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Alle Bilder: Christian Holl
Fragen zur Architektur (41) | Die Konzentration auf den Bestand ist eine Chance für die Architektur. Der Fokus auf das bereits Gebaute zeugt, dass sich das Potenzial der Architektur steigern lässt, wenn wir den Bestand als Ressource verstehen. Dann birgt er utopische Kraft, weil dann die Rolle der Nutzenden als eine verstanden werden kann, die die Architektur mit hervorbringt.

In einem seiner wenigen auf deutsch erschienenen Bücher zitiert der australische Schriftsteller Gerald Murnane den französischen Surrealisten Paul Éluard: „Es gibt eine andere Welt, aber sie ist in dieser hier“. Murnane – oder der Ich-Erzähler des Romans, der Éluard anführt – hat seinerseits nicht Éluard gelesen, sondern dessen Worte einem Buch von Patrick White entnommen. (1) Murnanes Ich-Erzähler spekuliert nun darüber, welches die Welt ist, die mit „in dieser hier“ gemeint ist. Durch die schriftliche Fixierung ensteht eine Distanz zwischen der Welt der Person, die den Satz „Es gibt eine andere Welt, aber sie ist in dieser hier“ geschrieben oder geäußert hatte – eine der Personen, die „auf den Innenseiten eines Buches wohnen.“ Erst dadurch bekommt die andere Welt die konkrete Anbindung, die ihn von dem Leser und der Leserin trennt.

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Ungebetene Gäste

Anders als Murnanes Alter Ego, das im Roman vorgibt, nicht zu wissen, wann und wo dieser Satz wirklich notiert wurde, können wir leicht herausfinden, in welchem Zusammenhang Éluard es tat: 1939, zu einer Zeit also, die wahrlich Anlass zur Verzweiflung gab. Die Beschwörung einer anderen Welt war damals nötig, um die Hoffnung nicht sterben zu lassen, eine Aufforderung zur Fantasie, um der Resignation entgegenzuwirken – die Vorstellungskraft wird als Ressource für das Erkennen von Alternativen aktiviert. (2) Es ist eine Ressource, derer wir uns etwas intensiver bedienen sollten, als wir es offensichtlich zu tun bereit sind.

Würden wir aber gleich Murnane nicht wissen, wann und in welcher politischen Lage Éluard seinen Satz geschrieben hatte, böte er weitere Möglichkeiten der Interpretation. Er ließe sich lesen als die Distanz zur Welt der anderen, die um uns existieren. Die Welt ist da nicht nur die des einen Globus, der ein Leben einschließlich des die eigenen Lebensgrundlagen zerstörenden Menschen hervorgebracht hat, sondern besteht auch aus den vielen individuellen Menschenleben mit ihren Einschränkungen, Hoffnungen, Verdrängungen und Sehnsüchten, mit ihren Zwängen und Engen, Erinnerungen, Traurigkeiten und Glücksmomenten. Doch die Dramen und Schicksale, die sich vor unseren Augen vollziehen, sind nicht die unsrigen. Wir können an ihnen teilhaben, ohne dass wir in der Welt der anderen leben können oder müssen, was uns aber auch erlaubt, auf sie einwirken zu können, denn wir sind weniger dieser Welt und ihren Regeln verpflichtet. Zärtlich oder grob, zaudernd oder entschlossen, behutsam oder gewalttätig. Als ein Verhältnis, das auf Gegenseitigkeit beruht, ist es jenes, das Sartres Hölle der anderen hervorbringt: Wie die anderen an unserer Welt teilhaben, liegt größtenteils außerhalb unseres Einflusses.

Geheuchelt

Wir sind immer auch ein Produkt der anderen. Die Gewalttätigkeit, die diese anderen zur Hölle macht, besteht in deren Einfluss auf Welt Anderer, obwohl sie wenig von ihnen wissen. Was sie nicht daran hindert, diesen Einfluss auszuüben. Die Welt der anderen ist auch die, von der so oft behauptet wird, dass sie Grundlage politischen Handelns sei. So bemühen Politiker die Witwe im Einfamilienhaus, angeblich, um sie gegen die Zumutungen eines vermeintlich rabiaten Sanierungsfurors beschützen zu können. Hier wird ein Einzelschicksal konstruiert, um perfide mit anekdotischer Evidenz die Macht der großen Zahl – hier die der unsanierten Einfamilienhäuser – zu brechen, ohne je eine Witwe beim Namen nennen zu können, die die Chance gehabt hätte zu formulieren, was sie wirklich wünscht und was sie ängstigt. Vorgetäuschte Empathie, ein Griff in die Kiste der billigen Tricks, die nicht nur funktioniert, weil es eine Witwe geben könnte, die nicht wüsste, wie sie einen Heizungstausch oder eine Sanierung bezahlen sollte, sondern die Witwen und andere darauf aufmerksam macht, dass sie sich vor dem Heizungstausch ängstigen könnten.

