Mit dem abenteuerlichen Titel »Wolkenkuckucksheim | Cloud-Cuckoo-Land | Воздушный замок« begann vor über 25 Jahren ein Experiment zur Architekturtheorie, das Eduard Fuehr, seinerzeit Inhaber des Lehrstuhls Theorie der Architektur der BTU Cottbus, gestartet hat und nach seiner Emeritierung 2011 mit einer Stiftung und der Unterstützung von Jörg Gleiter und Ute Poerschke fortführen konnte. Jetzt wurde mit einem Symposium zum Thema »Vom Nachteil und Nutzen der Architekturtheorie« gefeiert. Und kurz darauf – die Corona-Inzidenzen fallen – stand zwei Tage lang in Rom die Konkretisierung der Idee des »Bauhaus Earth« auf dem Programm. Hier wie da ging es nicht um Neues, sondern um die Evidenz zeitgeschichtlicher Befindlichkeit.
Bemerkenswert an beiden Symposien war, dass das »große Ganze« mit gleichem Interesse verhandelt wurde wie das »pragmatisch Kleine«. Und in den Symposiumstiteln kündigte sich das bereits an: Was kann es mit dem »Nachteil und Nutzen von Theorie für Architektur« auf sich haben, die definiert wird als »sprachlich reflektierende, diskursiv vermittelnde und/oder künstlerisch umgesetzte, interdisziplinär verankerte konkrete Analyse, der Prozess wissenschaftstheoretisch reflektierender Erkenntnisgewinnung, Interpretation und Kritik der Architektur innerhalb oder außerhalb wissenschaftlicher Systeme«?1) Was kann ein Einzelner davon haben, wenn mit einem »Bauhaus Earth« auf eine architekturgeschichtlich weltweite Bewegung eine erdumfassende Verantwortung jedes Einzelnen fürs Künftige verbunden wird?2)
Zum Jubiläumssymposium von Wolkenkuckucksheim3) in Cottbus hatten sich die Organisatoren viel vorgenommen, und Eduard Fuehrs Plädoyer für eine »bunte Theorie« überzeugte unter anderem in der Forderung, den Bezug der Theorie zur Architektur wiederzufinden. Versucht worden ist das mit zwei Sektionen: »Nutzen und Nachteil des Alltags und der Baukunst für die Architektur « und »Nutzen und Nachteil der Dinge und des Raums für die Architektur«.4) Berichtet wurde sowohl von lokalen, konkreten Initiativen, als auch von abstrakten Themen, die – um es vorweg zu nehmen – nicht wirklich zusammenfanden. »Sorgetragen« in der Architektur (Elke Krasny) richtete die Aufmerksamkeit auf gemeinnützige Projekte in diversen Erdteilen (Sao Paulo, Pakistan, Puerto Rico) und auf die feminine Perspektive. Die Erfolge der Partizipation in Phasen vor dem Planen erläuterte Susanne Hofmann (Baupiloten) an konkreten Beispielen. Abstrakter wurde dann kulturhistorisch über die Schwelle als »mitwirkenden Nebenteil der Handlung zur Hebung des Charakters der Szene« (Tim Kammasch) und Fragen architekturgeschichtlicher Relevanz der Alltagsarchitektur (Sandra Meireis) gesprochen. In der zweiten Sektion am zweiten Tag beleuchtete Laurent Stalder die Wirkung der Technik (Pumpen, Aufzüge und anderes) auf die formale Entwicklung von Architektur, Susanne Hauser spann diesen Faden mit dem Einfluss der Digitalisierung fort. Zu Aspekten des Raumbegriffs äußerten sich Bettina Köhler (Veränderungen der »Metapher« über die Jahrhunderte bis zu Rem Koolhaas) und Reiner Schützeichel (Säle und Zimmerchen der Stadt), schließlich kehrte der von der architektonischen Praxis mehr und mehr zermürbte Arno Lederer den Spieß um und erzählte vom »Nutzen und Nachteil der Architektur für die Theorie«.
