Am 18. Oktober wird in der Architekturgalerie am Weißenhof in Stuttgart eine Ausstellung von Matthias Megyeri eröffnet. Megyeri thematisiert in seiner Arbeit Sicherheits- und Abwehreinrichtungen an Gebäuden und im öffentlichen Raum: Zäune, Schutzdrähte, Ketten, Gitter, Sicherheitspersonal. Anlässlich dieser Ausstellung macht Stephan Trüby auf die architektonische Dimension des Zauns aufmerksam.
Das Verhältnis von Einzelgebäuden zu ihrer Umgrenzung – abstrakter: von Architektur zu Grund – gehört zu den missachtetsten Aspekten der Architekturtheorie. Während Leon Battista Alberti in seinem Traktat De re aedificatoria (1452) das Bauwesen noch auf sechs Elementen gründete, zu denen neben regio (Gegend), partitio (Einteilung), paries (Wand), tectum (Dach), apertio (Öffnung) auch area, also das Grundstück, gehörte, sollte dieser Aspekt der Architektur – dass sie auf einem bestimmten Grundstück zu stehen kommt, das oftmals auch umgrenzt ist –, in den Folgejahrhunderten zunehmend in Vergessenheit geraten. In diese Zone der Missachtung hinein evolvierte der Grundstückszaun als ein von der Architektur weitgehend entkoppeltes Artefakt des Kunstgewerbes. Ausnahmen wie die Arts-and-Crafts-Bewegung oder der Jugendstil, die vielerorts Gebäude und Grundstückseinfriedungen „aus einem Guss“ hinterlassen haben, bestätigen dabei nur die Regel. Im Folgenden seien daher – ausgehend von Gottfried Semper, der sich intensiv mit dem Verhältnis von Kunstgewerbe und Architektur befasste – Prolegomena zu einer Architekturtheorie des Zaunes präsentiert.
Semper und der Zaun als Ursprung der Architektur
Anders als Alberti rechnete Gottfried Semper (1803-1879), der zentrale Architekt und Architekturtheoretiker in der Mitte des 19. Jahrhunderts, das Grundstück nicht zu den wichtigsten Architekturelementen. In seinem 1851 erschienenen Buch Die vier Elemente der Baukunst stellt er die Architektur als ein ebenso gedankliches wie materialisiertes Konstrukt vor, das seinen Mittelpunkt im Herd findet: „Er ist das erste und wichtigste, das moralische Element der Baukunst. Um ihn gruppiren sich drei andere Elemente, gleichsam die schützenden Negationen, die Abwehrer der dem Feuer des Herdes feindlichen drei Naturelemente; nämlich das Dach, die Umfriedung und der Erdaufwurf.“(1) Diesen vier Elementen ordnete Semper vier Urmaterialien sowie vier Urtechniken zu: dem Herd den Ton und die Keramik; dem Dach das Holz und die Tektonik; dem Erdaufwurf, also dem Fußboden den Stein und die Stereotomie; und der Wand das Textil und die Flechtkunst. (2) Die Wand macht Semper auch zum Ursprung der Architektur, die er – anders als etwa Vitruv – nicht auf eine Urhütte zurückgeführt, sondern auf eine Urtechnik – nämlich die des Webens und Flechtens. Damit entkleidete er die Architektur vom Gedanken der firmitas, also der Festigkeit – um sie viel allgemeiner in symbolischer Sicherheit zu wiegen. Denn in der geflochtenen Wand sieht Semper ein Echo zaunumgrenzter territorialer Besitznahme, wenn er schreibt: „Der Zaun, die in einander geflochtenen Zweige von Bäumen, als ursprünglichster Pferch oder Raumabschluss und rohestes Flechtwerk ist jedem wildesten Stamm geläufig.“ (3) Darauf aufbauend stellt Semper im ersten Band seines 1860 erschienen Hauptwerks Der Stil den Zaun als Ausgangspunkt architektonischer Evolution vor: „Als früheste von Händen produzirte Scheidewand, als den ursprünglichsten vertikalen räumlichen Abschluss, den der Mensch erfand, möchten wir den Pferch, den aus Pfählen und Zweigen verbundenen und verflochtenen Zaun erkennen, dessen Vollendung eine Technik erfordert, die gleichsam die Natur dem Menschen in die Hand legt. Von dem Flechten der Zweige ist der Übergang zu dem Flechten des Basts zu ähnlich wohnlichen Zwecken leicht und natürlich.“ (4)
