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Bild: Christian Holl

Der Alltag — Orientierung und Maßstab in der Architekturgeschichte? Teil 3: Anschließend an die Teile 1 (>>>) und 2 (>>>) wird nun die Frage nachgegangen gestellt, wie weit – wie erschreckend weit – die Verbindung Mensch-Maschine reichen kann. Die Frage nach dem Alltäglichen und der Architektur wird damit nicht einfacher. Aber eine Antwort darauf, was für Alltägliches und hohe Baukunst gleichermaßen gelten kann, lässt sich immerhin geben.


Am 9. Februar 2018 fand im Deutschen Architekturmuseum das Symposium „Grau, bunt schwarz-weiß? – Der Alltag der Architektur“ statt – eine Veranstaltung des BDA Hessen und des Deutschen Architekturmuseum DAM. Marlowes präsentiert ausgewählte Beiträge.



Lange vor Hannah Arendt erkannten die modernen Architekten die neue Realität der Parallele zwischen Mensch und Maschine. Wenn sich der neue Mensch im wesentlichen über seine Arbeit definierte, dann war es schließlich nur naheliegend, dem Haus eine Neubestimmung als Wohnmaschine und damit dem Rückzug des Eigensinns ins Private endgültig einen Strich durch die Rechnung zu machen. Die „Kunst, glücklich zu sein in den eigenen vier Wänden, zwischen Bett und Schrank, Tisch und Stuhl, umgeben von Hund, Katze und Blumentopf“ (1)verlässt damit die Intimität des Privaten um restlos in der Ökonomisierung des Alltäglichen aufzugehen.

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Nachbau der Villa Arpel aus „Mon Oncle“. Bild: Jean-Christophe Benoist, CC BY-SA 3.0 (Quelle: >>>)

Zu welchen Absurditäten dies führen kann, hat Jacques Tati in seinem allseits bekannten Film „Mon Oncle“, der im gleichen Jahr wie Hannah Arendts Buch veröffentlicht wurde, in ironischer Überspitztheit zum Thema gemacht. Das Verständnis der Architektur als Wohnmaschine wird darin just in dem Augenblick ad absurdum geführt, in dem die zentralen Ideen der funktionalistischen Moderne grundlegend in Frage gestellt wurden. Die Geschichte ist bekannt: Der neunjährige Gérard lebt mit seinen Eltern in einem voll automatisierten, klinisch reinen Haus, dessen Architektur wie ein Destillat bekannter Bauten der funktionalistischen Moderne wirkt. Das Leben darin wird zur täglichen Herausforderung. Denn das Haus funktioniert nur, wenn sich die Bewohner mit nahezu asketischer Disziplin seiner Bedienung hingeben oder sich gar seinen Apparaturen unterwerfen. Sie werden damit Teil eines immer wieder aufs Neue aufzuführenden Rituals. Dessen unvorhersehbaren Störungen haben weitreichende Konsequenzen. So wird der Hausherr, bezeichnender Weise Generaldirektor einer Kunststofffabrik, einmal in seiner eigenen Garage mitsamt Gattin eingesperrt, weil der Dackel der Familie mit seinem wedelnden Schwanz versehentlich die Lichtschranke für das Garagentor betätigt. (2)


Das Teuflische der Technokratie

Doch zurück zu Hannah Arendts Diagnose der modernen Lebenswelt und ihrer These vom Primat des Alltäglichen und Banalen. Es bleibt in „Vita activa“ einigermaßen abstrakt, welche Phänomene Arendt konkret vor Augen hatte, als sie ihr Buch schrieb. Konkreter wurde sie hingegen wenige Jahre später in Veröffentlichungen, die bis heute wegen der kontroversen Debatten, die sie ausgelöst haben, nachhallen. Darin wird deutlich, dass Arendt nicht gerade zu denjenigen Philosophen gehört, die sich scheuen, das Gedachte im Empirischen zu verankern – sich sozusagen die Finger schmutzig zumachen. In besonderer Weise gelang ihr dies mit der Berichterstattung vom sogenannten Eichmann-Prozess für die New York Times, später veröffentlicht unter dem Titel „Eichmann in Jerusalem. A Report on the Banality of Evil“. (3)

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Eichmann in Jerusalem. Das Buch erschien zwei Jahre nach dem Eichmann Prozess und zeichnete ein anderes Bild Eichmanns, als es die öffentliche Inszenierung nahelegte. (Bild: Archiv des Autors)

