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Foto: Volker Haefele
In dicht besiedelten Städten sind echte Freiräume rar geworden. Freiräume werden seit den 1990er Jahren in der Stadtplanung als heterogene Kulturlandschaften gesehen, dazu gehören auch produktive Freiflächen, die landwirtschaftlich und gartenbaulich genutzt werden und verbleibende mehr oder weniger absichtslose Grünstrukturen, wie Brachflächen. Ein Beispiel für die besondere Qualität solcher Freiräume ist der Stadtacker in Stuttgart.

Die für städtische Freiräume typischen Eigenschaften1 finden sich in komprimierter Form auf dem Stadtacker Wagenhallen in Stuttgart, der beim Architekturfestival „72-Hours-Urban-Action“ im Sommer 2012 entstanden und in den letzten sieben Jahren stetig gewachsen ist. Der Stadtacker wurde zunächst von einer selbst organisierten Initiative getragen. 2015 wurde daraus der Verein Stadtacker/Wagenhallen e.V. Die wachsende Zahl der Interessierten, Vereinsmitglieder und zahlreiche Preise zeugen von der wachsenden Popularität des Projektes. Heute ackern über hundert Personen auf dem etwa 4000 Quadratmeter großen Gelände zwischen der Container-City, den Wohn-Containern der Stuttgart-21-Bauarbeiter*innen und dem Pragfriedhof. Sie kommen ungefähr je zur Hälfte aus der näheren Umgebung und den umliegenden Stuttgarter Stadtteilen.

Naturerlebnisraum

 

Ich habe solche Freiräume in den 70er Jahren erlebt. Als Kinder spielten wir ungestört auf Baustellen, in Gärten, in aufgelassenen Steinbrüchen oder Lehmgruben, bauten uns Erdhöhlen und ähnliches.

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Freiräume für alle Altersgruppen in Stuttgarts Urban Gardening Projekt Stadtacker. (Bild: Stadtacker-Bild-Archiv)

Heute sind solche Orte weitgehend verschwunden und mitunter lieblos angelegten Parks oder öden Spielplätzen gewichen. Rudi Hettich, ein Waldkindergartenpionier, beschreibt, warum sie keinen Ersatz für einen direkten Naturkontakt bieten: „Ein Kind kann seinen elementaren Bewegungsdrang (in der Natur) grenzenlos ausleben, sich motorisch frei entfalten (…). Und wenn man berücksichtigt, dass mehr als 1000 Muskeln entwickelt sein müssen, um das Sprechen zu beherrschen, nimmt die Rolle der Bewegung in der Sprachentwicklung eines Kindes einen hohen Stellenwert ein.“ 2

Aber auch die Kreativität, soziale und praktische Intelligenz, das eigenleibliche Spüren und die Selbstwirksamkeit werden im elementaren Spiel in der Natur gefördert. Auf dem Stadtacker bilden die Trauerweide, die Schaukel, Hecken und eine freie Fläche solche Orte, die gerne von Kindern und Jugendlichen aufgesucht werden, weil sie dort nicht unter permanenter Aufsicht sind und in Ruhe spielen dürfen, ohne verjagt zu werden.

Gärtnern als Erfahrung von Stoffwechselprozessen

Nicht nur ein kognitiver Lernprozess wird damit gefördert, sondern auch ein ästhetischer, wenn wir diesen Begriff nicht als das bloß (Kunst)schöne verstehen, sondern als Sinnenbewusstsein: „Die Geschichte eines Stoffes, von Holz, Stein, Eisen oder Wasser, wird ästhetisch greifbar ebenso wie eine Lebensgeschichte in unserem Leib“, schreibt Rudolf zur Lippe.3 Und gerade unsere Leibes- und Sinneserfahrung zeigt, dass wir nicht alles unter Kontrolle halten und uns permanent selbst optimieren können, dass unser Körper mitunter rebelliert, seine Bedürfnisse einfordert oder dem Zerfall geweiht ist. Die Natur wird zum Spiegel unserer eigenen inneren Natur: „Natur ist nicht effizient. Sie ist verschwenderisch, schlampig, vergesslich, verträumt, planlos – und hochredundant, was sich vor allem darin verkörpert, dass ihre Produkte und Teilnehmer (wie auch wir) in enormem Maße essbar und ohne Abfall wiederverwertbar sind“, so der Biologe und Philosoph Andreas Weber.4