Als Semper dies schrieb, vollzog sich in den großen europäischen Städten wie Paris oder London eine Zaun-Zeitenwende materieller Art: Um 1860 wurde Schmiedeeisen („wrought iron“) zunehmend durch Weichstahl („mild steel“) ersetzt (5) – womit ein Ökonomierungsprozess stark beschleunigt wurde, der bereits rund 100 Jahre zuvor begonnen hatte: Damals hatte die Entwicklung von Gusseisen („cast iron“) die Schmiedeeisen-Ästhetik, die im 17. Jahrhundert zu künstlerischen Höhepunkten wie Jean Tijous Prachtgitter des Hampton Court Palace geführt hatte, bezahlbarer und verbreiteter gemacht. Die Folge waren Straßenbilder in wohlhabenden Städten wie London, in denen vor Häusern kilometerweise vorgefertigte Zäune, Tore und Geländer im Schmiedeeisen-Look zu sehen waren,(6) und zwar bis Ende des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus- Semper allerdings war vom architektonischen Potenzial der „Metallotechnik“ nicht so recht überzeugt, denn sie war für ihn nicht für den Monumentalbau geeignet,(7) da das Ideal des Eisenbaus in der „unsichtbare(n) Architektur“ liege. (8) Sein „Beweis“ für diese aus heutiger Sicht so abwegig klingende These war die 1843 bis 1851 in Paris errichtete Bibliothek Sainte-Geneviève von Henri Labrouste. (9) In Sempers Stoffwechseltheorie, derzufolge die Architektur und andere Künste ihren Kunstcharakter Material-Metarmophosen verdanken (der buntbemalte Steintempel beispielsweise leitet sich – das wusste bereits Vitruv – in seinen Details und der Ornamentik aus dem Holztempel ab, dieser aus textilen, farbenprächtigen Festarchitekturen und diese aus dem geflochtenen Zaun), nimmt Eisen eine Sonderrolle ein: Semper empfiehlt hier ausnahmsweise eine strukturelle, keine bunte, textilhafte Erscheinung: „So würde ich z.B. bei Eisenwerk, das, je dünner, desto vollkommener erscheint, niemals helle Farben anwenden, sondern Schwarz, Bronzefarbe und viel Vergoldung.“ (10)
Stacheldraht-Dispositive
Der Darbietungskontext der Great Exhibition, in den sich Semper begab – er hatte die Ausstellungsgestaltungen für Ägypten, Dänemark, Schweden sowie Kanada übertragen bekommen – war ein zutiefst kolonialistischer – und Kolonisation kann auch als wichtigster Motor der Zaunbau-Entwicklung bezeichnet werden. Vor allem in Amerika. Dies wird deutlich anhand eines Vergleichs der Zäune von Native Americans und denen europäischer Kolonisator*innen. Denn während Erstere für das Einfangen von Wild gebaut wurden, wurden Zweitere für die Landnahme und zum Schutz des Ackerbaus vor Wild errichtet.(11) Eine Illustration von 1632 verdeutlicht die amerikanische Ausgangslage: Native Americans errichteten zwei hintereinander gestaffelte V-förmige hölzerne Zäune, um Wild einzufangen, und an der Engstelle, wo sich die beiden Geraden des „V“ treffen, stehen Speerwerfer parat, um die zusammengetriebenen Tiere zu töten. (12) Die Kolonisator*innen dagegen bauten Zäune zunächst zur Befestigung von Forts, um das Land zu kontrollieren – und nach erfolgter Landkontrolle zum Schutz ihrer beginnenden Agrarwirtschaft vor Tieren.