Empathie braucht immer auch die die Demut vor den Grenzen der Empathie.

Ist hier die Empathie eine vorgetäuschte, um sie politisch instrumentalisieren zu können, kommt dort keine an, wo sie zu unbequemem Handeln verpflichten müsste. Wenig Empathie bekommt der Bauer entgegengebracht, der den gepachteten Boden kaufen zu können hofft, sich dies aber angesichts der rasant gestiegenen Preisen nicht leisten können, selbst wenn sie ein Vorkaufsrecht haben – bäuerliche Familienbetriebe „können beim Kauf von Agrarflächen kaum mehr mithalten, da die Preise auf dem Bodenmarkt drastisch viel höher gestiegen sind als die Einkommen.“ (3) Sechzig Prozent der landwirtschaftlichen Flächen in Deutschland sind gepachtet. Ein großer Teil der Subventionen, für deren Erhalt die Bäuerinnen und Bauern kämpfen, kommt ihnen gar nicht selbst zugute: „Von höheren Subventionen profitieren zu einem erheblichen Teil die Grundeigentümer, nicht die das Land bewirtschaftenden Bauern“, so Dirk Löhr, der Bodenmarktexperte. (4) Der Wille, sich tatsächlich mit der anderen Welt in dieser hier vertraut zu machen, ist – zumindest im politischen Raum – kaum ausgeprägt, die vorgetäuschte Empathie mit Betroffenen Populismus. Wäre sie echt, müssten die Skrupel davor, was sie bewirken kann, wann sie in das Leben anderer eingreift darf und wo sie es unterlassen sollte, stärker sein. Empathie braucht immer auch die die Demut vor den Grenzen der Empathie. Obwohl sie in dieser hier ist, ist sie eine andere Welt.

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Immer wieder entstehende Architektur

Architektinnen (oder zumindest manche von ihnen) mögen noch dem Traum anhängen, dass sich die Distanz zwischen den Welten durch Gestaltung überbrücken lässt, dass Gestaltung Welten dadurch verbinden könne, weil sie einer übergeordneten angehört. Eine solche Vorstellung hat schon einige zum Widerspruch herausgefordert, Hermann Czech etwa oder Josef Frank. Beide wandten sich gegen eine Architektur, die sich als Kunstwerk oder gar als Gesamtkunstwerk versteht, den Nutzer entmündigt und Gestaltung so diktatorisch werden lässt. (5) Die Hölle der anderen ist in diesem Fall die Arroganz derer, die sich meinen über das hinwegsetzen zu dürfen, was sie von den anderen nicht wissen können – oder deren Ignoranz, wen sie nicht einmal wahrnehmen, worüber sie sich hinwegsetzen.

Die Magie der Architektur setzt die Distanz zwischen der Welt und der anderen Welt voraus, sie zu entfachen setzt das Wissen um diese Distanz voraus.

Demgegenüber steht das spezifisches Potenzial der Architektur, das in ihrer Nutzung liegt, in ihrem Gebrauch. Dieses Potenzial geht über das eines nicht mehr zu verändernden Kunstwerks hinaus, weil Architektur dort zu einer eigenen Welt dessen werden kann, der sie zu der eigenen macht. Wenn Gestaltung als Hintergrund des Alltags verstanden wird, kann ein Ort entstehen, der ihn zur Welt macht. Die Qualität der Architektur kann also auch darin bestehen, dass die Frage nach Autorenschaft und Qualität voneinander gelöst wird. Dass Lesende zu Schreibenden werden, die Geschriebenes umschreiben, dass sich Lesende und Schreibende so gegenseitig hervorbringen, ohne miteinander in einer Welt zu leben. Das wird vor allem durch die gestiegene Bedeutung des Bestands offenbar. Die Magie der Architektur setzt die Distanz zwischen der Welt und der anderen Welt voraus, sie zu entfachen setzt das Wissen um diese Distanz voraus. Diese Wissen ist notwendig, um Architektur zu befreien aus der Klemme zwischen Autonomieanspruch und vorauseilender Bedarfserfüllung. Das Emanzipatorische der Gestaltung besteht darin, den Zugriff der Gestaltung enden zu lassen.