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Das Wuchern ist weniger zufällig und unkontrolliert, als es den Anschein hat. (Bild: Christian Holl)

Deshalb werden so genannte Urban-Gardening-Projekte nicht gänzlich dem zufälligen Wuchern überlassen, auch wenn es von außen manchmal so erscheinen mag. Kontrollierte Eingriffe sind notwendig, um die Artenvielfalt zu erhalten und eine gewisse Ernte zu ermöglichen. Einer der Stadtacker-Gärtner meint, es entstehe eine Ehrfurcht vor der gärtnerischen Arbeit, weil sie Zeit, Geduld und einen langen Atem braucht und mitunter hohe Frustrationstoleranz erfordert. „Wir lernen Lebensmittel wieder zu schätzen“, meint ein anderer. Es ist das, was der Sozialphilosoph Harmut Rosa als „Unverfügbarkeit“ bezeichnet.5 Denn die Natur lehrt uns mitunter, dass wir Dinge nicht erzwingen können. Und beobachtet man das Lächeln und die leuchtenden Augen der Kinder bei einem Sinneserlebnisspaziergang über das Gelände, dann wird ein Resonanzraum geöffnet, in dem die Pflanzen und Tiere zu den Kindern zu sprechen scheinen. Es gibt nie Stillstand und Langeweile, unendliches Wachstum – nicht im Sinne einer reduktionistischen ökonomischen Vorstellung, sondern Wachstum im konstanten Wechsel von Um- und Neugestaltung.

Stadtacker und Container-City


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Die Rosensteinalm der Künstlerin Gabriela Oberkofler war bis vor kurzem temporärer Bauernhof und Atelier zugleich. Die Künstlerin hat die Alm inzwischen abgegeben (Bild: Christian Holl)

Die Mischstruktur aus selbst überlassener Wildnis-, Brach- und Kulturlandschaft wurde etwas beschnitten, als die ansässigen Künstler*innen aus den sanierungsbedürftigen Wagenhallen ausziehen mussten. Dafür entstand etwas Neues: die Container-City. Zwar mögen die mitunter wild verstreuten Kunstwerke, Gegenstände und die Container für den Laien eher als öffentlicher Raum für Messis wirken. Und doch lässt die dorfähnlich-kleinräumliche Struktur, in der Handwerk, Kunst, Foodsharing, Ökostromproduktion, die Rosensteinalm, experimentelle Landwirtschaft, kleine Clubs und Kulturevents, architektonische Experimente eine Ahnung davon entstehen lassen, wie eine Stadt der Zukunft aussehen könnte, in der sich die Akteure selbstverwaltet organisieren. Ein kleinräumiger überschaubarer Stadtteil, in denen Nachbarschaften und eine neue Form der Urbanität entsteht, ohne Autos, mit Fahr-, Lastenrädern und Carsharing. Die Container-City zeigt, wie eine Stadt der oft beschworenen kurzen Wege entstehen könnte, durchwirkt mit kleinteiligen selbstversorgenden landwirtschaftlichen Flächen und vernetzt mit dem Stadtacker als landwirtschaftliche Fläche. (Wie sich die im Moment auf dem Areal agierenden Initiativen und Bündnisse die Zukunft ihres Quartiers vorstellen, haben sie in einem Konzept zusammengefasst.)

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Parkplätze statt Gärten. (Bild: Volker Haefele)

Die neuen, umliegenden Gebäude wirken hingegen wie planlos hingeklatschte Ufos, und selbst die neue Wagenhallen-Mehrzweckhalle im Vintage-Style müsste besser integriert werden, da sie noch wie ein Fremdkörper wirkt. (Siehe Die Aura, der Ort und ein Dilemma.)

