Der bunte Protest, der zu wenig Beachtung fand. Bild: Wikimedia Commens, Frank Schwichtenberg
Die Ereignisse um den G20-Gipfel in Hamburg haben ein breites und intensives Echo hervorgerufen. Dabei stand die Gewalt der Proteste und die Art, wie die Polizei dabei agiert hat, zunächst im Mittelpunkt. Das ist nachvollziehbar. Nun, da sich die Aufregung etwas gelegt hat, sollten wir uns die Zeit für etwas grundsätzlichere Gedanken nehmen.
Zwei profunde und erhellende Hefte sind kürzlich zum Thema des öffentlichen Raums erschienen. Unter „Res publica – der Raum des Öffentlichen“ publizierte der architekt Beiträge, die dem Zusammenhang von Gestaltung und politischer Dimension nachspürten. Vom öffentlichen Raum als demokratischem Ideal (Andreas Denk) war da die Rede, davon, dass öffentliche Räume eine „ganz entscheidende historische Grundlage für die systematische Ausbildung von sozialem Bürgersinn wie von politischer Stadtkultur“ bildeten (Wolfgang Kaschuba), dass sich eine städtische Jugend als Träger der rebellischen Aktion zurückmeldete (Robert Kaltenbrunner). Es war aber auch zu lesen, „dass sich Vorstellungen von Öffentlichkeit, Urbanität und Demokratie, die sich Teilhabe, Diversität und Grund- und Freiheitsrechten verpflichten, in den gegenwärtigen Stadträumen (…) selten verwirklichen“ – so Monika Litscher. (1)
Im März widmete sich die Stadbauwelt der „inneren Sicherheit“. Man erfuhr, wie die Städte gegen das Gefühl von Bedrohung aufrüsten, wie sich die City Londons der Festungsstadt des Mittelalters annähert (Oliver Wainwright), am Beispiel von Paris wurde gezeigt, dass es weniger darum gehe, „mit Schutzmaßnahmen auf eine eventuelle Bedrohung zu reagieren, als darum, in der Lage zu sein, jeden Ort in der Stadt in einen potenziellen Schauplatz für Einsätze konvertieren zu können“ (Paul Landauer). Es wurde anschaulich gemacht, dass die Gefahr des Terrors in unseren Städten niedriger ist als vor Jahrzehnten, dass häusliche Gewalt und der normale Straßenverkehr ein wesentlich höheres Gefährdungspotenzial bieten (Interview mit Elizabeth Johnson), und wie wichtig es ist, für Sauberkeit und ausreichende Beleuchtung auch dort zu sorgen, wo man nicht den schöngeistigen Platz für demokratische Aushandlung verortet – in den Nachkriegssiedlungen, die sich in einer Umbruchphase befinden. (Jan Abt, Anke Schröder). (2)
Und dann kam Hamburg
Es ist schwierig, nach den Vorkommnissen beim G20-Gipfel den öffentlichen Raum noch im traditionellen Sinne politisch zu verstehen – also als den Ort, wo der „Interessenausgleich zwischen den sozialen Schichten, zwischen den Generationen, zwischen den verschiedenen Ethnien“ verhandelt wird (Andreas Denk). Die Vorkommnisse in Hamburg, wie auch immer sie sich im einzelnen abgespielt haben, sind von einer beunruhigenden Dimension, die sich nicht zuletzt in den Diskussionen über sie äußert. Nicht nur, dass die Frage, worüber auf dem Gipfel in Hamburg eigentlich verhandelt wurde, bis zu annähernder Unsichtbarkeit in den Hintergrund gerückt wurde. Zu beobachten gab es auch, um es vorsichtig zu formulieren, wie wenig gerade die politischen Parteien auf die Bedeutung des öffentlichen Raums für eine funktionierende Demokratie eingingen, geschweige denn, dass sie auf ihr bestanden hätten. Wir können darüber diskutieren, ob es besser gewesen wäre, den Gipfel an einem anderen Ort stattfinden zu lassen als ausgerechnet in Hamburgs Stadtmitte – etwa in Berlin, wo es mit der Bannmeile immerhin einen rechtlich gesicherten Rahmen für ein Demonstrationsverbot gegeben hätte, der nicht ein für den Anlass konstruierter gewesen wäre. Inwiefern die Polizei sich dort anders verhalten hätte, wie es Christian Ströbele meinte – auch darüber kann spekuliert werden. (3) Erschreckend ist aber vor allem, wie wenig klar die Grenze gezogen wurde zwischen der durch das Selbstverständnis einer liberalen Demokratie fundierten Versammlungs- und Meinungsfreiheit auf der einen Seite und den Gewalttaten, die im Zusammenhang der Demonstrationen verübt wurden auf der anderen Seite. Der verstörende Verdacht kommt auf, dass gerade das verführerische Angebot, diese Grenze zu verwischen, dankend angenommen wurde, und dass es auch hier darum gegangen sein könnte, „jeden Ort in der Stadt in einen potenziellen Schauplatz für Einsätze konvertieren zu können“, wie es Paul Landauer in der genannten Stadtbauwelt bezeichnete. Dazu muss man gar nicht in verschwörungstheoretische Spekulationen verfallen, die übermäßige Aggression der Polizei sei gezielt angeordnet worden, um die Bilder der Gewalt zu liefern, die man dann in diesem Sinne instrumentalisieren kann. Es zielt an der Sache vorbei, mit dem Verweis auf Gewalt den Protest grundsätzlich zu diskreditieren, denn damit wird nur der Auseinandersetzung mit dem Grund für den Protest aus dem Weg gegangen. Es verstellt aber auch den Blick, den Konflikt, der sich in Hamburg entlud, dem Agieren der Einsatzkräfte zuzuschreiben oder sich an ihm abzuarbeiten, wenn darüber vergessen wird, wie wenig die politischen Themen berücksichtigten, was der Protest artikulierte.
Ein Beitrag von Armin Nassehi, der oberflächlicher oder einseitiger Kritik unverdächtig ist, scheint mir hier bemerkenswert. Denn auch er hat die Grenze zwischen friedlichem Protest und Gewalt als eine durchlässige interpretiert. Und dabei die Substanz der Kritik, die die Proteste trägt, in Zweifel gezogen. Er spricht in diesem Sinne von einer Kommunikationsfalle und dem Sympathieparadox, in das die Linke geraten sei, weil sie sich nicht vorstellen könne, dass die Ziele, die sie verfolge, nicht eigentlich für alle als offensichtlich erstrebenswert sein müssten: „Aber der innere Zusammenhang besteht doch darin, dass beide Gruppen ihre Ohnmacht angesichts der eigenen Problemdiagnose erleben“. Die Auseinandersetzung über den Weg, wie diese Ziele erreicht werden können, sei durch die Unbedingtheit der Ziele verstellt: „Das Problem ist, dass es noch keine Idee davon gibt, wie man die Wirkkräfte einer in sich differenzierten Gesellschaft nutzen kann, damit sie sich zum Besseren wendet.“ (4)
Konturen der Postdemokratie
Worin man Nassehi sicher zustimmen kann, ist, dass die Ereignisse von Hamburg keine singulären Ausnahmen waren. In ihnen wurde auf die Spitze getrieben, was sich schon lange angedeutet hatte und tiefer verwurzelt ist – im Unbehagen über der Art, wie Politik unsere Geschicke steuert, darüber, welche Macht Konzernen und Kapital zukommt, welche ökologischen Folgen giergetriebener Raubbau haben kann einerseits und die Unsicherheit andererseits darüber, wie ein Aushandeln und eine gerechtere Interessensvermittlung aussehen müssten, ohne autoritäre Züge zu tragen. Und so ist es ein weiterer Verdacht, der sich durch Hamburg aufdrängte: dass im Protest, in der Kritik und im Umgang mit ihm sich abbildet, was (mit