Adolf Eichmann war bekanntlich als hohes Tier in der Bürokratie der Nationalsozialisten für die massenhafte Deportierung von Deutschen jüdischen Glaubens in Konzentrationslager zuständig und damit ein wichtiges Rad im bürokratischen Getriebe der sogenannten Endlösung. 1960 wurde er durch den israelischen Geheimdienst in Argentinien gefasst und in Jersualem vor Gericht gestellt.
Hannah Arendts Text setzt allerdings nicht mit der Aufzählung von Eichmanns Vergehen gegen die Menschlichkeit ein, sondern mit einer detaillierten Beschreibung des Architektur-Medien-Komplexes im Gerichtssaal. Dabei folgt sie Schritt für Schritt der darin wirksamen Raumordnung, von den Richtern, den Gerichtsstenographen, den Übersetzern über die simultane Berichterstattung im Radio, dem gläsernen Käfig für den Angeklagten, der Box für die Zeugen bis zur Anklage und Verteidigung und deren Gefolge sowie der Anordnung des Auditoriums. Dabei lässt die Anordnung der Dinge keinerlei Zweifel daran, dass es sich bei diesem Gerichtssaal um eine streng hierarchische Raumordnung mit verteilten Rollen handelt, die sich ohne Probleme auch als bürokratische Apparatur beschreiben ließ. Die Assoziation, die Arendt indessen hatte, ging in eine ganz andere Richtung. Ihr erschien der Gerichtssaal wie ein großes Theater mit Proszenium, Bühne, Galerie, Orchestra und Seiteneingängen für die Schauspieler, wohingegen der israelische Premierminister David Ben-Gurion in seinem Selbstverständnis als Architekt und Regisseur des Staates Israel im Verborgenen die Fäden zieht.

Entgegen der Kritik an ihrer Beschreibung des Prozesses, ging es Arendt allerdings keinesfalls darum, das Gericht oder den Prozess selbst der Lächerlichkeit preis zu geben; und schon gar nicht ging es darum, die Taten der Nationalsozialisten zu verharmlosen. Was sie zugleich antrieb und irritierte, war die große Diskrepanz zwischen der architektonischen, technokratischen und theatralen Inszenierung Eichmanns als Personifikation des Bösen, der alleinverantwortlich gewesen sein soll für all die schrecklichen Morde einerseits und der tatsächlichen Wirkung, die von diesem Mann ausging andererseits. Denn im Unterschied zu vielen anderen Beobachtern und anders, als es der gläserne Käfig nahelegte, erschien ihr der Angeklagte weder als Monster noch als Irrer. Eher zeugten Verhalten und Aussagen Eichmanns in fast schon deprimierender Weise von dessen Durchschnittlichkeit und Normalität. Was sich hier zeigte, war kein Genie des Bösen, sondern ein Subjekt, das in Übereinstimmung mit dem bestehenden Recht des totalitären Regimes und mit großer Effizienz seiner Arbeit nachgegangen war – und das seine grausamen Taten auch nur aus dieser Perpektive zu betrachten imstande war. Mit anderen Worten, Eichmann personifizierte geradezu idealtypisch und in extremer Form wohin uns die neue Dominanz des Animal laborans in der Moderne geführt hatte. Dessen Alltag wird bestimmt durch geistlose Verrichtungen, deren Sinn selbst dann nicht in Frage gestellt wird, wenn sie undenkbar vielen Menschen das Leben kostet.


Die Dominanz der Ökonomie


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Banalität der Ökonomie im öffentlichen Raum. Bild: Christian Holl