Eine seit langem ansässige Künstlerin meinte allerdings, „wir werden uns die Halle wieder aneignen“, und so kann man gespannt sein, ob sich das Gebäude wieder in einen kreativen öffentlichen Platz verwandeln wird, in dem sich Künstler*innen und neugierige Öffentlichkeit begegnen können. Wertvolle Flächen wurden allerdings schon zu Parkplätzen versiegelt. Nicht auszudenken, wie es aussehen würde, wenn auf dem Gelände, wie von der Stadt Stuttgart derzeit geplant, eine Interimsoper entsteht. (Siehe Die Kultur des Gehörntwerdens.)

Bricolage und Do it yourself

Das amorphe und unfertig wirkende Raumgefüge lädt nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene zu freiem Spiel ein. Es entstanden in Gemeinschaftsarbeit Pallettenmöbel für ein informelles Kulturevent, die von Kindern und Jugendlichen aus dem Viertel zu kleinen Lagern und Unterschlüpfen umgebaut wurden. Sie wurden aufgrund der labilen Konstruktion wieder abgebaut, das führte jedoch zu Neuschöpfungen: Alte Stühle wurden restauriert, teilweise auf die Paletten aufgepropft, sie dienen nun als Gartenmöbel. Diese Kultur der Resteverwertung oder Bricolage (Claude-Levi Strauss) ist charakteristisch für Projekte dieser Art, sie finden sich fast überall in Urban-Gardening-Projekten. Es wird dort nicht nur gegärtnert, sondern auch gebaut und eine Do-it-your-self-Kultur gepflegt.

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Tauschbörse für Sämereien. (Bild: Stadtacker-Bild-Archiv)

Sowohl im individuellen Engagement als auch im kooperativen Tun gedeiht praktische Intelligenz. Es entfalten sich kreative Potenziale, beim gemeinsamen Arbeiten wachsen Gemeinsinn und Gemeinwohl. Tugenden, die in einer von neoliberalen Ideologien gespaltenen Gesellschaft eine Alternative bilden und das neoliberale Mantra „There is no such thing as society“ (Margret Thatcher) Lügen straft.

„Wenn Kommunen (…) aufhören, diesen sozialen Lernraum bewusst zu gestalten, verliert die betreffende Gemeinschaft das psychoemotionale Band, das ihre Mitglieder zusammenhält. Solche Gesellschaften beginnen dann gewissermaßen von innen heraus zu zerfallen.“ schreibt der Neurologe Gerald Hüther.6 Denn Gesellschaft muss, wie Demokratie, immer wieder errungen werden und wie eine Pflanze gedüngt und vor der Austrocknung bewahrt werden. „Unser Gehirn ist ein sozial geformtes Konstrukt. Die dort entwickelten neuronalen Netzwerke und synaptischen Verschaltungsmuster sind in dieser jeweils individuell besonderen Weise nur deshalb entstanden, weil es andere Menschen gab, mit denen wir in Beziehung getreten sind, und weil die dabei gemachten Beziehungserfahrungen in Form bestimmter neuronaler und synaptischer Beziehungsmuster in unserem Gehirn verankert worden sind“7, so Gerald Hüther. „Eben deshalb sind Urban-Gardening-Projekte ein Modell für die ganze Gesellschaft ein Modell der Ökologie, aber auch der Demokratie“ wie es Dietrich Heissenbüttel schreibt.8

Commons, die Kultur des Teilens und der Raum


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Pioniere aus der frühen Phase des Projekts. (Bild: Stadtacker-Bild-Archiv)