Bezug auf Jacques Rancière und Crouch) Felix Stalder als Postdemokratie bezeichnet hat. Regierungspraxis vollziehe sich in der Postdemokratie, so Stalder, „ohne die unberechenbare Präsenz des Volkes“, „ohne Dissens über grundsätzliche Fragen“. Gerade die Präsenz der Demonstranten in Hamburg machte offensichtlich, wie wenig sich die politische Elite um sie kümmerte. Das gemäß Stalder zum Kern dieser Postdemokratie gehörende Argument der Alternativlosigkeit, das nicht nur Angela Merkel gerne benutzt, ist Teil der Begründung, mit der in den letzten Jahren etwa die faktischen Entmachtung demokratisch gewählter Regierungen in Griechenland oder Portugal vollzogen wurde.(5) In Bezug auf den öffentlichen Raum scheint zudem Stalders Verweis auf Crouch bedeutend: „Im Vordergrund steht Crouch zufolge inzwischen weniger die Beteiligung der Bürger an politischen Entscheidungen als vielmehr die für die Bürger produzierten Leistungen. Aus Demokratie (…) wird Governance.“ Wahlen seien demnach zwar durchaus in der Lage, Regierungswechsel herbeizuführen, doch die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe werde so stark kontrolliert, dass sie zu einem reinen Spektakel verkomme. „Im Schatten dieser politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht“, so Crouch. Wir sind, so scheint es, schon weit auf dem Weg in die Postdemokratie vorangekommen. Auf die Wahl in Frankreich folgte der Erleichterung, den Front National und Marine Le Pen verhindert zu haben, schnell die Ernüchterung: „Nur die Reichen jubeln noch“, titelte die „Zeit“ Ende Juli. Die Art, wie inzwischen auch hierzulande mit Journalisten umgegangen wird, erregt schon erschreckend wenig Aufmerksamkeit und bleibt folgenlos (6). Dass Bayern mit dem Gefährder-Gesetz den Rechtsstaat fast ungestört unterminieren kann, passt besser ins Bild, als es uns lieb sein kann.
Reflexion oder Inszenierung
Wenden wir diese Thesen zur Postdemokratie auf Hamburg an, so hätten die Proteste, auch wenn sie vollständig friedlich verlaufen wären, als eine ideale Inszenierung verstanden werden können, die den aufrecht erhaltenen Anschein funktionierender Demokratie nutzt, um die reale Politik hinter verschlossenen Türen zu machen. Das sind sie zwar nicht – ändert aber leider nichts: Denn was hinter den verschlossenen Türen passierte, ist so umso mehr aus dem Blick geraten, und die vermeintliche Alternativlosigkeit schien mit der Gewalt nur erst bestätigt zu werden.
Die Fragen nach dem öffentlichen Raum und seiner Bedeutung werden dadurch nicht leichter zu beantworten sein – deutlich wird aber vor allem, dass seine Qualität nicht dazu dienen darf, als Inszenierung die Bedrohung zu verschleiern, dass demokratische Institutionen unterhöhlt werden. Insofern ist es nicht einmal ungefährlich, die Rolle des öffentlichen Raums zu überschätzen, denn gerade das könnte diese Inszenierung befördern. Politische Entscheidungen werden nicht im öffentlichen Raum getroffen, es werden dort auch keine Interessen so verhandelt, dass sie sich direkt in poltischem Handeln niederschlagen. Wir brauchen den öffentlichen Raum für etwas anderes: Als Ausdrucksraum dessen, was im Gesamten von Politik und Gesellschaft zu reflektieren und zu kritisieren ist. Genau diese Kritik und diese Reflexion muss man dann aber auch wollen – und leisten. Erst dann hat der öffentliche Raum eine politische Relevanz. Es scheint, dass es schlecht um sie steht.