Produktive Dissonanzen

Man kann den Satz auch aktivistisch lesen. „Es gibt eine andere Welt, aber sie ist in dieser hier – und nicht in einer anderen, auf die zu warten sich lohnen könnte“, wäre eine Möglichkeit, ihn fortzuschreiben. Sandra Meireis etwa hat daraus die Vorstellung der Mikro-Utopie entwickelt als eine konkrete Möglichkeit, eine andere Welt in dieser hier zu verorten. Inverventionen, die routinierte Alltagspraktiken und Machtstrukturen durch performative oder partizipative Gegenbewegungen in Frage stellen, erlauben es, gleichzeitig Defizite und Alternativen zu formulieren, ohne behaupten zu müssen, diese schon als eine endgültige Praxis einfordern zu müssen. Mikro-Utopien sind eine Form, die politische Aushandlung einzufordern und sie zu praktizieren. Dabei wird der Wert des Politischen auch darin gesehen, von vorherrschenden Praktiken abweichende Positionen deswegen als demokratische Qualität zu sehen, weil sie diese Abweichungen sichtbar und verhandelbar machen. Die Distanz zwischen den Positionen macht sie erst zu einem Gegenstand des Politischen. (6) So – möglicherweise erst so – entsteht Freiheit: die der anderen Welt in dieser hier. Dies kann auf den alltäglichen Gebrauch der Architektur rückübertragen werden: Jede Architektur kann Mikro-Utopie werden.

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Zitate zitieren

„Er (Éluard) schrieb seine Worte und in dem Augenblick, als er sie schrieb, betraten die Worte die Welt von Erzählern und Figuren und Landschaften – ganz zu schweigen von den Seiten, die in andere Bücher wehen, wo sie von Leiten wir mir gelesen werden könnten,“ so noch einmal Murnane. (7) Aber hat Éluard nicht in erster Linie daran gedacht, sich gegen die Übermacht des Staatsterrors, des Scheiterns der spanischen Republik und des Front Populaire zu wappnen, vielleicht in düsterer Vorahnung der Grausamkeiten, die erst noch bevorstehen sollten? Allerdings hatten schon zuvor die Worte, die er schreiben sollte, Éluards Welt betreten. Er fand sie selbst in einem Buch, dem Albert Béguins – Die romantische Seele und der Traum. Versuch über die deutsche Romantik und die französische Poesie. In diesem Buch taucht besagter Satz „auf in dem Kapitel, das einer ziemlich vergessenen Figur der Romantik gewidmet ist: dem Schweizer Naturphilosophen, Arzt und Politiker Ignaz-Vitalis Troxler.“ Dort lautet er: „Freilich gibt es eine andere Welt, aber sie ist in dieser, und um alle Vollkommenheit zu erreichen, muß sie nur recht entdeckt und bekannt werden. Der Mensch muss den künftigen Zustand in der Gegenwart suchen, und den Himmel nicht über der Erde, sondern in sich.“ (8) Erst die Reise des Satzes hatte gezeigt, was er bewirken kann. Hätte Murnane nicht White zitiert, der wiederum Éluard, der wiederum Béguin, der wiederum Troxler zitiert, wäre dann Troxlers Satz noch für uns von Bedeutung?


(1) Gerald Murnane: Inland. Berlin 2022. S. 162–165
(2) Ulrich Grober: Eine andere Welt ist möglich. Die tiefen Wurzeln einer aktuellen Parole. Essay, SWR 2,10. Februar 2020. Online unter >>
(3) Tanja Busse und Christiane Grefe: Der Grund allen Wollstands. Warum die Bodenpolitik neu gedacht werden muss. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, 3’24, S. 105–112, hier S. 105
(4) Dirk Löhr: Die Wut der Bauern, 14 Januar 2024, online unter >>>
(5) „Der nur von schönen Dingen umgebene Mensch macht den Eindruck der Äußerlichkeit. Ich sehne mich nach Geschmacklosigkeiten.“ Josef Frank: Vom neuen Stil. In: Kristina Hartmann (Hg.): trotzdem modern. Die wichtigsten Texte zur Architektur in Deutschland von 1919–1933, bauwelt Fundamente 99, Braunschweig/Wiesbaden, 1994, S. 166–173, hier: S. 170.
Eva Kuß: Hermann Czech. Architekt in Wien, Park Books, Zürich, 2018, S. 35 f.
(6) Sandra Meireis: Mikro-Utopien der Architektur. Das utopische Moment architektonischer Minimaltechniken. Transcript Verlag, Bielefeld, 2020
(7) wie (1)
(8) wie (2)