Geschichtswissenschaft und Theorie
So umfangreich das Programm war, so kurz sei an dieser Stelle nur auf zwei Aspekte der Tagung hingewiesen. Gerüttelt wird in der Architekturgeschichte und -theorie – wie in anderen Kulturbereichen gegenwärtig auch – gern an der Zuverlässigkeit tradierter Wissenschaften, an ihren Methoden, an ihren revidierbaren Erkenntnissen. Das ist legitim und richtig, allerdings droht, wie man so sagt, das Kind mit dem Bade ausgeschüttet zu werden. Immer öfter wird längst Erforschtes mit neuen Begriffen, aber keinen neuen Erkenntnissen wiedergekäut – zum Beispiel zur illusionistischen Bemalung von Architektur schon als Entwurfsstadiumsaufgabe. Oder, um im Historischen zu bleiben, wenn wieder mal gleich ein Paradigmenwechsel in der Architekturgeschichtswissenschaft proklamiert wird, obwohl Stilgeschichte, Kanonisierung und eurozentrische Perspektiven eigentlich schon ad acta gelegt sind. Die praktische Architekturgeschichtswissenschaft ist sicher kontinuierlich umzuschreiben, wozu aber nach wie vor Archiv- und Quellenforschung, eigene Anschauung und Sichtung der Sekundärliteratur gehören – vielleicht mehr denn je, weil sich die Informationstiefe mitnichten im Internet, geschweige in üblichen Suchmaschinen erschöpfen lässt. So hilft der in Cottbus im Rahmen einer Diskussion geäußerte Gedanke, man solle doch nicht mehr von Architekturgeschichte, sondern von Architekturgedächtnis reden, aus meiner Sicht kontraproduktiv, weil im Begriff »Gedächtnis« die stets hinterfragten Errungenschaften der historischen Wissenschaften und der geschichtsphilosophischen Erkenntnisse einfach nicht berücksichtigt werden müssten. Das »Gedächtnis« funktioniert assoziativ, emotional und intentional, gerade nicht nach wissenschaftlichen Kriterien, die zu hinterfragen doch längst eine Selbstverständlichkeit ist.
In Wechselwirkung mit Architekturtheorie kommt es vielmehr darauf an, zum Verständnis unserer gebauten Umwelt beizutragen, zu der die teils neu zu erforschende »Alltagsarchitektur« zwangsläufig gehört. Theorie ließe in diesem Kontext erhellende Erkenntnisse zur Grenzziehung zwischen kanonisierter und Alltagsarchitektur erwarten: Wie entstand die Grenze, ist sie gerechtfertigt, was bedeutet sie in der Architekturausbildung und so weiter. Zum Begreifen und zur Analyse dessen, warum unsere gebaute Welt so aussieht, wie sie aussieht, müsste nicht nur die Architekturgeschichtswissenschaft, sondern auch die Theorie ihren Part beitragen. Es genügt für die Theorie als Teil der Architekturwissenschaften nicht, dem Phänomenologischen rund um Raum als Abstraktum und Form und Materialität als dessen Konkretisierung nachzugehen.
So darf man sich darauf freuen, dass Wolkenkuckucksheim durch die Momus-Stiftung weitere Forschungsimpulse setzen kann. Es wird sich lohnen.
Die Schönheit der Schöpfung
Global Konkretes und methodisch Abstraktes kam nun auch im Vatikan zur Sprache, in einer Tagungskooperation der gemeinnützigen Bauhaus-Earth-Initiative und der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften. Bereits 2020 hatte Ursula von der Leyen mit dem »New Bauhaus«-Projekt für Schlagzeilen in der Baubranche gesorgt, es tönte ja alles gut und richtig, was sie ansprach. Es ist nicht gut um die Welt im Klimawandel bestellt, der je nach Sichtweise mehr oder weniger menschengemacht, aber auf jeden Fall durch Menschen beeinflussbar ist. So mag es konsequent gewesen sein, dass der um die Welt als göttliche Schöpfung besorgte Vatikan Gastgeber war und eine wohlfeile, 13-seitige und auf deutsch vorliegende »Charta für Stadt und Erde« vorlag und online zur Verfügung stellte.5) Zu den insgesamt 18 Autoren gehören unter anderen Hans Joachim Schellnhuber, Philipp Misselwitz, Tilmann Prinz und Andrea Gebhard – die Charta versteht sich als »ein Aufruf zum Handeln«. Neues steht in der Charta nicht. Vielmehr sind übliche und teils nervende Redewendungen des Unverbindlichen zu finden, die ich hier kurz zitiere: unverzügliches Handeln, menschlicher Scharfsinn und Kreativität sind zu nutzen, Bauen und Wohnen neu zu denken; zu handeln ist mit Respekt für die von uns genutzten Ressourcen, die Herausforderungen sind gewaltig. Es ist jetzt Zeit zu handeln … Wir übernehmen Verantwortung… und so weiter. Immerhin: Prognosen sind klar benannt, Ursachen allerdings in ihrer Pauschalisierung elegant verharmlost worden. Was zu tun sei, manifestiert pars pro toto die Blauäuigkeit der Verfasser, was ein Beispiel zeigen möge. So heißt es unter Punkt 5 der Charta: »Energie nachhaltig nutzen, statt fossile Brennstoffe zu fördern.« Das klingt gut und richtig, ist aber schon vor Jahrzehnten recht folgenlos gefordert worden. In der Charta werden Systemwechsel eingefordert – und genau die sind das Problem.