Einer der Ackeristen bestätigt dieses wichtige relationale Moment solcher Projekte. In ihnen bringen Menschen ihr kulturelles Gepäck aus anderen (Garten-)Kulturen, die sich gegenseitig stärken können. „Gemeinsame Absichten und Werte sind das Herzblut eines jeden Commons. Ohne sie schwinden Zusammenhalt und Lebendigkeit. Doch können gemeinsame Werte und Absichten nicht vorausgesetzt werde. Sie entstehen, wenn Menschen aus eigenem Antrieb, aus Interesse und Leidenschaft heraus, etwas tun, was sie miteinander verbindet oder ihnen vergleichbare Erfahrungen ermöglicht. Ein Commons beginnt also nicht zwingend mit gemeinsamen Absichten und Werten. Sie müssen im Lauf der Zeit erarbeitet werden, im Ringen darum, vielfältige Perspektiven abzustimmen, wenn notwendig in Einklang zu bringen oder auch nebeneinander stehen zu lassen.“9 Einer der Stadtacker-Gärtner begreift das Tun auf dem Stadtacker als ein Spiel im Sinne von Gregory Bateson10 , der in einem seiner Metaloge Play und Game unterscheidet. Play meint dabei das freie Spiel der Kräfte: dynamisch, schöpferisch, wachsen und sein lassen – Wildnis. Game hingegen stehe für Begrenzung, Werkzeug und Spiel mit klaren Regeln – Gärtnern, kultivieren, Einfluss auf die Natur nehmen.

In den mit Akteur*innen geführten Gesprächen fielen oft die Begriffe Heimat und Utopie. So seien zu guter Letzt noch die Schlusssätze aus dem Hauptwerk von Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung zitiert: „Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor Erschaffung der Welt, als einer rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“ 11


Weitere Information unter https://www.stadtacker.de/

1 Giseke, Undine: Und auf einmal ist Platz. Freie Räume und beiläufige Landschaft in der gelichteten Stadt. In: Giseke, Undine, Spiegel, Erika (Hg.): Stadtlichtungen. Irritationen, Perspektiven, Strategien. Basel 2007, S. 187–217.
Gieseke betont auch die akteursbasierte und situativ orientierte Raumproduktion, die mitunter eine Herausfordung an die Stadtplanung darstellt.
Dazu auch Kumnig, Sarah, Rosol, Marit, Exner Andreas (Hg.): Umkämpftes Grün. Zwischen neoliberaler Stadtentwicklung und Stadtgestaltung von unten. Bielefeld 2017, und Halder, Severin et al (Hg.): Wissen wuchern lassen: AG Spak. 2001
Zur Interdisziplinarität und zum Verschwimmen von Disziplinargrenzen in der Stadtplanung siehe Meinhardt, Erik: GartenstadtLandschaft, in: Dérive. Zeitschrift für Stadtforschung: Understanding Stadtforschung. Wien 2010, S. 135–136
2 siehe http://bvnw.de/wp-content/uploads/2012/02/Was-Kinder-heute-wirklich-brauchen.pdf.
Rudi Hettich ist Waldkindergartenpionier und Betreiber einer Naturpädagogikschule, bei der der Autor eine Weiterbildung zum Naturlehrer besuchte.
3 Zur Lippe, Rudolf: Sinnenbewusstsein. Grundlagen einer anthropologischen Ästhetik. Reinbek bei Hamburg 1987, S. 35
4 Weber, Andreas: Enlivement. Eine Kultur des Lebens. Ein Versuch einer Poetik für das Anthropozän. Berlin 2016, S. 36–37
5 Rosa, Hartmut: Unverfügbarkeit. Wien/Salzburg 2018
6 Hüther, Gerald: Kommunale Intelligenz. Potentialentfaltung in Städten und Gemeinden. Hamburg 2013, S. 15
7 Hüther, Gerald: Kommunale Intelligenz. Potentialentfaltung in Städten und Gemeinden. Hamburg 2013, S. 13
8 siehe https://www.kontextwochenzeitung.de/schaubuehne/433/vertreibung-aus-dem-paradies-6061.html
9 Helfrich, Silke/Bollier, David: Frei, Fair und Lebendig. Die Macht der Commons. Bielefeld 2019, S. 99
10 Bateson, Gregory: Ökologie des Geistes. Frankfurt a.M. 1981, S. 45 ff.
11 Ernst Bloch, das Prinzip Hoffnung, Dritter Band, Frankfurt am Main 1959/1980, S. 1628