Dabei erschien es Arendt zumindest bemerkenswert, dass die technokratische Abwicklung des Prozesses keinerlei Raum ließ für die eigentlich wichtigen und viel fundamentaleren Fragen nach den Ursachen und kollektiven Mitverantwortlichkeiten, die zu dieser menschlichen Katastrophe geführt hatten. Und damit nach der viel weitreichenderen Frage, inwiefern die nahezu vollständige Umwälzung des privaten und öffentlichen Lebens die Moderne in eine Sackgasse geführt hatte.
Was also nun? Zurück zur Polis, zum Forum oder gar zum Klassizismus der Antike? Fantasien dieser Art gab es viele, seitdem die Moderne selbst der Geschichte überantwortet wurde. Doch dem Alltag ist die Architektur dadurch nicht näher gekommen. Es wäre vor diesem Hintergrund interessant zu erfahren, wie Hannah Arendt auf die heutige Architektur geschaut hätte. Man darf annehmen, dass sie es kritisch getan hätte. Die Homogenisierung des Raumes durch die globale Verbreitung einer kommerziellen Oberflächenästhetik, die unterschiedslos jeden Ort in die Lounge einer Konzernzentrale verwandelt, treibt die Umkehrung von Öffentlichkeit und Privatheit gleichsam auf die Spitze. Die Banalität der Ökonomie feiert ihren architektonischen Triumph über das Denken. Ja, das Denken erscheint gewissermaßen nur noch unter den Vorzeichen der Ökonomie möglich. Legitim ist es nur noch insoweit, als es sich in die neoliberale Weltordnung einfügt.

Das Subjekt für das die Architektur gebaut wird, ist nicht länger Homo faber, also der schaffende Mensch, sondern das Animal laborans. Das heißt, ein Wesen, das jede seiner Handlungen an der Ökonomie der Aufmerksamkeit ausrichtet und damit die alltäglichen Gewohnheiten, und seien sie auch noch so banal, öffentlich zur Schau stellt.

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MASP – Das Museu de Arte de São Paulo, 1957–1968. Lina Bardi schafft unter dem Gebäude öffentlichen Raum mit Blick auf die Stadt. (Bild: Andre Savastano, CC BY-SA 3.0, Quelle: >>>)

Man muss dieser pessimistischen Grundhaltung ebensowenig folgen wie Hannah Arendts Verklärung der antiken Polis zum zivilisatorischen Idealzustand. Und es ist immer leichter, die Dinge aus einer Vogelperspektive zu analysieren, als konkrete Vorschläge dafür zu machen, wie eine Gesellschaft denn idealerweise aussehen sollte. Arendt entzieht sich der Frage nach der Architektur der Gesellschaft. Die Gründe hierfür können vielfältiger Natur sein. Entweder spielt die Architektur für die Bestimmung des menschlichen Seins keine Rolle oder Arendt ist, wie viele andre Philosophen auch, Opfer der alltäglichen Unsichtbarkeit der Architektur. Immerhin enthält ihre kluge und eigenwillige Kritik der modernen Gesellschaft einen kleinen Hoffnungsschimmer: „… wie schön auch immer die Welt der Dinge, die uns umgibt, sein mag,“ so Arendt, „sie erhält ihren eigentlichen Sinn erst, wenn sie die Bühne für Handelnde und Sprechende bereitstellt, wenn sie durchwebt ist von dem Geflecht menschlicher Angelegenheiten und Bezüge und den Geschichten, die aus ihnen entstehen. Ohne von Menschen bewohnt und von ihnen andauernd besprochen zu werden, wäre die Welt nicht mehr als ein Haufen beziehungsloser Dinge … . Ohne die gestaltete Welt wiederum blieben die eigentlich menschlichen Angelegenheiten ohne Behausung, und alles, was zwischen Menschen sich ereignet, ihr Tun und Treiben, verbliebe in dem Dunkel schwermütiger Vergeblichkeit.“ (4)
Die Frage, ob man an das Alltägliche die gleichen architektonischen Erwartungen stellen sollte wie an die hohe Baukunst, ließe sich vermutlich nicht besser beantworten.


Zum ersten Teil des Beitrag: Architektur als bewohntes Konstruktum >>>

Zum zweiten Teil des Beitrag: Haus am See oder im Schwarzwlad >>>


(1) Hannah Arendt: Vita acitva oder Vom täglichen Leben, München 2016 (Original The Human Condition, 1958), S. 53
(2) Der Filmausschnitt kann hier angesehen werden: >>>
(3) Das Buch erschihttps://www.marlowes.de/wp-admin/post-new.phpen zuerst 1963 bei Viking Press, New York; die erste deutsche Ausgabe mit weitgehenden Eingriffen 1964. Zum Buch und der Editionsgeschichte siehe: >>>
(4) Hannah Arendt: Vita acitva, S. 258
Symposium
9. Februar 2018
Grau, bunt, schwarz-weiß?
Der Alltag der Architektur
Beiträge
Programm
Eine Veranstaltung des BDA Hessen
und des Deutschen Architekturmuseum DAM