitszone um das Gebäude herum ist Ausdruck von Macht ebenso wie von der Unruhe, etwas könnte einem genommen werden, Ausdruck der Angst, der Respekt vor dem Eigentum könnte missachtet werden. Grenzen haben neben ihrem unmittelbaren und konkreten Wirkungsraum auch einen symbolischen, der in den anderen Raum hineinstrahlt, ihn bestimmt oder zumindest bestimmen soll.


Grenzen sind Räume


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Bild: Christian Holl

Grenzen sind also keine Linien, sondern Zonen. Grenzen überlagern und überlappen sich, sie bilden im weitesten Sinne Bereiche des Austauschs: von Dingen, Gütern, Menschen, Informationen. Sie sind Bereiche des Übergangs, der Verarbeitung, der Wandlung, des Wechsels. Oberflächen sind Grenzflächen, die in die Tiefe verweisen. Die Bedingungen des Austauschs können geändert werden. Die Regeln für Grenzübertritte sind ebensowenig absolut und unveränderlich wie die Gesetze, die die diesseits und jenseits der Grenze gelten. Sie sind verhandelbar. Und darum bedarf es eines Aushandlungsraums – im besten Fall eines neutralen Raums, an dem keiner der Verhandlungspartner qua Hausrecht dominieren kann.

Damit die Aushandlung aber erfolgreich sein kann, müssen Regeln gelten, die von den Verhandlungspartnern anerkannt werden. Und damit sind wir beim Thema des öffentlichen Raums – er ist der Aushandlungsraum schlechthin, weil nicht von vorneherein einschränkt ist, was hier verhandelt wird, und weil die Regeln die in ihm gelten, ebenfalls nicht unhintergehbar sind. Er ist deswegen immer auch ein umkämpfter Raum. Zuletzt haben ökonomische Interessen eine Dominanz bekommen, die ihn in seiner Funktion beeinträchtigt. Wo darf man sich hinsetzen, ohne zu konsumieren? Welche Räume sind für Jugendliche und deren Bedürfnisse vorgesehen? Welche Räume haben keine festgelegte Funktion? Welche Bevölkerungsschicht wird mit den repräsentativen Räumen der Stadt angesprochen und welche nicht? Können wir uns Urbanität noch ohne Konsum vorstellen, als einen Raum, der nicht von genauen Vorstellungen geprägt ist, wie man leben soll, welche Kleidung man zu tragen hat? (1) Ist der öffentliche Raum noch ein Raum, der die das Recht auf gesellschaftliche Teilhabe artikuliert? Man darf Zweifel haben. Musealisierungen, die die tatsächlichen funktionalen und sozialen Verflechtungen ignorieren, wie es die Frankfurter Altstadt tut, zeigen dann eher eine Verfallsform der Diversität der Stadt, wie es Walter Siebel genannt hat. (2) Das sollte uns beunruhigen, wenn uns bestimmte Werte als auch im öffentlichen Raum als unhintergehbare wichtig sind: Menschenwürde, Respekt, Diversität, Freiheit.

Der öffentliche Raum ist aber nur dann in seiner Dimension erfasst, wenn nicht nur der konkrete Raum in den Blick genommen wird, sondern auch als der Raum verstanden wird, in dem sich mediale Präsenz und physischer Raum überlagern. Erst wenn beides zusammengedacht wird, versteht man, warum die Verschiebung der Grenze dessen, was gesagt werden darf, nicht harmlos für den konkreten öffentlichen Raum ist. Das macht ein Blick auf zwei Ereignisse der letzen Wochen in Kassel und in Berlin deutlich. Die Rede ist von den Diskussionen um das Projekt Dau des russischen Filmemachers Ilya Khrzhanovsky (Berlin) und das „Fremdlinge und Flüchtlinge Monument“ von Olu Oguibe (Kassel).

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Zur Erinnerung an die Geschichte ist ein kleiner Teil des Zauns zum ehemaligen Freihafen in Hamburg Wilhelmsburg stehen geblieben. (Bild: Christian Holl)

Kunst ist ein Medium der Verständigung über die Regeln, die zur Diskussion stehen oder verschoben werden, ohne dass sie konsequent diskutiert wurden. Außerhalb des Schutzraums des Museums, der Zugang über Bildung regelt und in dem die Idee von der Autonomie der Kunst manifest ist, ist sie im öffentlichen Raum immer auch ein Thema der Auseinandersetzung jenseits Bildungsbürgertums und Autonomie-Status‘. Der Umgang mit ihr ist deswegen ein Seismograph für ein gesellschaftliches Selbstverständnis – die Provokation deswegen legitimes Mittel, um zu einem Bekenntnis dessen zu zwingen, was dieses gesellschaftliche Selbstverständnis ausmacht: Wie hältst du‘s mit Menschenwürde, Respekt, Freiheit?
In Berlin wurde dem Kunstprojekt „Dau“ des russischen Filmemachers Ilya Khrzhanovsky die Genehmigung verweigert – das Projekt sah vor, eine temporäre Mauer um ein Areal zwischen Unter den Linden und Oberwallstraße zu errichten. (3) Abgelehnt aus Sicherheitsgründen, zudem sei der Vorlauf nicht lang genug gewesen, was von der Seite der Veranstalter (wenig überraschend) anders gesehen wird. Bis zum 9. November hätte diese Mauer stehen sollen.