Das territorialisierende Prinzip von Zäunen, die die Agrarwirtschaft vor offener Viehhaltung schützen, erreichte um 1870, mit der Erfindung des Stacheldrahts, ein neues Perfektionslevel. Mit ihm geriet auch die nur rund zwanzigjährige, aber bis heute stark mythisierte Periode nomadisierender Cowboys, die in den „open ranges“ unwirtlicher Great Plains zwischen Missouri und den Rocky Mountains riesige Rinderherden in Richtung der im Norden des Landes gelegenen Schlachthöfe zu treiben versuchten, an ihr relatives Ende.(13) Nun, mit der Patentierung von Stacheldraht durch Joseph Glidden im Jahre 1874, dem Betrieb großmaßstäblich umzäunter Felder und dem Bau von Bahngleisen, konnten die Rinder vor Ort bleiben, um von dort für den Transport auf Züge verladen zu werden. Ranches konnten nun näher beieinander stehen, Cowboys wurden seltener benötigt,(14) und die Great Plains öffneten sich auch für kleinere Farmen. (15) Der Stacheldraht, schreibt Olivier Razac in seiner Politischen Geschichte des Stacheldrahts, verwandele den geografischen und sozialen Raum der Native Americans „in eine feindliche Umgebung, in der sowohl das Nomadentum (…) als auch ihre Art zu jagen unmöglich geworden ist.“ (16) Damit, so Razac weiter, entspreche er „einem Rückzug der Macht von der materiellen Dichte des Steins und anderen massiven Teilungsvorrichtungen“. (17) Es folgten „Dispositive, die immaterielle Grenzen ziehen, welche weder aus Holz noch aus Stein noch aus Metall, sondern aus Licht, Wellen und unsichtbaren Vibrationen bestehen.“ (18)
Zum Beispiel in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs. Zwar spielten die Stacheldrahtverhaue während der Kampfhandlungen aufgrund ihrer Geschmeidigkeit und schweren Zerstörbarkeit ein wichtige Rolle, doch ist der Stacheldraht nie zum Symbol dieses Krieges geworden. „Zum universalen Symbol“, macht Razac deutlich, „wird er erst durch die entscheidende Rolle, die er im Herzen der modernen Katastrophe gespielt hat: in der absoluten totalitären Erfahrung der Konzentrations- und Vernichtungslager der Nazis“. (19) Über Konzentrationslager wie das in Buchenwald schreibt er: „(…) das Lager und der Stacheldraht sind eins.“ (20) Des Weiteren berichtet er von den mit Zweigen und Blättern getarnten Stacheldrahtzäunen um die Gaskammern (und um die Wege dort hin) in den KZs von Sobibor und Treblinka. (21) Insgesamt stellt Razac den Stacheldraht als „Metapher für politische Gewalt“ vor, welche „die modernen Katastrophen“, zu denen er vor allem die Ausrottung der Native Americans, das Gemetzel von 1914–18 und den Genozid durch die Nazis zählt, miteinander verbindet. (22) Räumlich assoziiert Razac mit diesen drei geschichtlichen Epochen je eine geometrische Konstellation: die „eine Linie“ gegen die Native Americans, die Richtung Westen wandert; die „zwei Linien“ im Ersten Weltkrieg, die aufeinander prallen. Und im Lager schließlich wird das Innere der Stacheldrahtzäune zum Außen. (23)
Rätselcharakter der Kunst
Was über das „System von Öffnungen und Schließungen“ von „Heterotopien“(24) der amerikanischen Prärie, der Schützengräben oder Lager gesagt werden kann – dass sie von resilienten Zäunen konstituiert werden –, ist auch über die Alltagsrealität jenseits dieser „anderen“ Räume festzuhalten: Kapitalismus produziert Segregationen, auch räumliche. Vor allem solche um so genanntes „Privateigentum“. Wie dieses einmal entstand, darüber berichtete Mitte des 18. Jahrhunderts Jean-Jacques Rousseau mit folgender berühmt gewordener spekulativen Archäologie: „Der erste, der ein Stück Land mit einem Zaun umgab und auf den Gedanken kam zu sagen, ‚Dies gehört mir‘, und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der eigentliche Begründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Elend und Schrecken wäre dem Menschengeschlecht erspart geblieben, wenn jemand die Pfähle ausgerissen und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: … Ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass zwar die Früchte allen, die Erde aber niemandem gehört.“ (25) Rund hundert Jahre später wandte sich Karl Marx gegen die „Idylle“ der bürgerlichen Ökonomie à la Adam Smith, wonach sich eine „previous accumulation” vor allem rechtschaffener Arbeit verdankt hätte. Dabei prägte er das Wort von der „so genannten ursprünglichen Akkumulation“. Mit der vorangestellten Relativierung wollte er deutlich machen, dass wohl eher nicht Fleiß am Anfang von Eigentum steht, sondern „Eroberung, Unterjochung, Raubmord, kurz Gewalt.“ (26)