New leaderships
Die größten und wirkungsvollsten Handlungsoptionen haben die reichen Industriestaaten, die an der Erdmisere auch den größten Ursachenanteil haben. Aber wer glaubt ernsthaft, dass sich in diesen Wohlstandsstaaten etwas grundsätzlich ändern ließe? Die vielen Initiativen, die auf lokaler Ebene das dort Menschenmögliche, aber summarisch leider noch wenig bewirken, werden unumwunden anerkannt. Und zur Nachahmung empfohlen. So weit, so gut.
Aufhorchen beziehungsweise verstummen ließ nun in Rom ein Vorschlag des Physikers Geoffrey West: Nicht den Graswurzelbewegungen zollte er Anerkennung – ohne etwas gegen sie zu sagen. Nein, vielmehr forderte er eine »new leadership«, einen »Anti-Trump«, »a new big picture«. Da war das Publikum ein bisschen sprachlos, denn solche Aussagen sind derzeit politisch inkorrekt, es schickt sich nicht, nach starken Personen zu rufen. Zu übel sind die Erfahrungen mit Denjenigen, die derzeit Macht nicht überraschend, aber gleichwohl horrend, ignorant, menschenverachtend missbrauchen.
Dabei sehen wir hierzulande ja gerade durchaus, dass Politik mit der Ausübung von Macht und damit in der Auseinandersetzung von Persönlichkeiten nunmal viel zu tun hat. Wenn Robert Habeck den Tankrabatt von Christian Lindner blöd findet und stattdessen die »Überverdiener« besteuern will (was Mario Draghi in Italien längst macht), Christian Lindner aber nein sagt, dann muss Habeck ein neues Kartellgesetz durchbringen, was sehr viel Zeit kostet, was dem Christian Lindner aber vielleicht ganz recht ist.
So ist es sicher richtig, die politisch Mächtigen in Berlin oder Brüssel, Paris oder Washington aus allen Fachrichtungen und Öffentlichkeitsbereiche anzutreiben. Wem aber hören die politisch Mächtigen zu? Ministerin Klara Geywitz wurde in Rom zuhörend gesichtet – Verbindliches kam nicht über ihre Lippen.
1) https://cloud-cuckoo.net/de/in-den-wolken/ueber-wolkenkuckucksheim; unterstützt wird Eduard Fuehr von Jörg Gleiter und Ute Poerschke
2) »Bauhaus Earth«. Toward Re-Entanglement. A Charter for the City and the Earth. The Reconstructing the Future for People and Planet Conference, hosted by Bauhaus Earth and the Pontifical Academy of Sciences, 9. / 10. Juni 2022 im Vatikan.
3) Die Herausgeber: »Der Titel der Zeitschrift stammt aus der Komödie Die Vögel von Aristophanes, in der die Vögel ein Reich zwischen Himmel und Erde zu etablieren suchen, das sie νεφελοκοκκυγία (Wolkenkuckucksheim) nennen.«
4) Anm. der Autorin: In der ersten Sektion hätte ich mitwirken sollen, coronabedingt konnte ich nicht nach Cottbus anreisen, die live-gestreamte Veranstaltung konnte ich komplett verfolgen, aber leider nicht zugeschaltet werden und nur im Chat etwas beisteuern.
5) https://bauhausearthbackend.com/wp-content/uploads/2022/06/Charta_DE.pdf