• Über Marlowes
  • Kontakt
Bruno Flierl 2016. Bild: Frank Schumann
Er war kritischer und offener Geist, eine der wichtigsten Stimmen der deutschen Architekturkritik und ein Philantroph. Eine Erinnerung an einen wunderbaren Menschen.

Als sich im November 1989 der eiserne Vorhang in Berlin hob, war die Neugierde groß. Nicht nur im Osten, wo viele Menschen die Gunst der Stunde zu einem Besuch im Westen nutzten und Trabanten um den Ernst-Reuter-Platz in Westberlin kreisten, sondern auch im Westen – verhaltener vielleicht und auch nicht unbedingt spontan, aber gespannt auf die (zumindest mir) weitgehend unbekannte Welt der DDR war ich schon.

Sehr bald nach der Grenzöffnung saß im Café des Bauhausarchivs in der Klingelhöfer Straße eine Gruppe von Architekturjournalist*innen aus Westberlin und aus Ostberlin. Einige waren von weiter hergekommen. Leipzig sei ja nur zwei Stunden Zugfahrt entfernt, erklärt der junge Michael Schinko, der gerade sein Architekturstudium in Weimar abgeschlossen und dort mit Kommiliton*innen die studentische Zeitschrift Archivolte herausgegeben hatte. Felix Zwoch war dabei, damals Redakteur der Bauwelt, und einige andere darunter ein Herr schon etwas reiferen Alters: Bruno Flierl. Mir war sofort klar, wer er war: Der Architekturkritiker der DDR, langjähriger Chefredakteur der Zeitschrift Deutsche Architektur (später: Architektur der DDR) und eine wichtige Figur im BdA der DDR. Beide Posten hatte er verloren, weil er in die Ungnade der Staatsregierung gefallen war. Das war im Westen bekannt. Er galt dort als Dissident, den ich mir als einen düsteren, stets kampf- und widerspruchsbereiten Gesellen vorgestellt hatte.

2330_AT_ThFlierl_BrunoFlierl2

Ausgelassen im hohen Alter: Bruno Flierl 2016. (Bild: Thomas Flierl)

Dort saß aber ein freundlicher offenherziger Mann, der sich trotz seiner erheblich größeren Erfahrung und seines überlegenen Wissens interessiert an neuen Begegnungen zeigte. Ihm fehlte auch jeder Zynismus, der sich im Westen unter meinen Kollegen ausgebreitet hatte. Man war dagegen, nicht dafür. Bruno Flierl war offen, zuerst für den Menschen und dann für die Position, die er einnahm. Nicht umgekehrt, so wie ich es aus Westberlin kannte und noch heute kenne. Es folgten weitere Begegnungen. Ein Besuch in seiner Wohnung, ein gemeinsames Mittagessen, meine erste Fahrt in einem Trabant, ein Rundgang durch Berlin-Mitte. Schnell wurde klar: Bruno Flierl hatte Kritik, an dem was in der DDR gebaut worden war und in Berlin unter Hans Stimmann geplant wurde, aber er wusste, was stattdessen hätte geschehen sollen oder noch geschehen sollte. Er übte konstruktive Kritik, die allerdings auch nicht allen gefiel.

Kritik ohne Rechthaberei

Auf Vermittlung von Michael Schinko konnte ich 1992 und 1996 auf dem von Gerd Zimmermann und Kollegen organisierten Bauhauskolloquium in Weimar über die Hamburger Nachkriegsmodernisten Rudolf Lodders, Bernhard Hermkes und Godber Nissen und ihre Arbeit während des Nationalsozialismus vortragen. Sie hatten damals radikalmoderne Rüstungsfabriken gebaut, und Nissen konnte dabei auf die Mitarbeit von Hermann Henselmann setzten, der sich noch 1944 in der Bauwelt über die Vorzüge des Krieges bei der Entwicklung einer funktionalistischen Architektur geäußert und dabei die AVIA Flugzeugwerke vorgestellt hatte, an denen er mit Godber Nissen arbeitete. Dort traf ich Bruno Flierl wieder. Für mich war die Erkenntnis über die Verwicklung von Hermann Henselmann in das Bauen während der NS-Zeit etwas Neues. Bruno Flierl hörte interessiert zu, aber ich hatte nicht den Eindruck, dass es für ihn ein großer Erkenntnisgewinn war, aber er bestärkte mich, weiter zu forschen.

Der Zweite Weltkrieg hatte für Bruno Flierl in französischer Kriegsgefangenschaft geendet, die ihn aber nicht verbittern ließ, sondern für die Lebenskultur in Frankreich öffnete, der er sich lange verbunden fühlte. 1948 kam er nach Deutschland zurück und studierte an der Hochschule der Künste am Steinplatz in Berlin Architektur. Schon 1950 ging er in die DDR, um hier am Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft mitzuwirken und machte Karriere. 1952 war er bereits wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Deutschen Bauakademie, 1962 bis 1964 Chefredakteur der Zeitschrift Deutsche Architektur und öffnete das Blatt für Debatten um das Bauen. Flierl wurde abgesetzt und später beim Chefarchitekten Ost-Berlins bis 1979 Leiter des Instituts für Theorie der Architektur und des Städtebaus an der Bauakademie, leitete von 1975 bis 1982 auch die einflussreiche Arbeitsgruppe „Architektur und Bildende Kunst“ im Bund Deutscher Architekten und lehrte an der Humboldt-Universität. 1984 wurde er nach starken politischen Angriffen aus der SED aus gesundheitlichen Gründen pensioniert. Er hatte einen Schlaganfall erlitten.

2330_AT_Verlage_Flierl

Eine Auswahl von Flierls Publikationen

Aber Rückschläge ließen ihn nicht verzagen. Baukultur war für ihn stets auch eine Debattenkultur, in die er seinen Sachverstand einbrachte und fundiert Widerspruch erhob: gegen den Abriss des Palastes der Republik und gegen eine stupide Reinszenierung eines kaiserlichen Berlins, die sich aus Hans Stimmanns Planwerk für Berlin lesen ließ. Er blieb ein kritischer Geist, der Einspruch erhob, aber nicht Recht behalten musste. Bis in seinen Lebensabend hinein betrieb er Forschungen, studierte Turmhäuser auf der ganzen Welt, unternahm und organisierte Architekturreisen und unterhielt einen Diskussionszirkel.

Bruno Flierl lebte Baukultur. Jetzt ist er im Alter von 96 Jahren gestorben, aber sein intellektueller reflektiert kritischer Geist wird weiterleben!


Jüngere Bücher von Bruno Flierl (Auswahl)

Haus Stadt Mensch: Über Architektur und Gesellschaft. Gespräche. Eulenspiegel Verlagsgruppe Berlin, 2019. Weitere Information >>>

Architekturtheorie und Architekturkritik. Texte aus sechs Jahrzehnten. DOM Publishers, Berlin 2017. Weitere Information >>>

Selbstbehauptung. Leben in drei Gesellschaften. Verlag Theater der Zeit, Berlin 2015. Weitere Information >>>

Berlin – Die neue Mitte. Architektur und Städtebau seit 1990, Edition Gegenstand und Raum 2. Verlag Theater der Zeit, Berlin 2010

Hundert Jahre Hochhäuser. Hochhaus und Stadt im 20. Jahrhundert. Bauwesen Verlag, Berlin 2000.