„In einer längst verfloßnen Zeit“, schreibt Marx mit Blick auf die biblische Sündenfall-Geschichte, „gab es auf der einen Seite eine fleißige, intelligente und vor allem sparsame Elite und auf der andren faulenzende, ihr alles und mehr verjubelnde Lumpen. Die Legende vom theologischen Sündenfall erzählt uns allerdings, wie der Mensch dazu verdammt worden sei, sein Brot im Schweiß seines Angesichts zu essen; die Historie vom ökonomischen Sündenfall aber enthüllt uns, wieso es Leute gibt, die das keineswegs nötig haben. Einerlei. So kam es, daß die ersten Reichtum akkumulierten und die letztren schließlich nichts zu verkaufen hatten als ihre eigne Haut.“ (27)
Die Tragödie der „sogenannten ursprünglichen Akkumulation“ wiederholt sich als Farce – nämlich der des kunstfertigen, unterhaltsamen Zaunes. Auch im 21. Jahrhundert. Man denke etwa an Herzog & de Meurons Zaun für das 2004 bis 2007 entstandene Gebäude Bond Street 40, der aussieht, „als habe Jackson Pollock ihn mit flüssigem, schnell härtendem Blei in die Luft gemalt.“ (28) Niklas Maak hat die Paradoxien dieses 39 Meter langen und bis zu sieben Meter hohen Zauns herausgearbeitet: „Er macht Werbung mit dem Flair der Subkultur und hält sie sich gleichzeitig vom Leib. Er verwandelt die anarchische Energie der Punk-Bohème in ein Kunstwerk – und dieses Kunstwerk ist gleichzeitig der beste denkbare Schutz vor dem realen Unmut jener Kultur, die er zitiert.“ (29) Man denke auch an Florian Grafs Folly of De-Fence für die Art Basel 2010, bei der ein trennender Jägerzaun zum einladenden Tor wird und sich damit in die lange, vor allem seit dem 18. Jahrhundert sich verbreitender Geschichte so genannter „Follies“ (wörtlich „Torheiten“) gebauter Verrücktheiten einreiht. Und man denke an Ai Weiweis New Yorker Kunstausstellung, die 2018 unter dem Titel Good Fences Make Good Neighbors an mehr als 300 öffentlichen Orten der Millionenmetropole zu sehen war. Mit der Ausstellung und insbesondere der wohl auffälligsten Skulptur der Schau, nämlich Gilded Cage direkt am Südende des Central Parks, formulierte Weiwei unweit des drei Straßenblöcke weiter südlich gelegenen Trump Tower auch direkt Kritik an der Einwanderungspolitik des damaligen US-Präsidenten Donald Trump.
Vor allem wird die zur Farce abgebogene Tragödie der „sogenannten ursprünglichen Akkumulation“ im Werk des Künstler Matthias Megyeri deutlich. Seit seiner Abschlussarbeit am Londoner Royal College of Art im Jahre 2003 arbeitet er an einem Werkkomplex namens Sweet Dreams Security® – einer Marke für Sicherheitsprodukte –, in dem Zäune eine zentrale Rolle spielen. Neben einem Stacheldrahtprodukt in Schmetterlingsformen ist hier vor allem die vielfach produzierte, aber immer ortsspezifisch variierte Zauninstallation R. Bunnit, Peter Pin & Didoo zu erwähnen, die einerseits den typisch Londoner Eisenzäunen Referenz erweist, andererseits aber deren tödlichem Ernst wörtlich die Spitzen nimmt, indem sie durch gleichermaßen gefährliche Comic-Charaktere ersetzt werden. Der Zaun findet sich mittlerweile auf der ganzen Welt: unter anderem an Tom Dixons Tokyo Hipsters Club in Tokyo, in der Sammlung des New Yorker Museum of Modern Art, auch zweimal in Stuttgart. Zu Megyeris Strategie gehört es, dass pro Postleitzahl nur einer dieser Zäune realisiert wird. Zum ersten Mal gebaut wurde er 2004 an einem Haus am Londoner Hoxton Square, in dem sich auch das Studio des minimalistischen Designers Jasper Morrison befand. Eine Anekdote berichtet, dass er noch schlaftrunken mit Kaffeebecher in der Hand seinen Augen nicht trauen wollte, als die Handwerker am frühen Morgen die erste Spitze fixierten. Langsam und leise fragte er: „Why penguins?“ Gute Frage. Der Rätselcharakter der Kunst bereitet auch über Farce gewordene Tragödien einen Mantel des Schweigens.