Ausgebliebenes Bekenntnis


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Stand bis zum 3. Oktober auf dem Königsplatz in Kassel: das „Fremdlinge und Flüchtlinge Monument“ von Olu Oguibe. Bild: Rabax63, CC BY-SA 4.0 (Quelle: >>>)

In Kassel hat man gerade nochmal die Kurve gekriegt – scheinbar. Der Obelisk von Olu Oguibe, der nach der documenta auf dem Königsplatz zunächst stehen geblieben war, war in einer überraschenden Aktion ausgerechnet am 3. Oktober abgebaut worden. Nun wird er „schnellstmöglich“, wie es heißt, an einem anderen Standort wieder aufgebaut. Vorerst ist der Obelisk weg. Das Kunstwerk trägt eingraviert ein biblisches Zitat: „Ich war ein Fremdling und ihr habt mich aufgenommen.“ Man muss nicht lange überlegen, wem das ein Dorn im Auge sein könnte. Die vielen Unstimmigkeiten hatten Unmut und Spekulationen hervorgerufen – es war angekündigt worden, dass die Spenden zurückgezahlt werden können, monatelange Verhandlungen über den Standort zwischen Stadt und Künstler hatten kein Ergebnis gebracht. Dabei hatte der Künstler einen Kompromissvorschlag unterbreitet – an seiner Sturheit kann es nicht gelegen haben. Die Entscheidung für den neuen Standort an der Treppenstraße ist dann auch erst gefallen, nachdem mit dem Abbau des Obelisken vollendete Tatsachen geschaffen wurden. Und nachdem wenige Tage der Eindruck entstanden war, dass der Obelisk überhaupt nicht mehr aufgebaut werden soll. Die AfD hatte – wie kaum anders zu erwarten – auf das Kunstwerk mit einem Vokabular geschimpft, das keinen Zweifel daran lässt, welch Geistes Kind diese Partei ist. Und sie hatte die verlorene Debatte um den Ankauf des Kunstwerks in eine Standortfrage gedreht. SPD Oberbürgermeister Geselle wiederum habe, so die Süddeutsche Zeitung, „zugelassen, dass die Standortfrage im Parlament in ein Ultimatum an den Künstler verwandelt wurde“. (4) Der dann auch vom Abbau am 3. Oktober nicht wusste. Sorgen machen hier wie in Berlin nicht nur die Populisten. Sondern die bürokratischen Begründungen – Brandschutz und Sicherheit in Berlin, auslaufende Fristen in Kassel. Argumentationen, hinter denen sich die Mutlosigkeit verbirgt, Konflikte auszuhalten und inhaltlich auszutragen. Der öffentliche Raum ist auch einer, der über die Kommunikation geprägt wird – und deswegen gehört die Art, wie über den physischen Raum geredet und bestimmt wird, genauso zum öffentlichen Raum wie der physische Raum selbst. In beiden Fällen signalisiert das Ausweichen vor dem, was die Kunst zu bekennen provoziert, Schwäche. Die große Lücke dieses fehlenden Bekenntnisses ist verstörend. Zu bekennen gewesen wäre, dass die Qualitäten des öffentlichen Raums nur dann gewahrt bleiben, wenn man die Zumutungen, die er stellt, ertragen kann: die der anderen Meinung, des Fremden, die Zumutungen, die das Ideal der Chancengleichheit und des Respekts vor dem anderen erst als ein Ideal formulieren können. Tut man das nicht, wird signalisiert, dass dieses Ideal zur Disposition steht. Man muss nicht erst warten, bis man von Fundamentalismus sprechen kann, von dem Walter Siebel schreibt, er sei die Verfallsform kultureller Diversität. (5) Der Verfall beginnt schon vorher.


(1) Maren Harnack, Kai Vöckler im Interview, in: Michael Meier und Christoph Franz: Der Durchschnitt als Norm. Spector Books, Leipzig 2018, S. 45-72, hier S. 49
(2) Walter Siebel: Die Kultur der Stadt. Berlin 2015. S. 308–316.
(3) FAZ vom 21. September 2018 >>>
(4) Catrin Lorch: Abgesondert, abgeschoben. Süddeutsche Zeitung vom 5. Oktober 2018. Online >>>
(5) Walter Siebel: Die Kultur der Stadt. Berlin 2015. S. 316.

Lesetipp: Die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift Form widmet sich dem Schwerpunkt Grenzen. >>>