In letzter Zeit werden die Stimmen deutlicher vernehmbar, die darauf hinweisen, wie stark unser Handeln in ein komplexes Beziehungsgeflecht eingebettet ist. Sich der eigenen Verstrickungen bewusst zu werden, eröffnet nicht nur den Zugang zu einem neuen Weltverhältnis. Es öffnet auch einen anderen Blick auf Bewohnbarkeit, Wohnen und Wohnungspolitik, die in ihrer aktuellen Form nur die Defizite befeuert, die zu beheben sie behauptet.
„Städtebau.Positionen“ (12) | Die Serie versteht sich als öffnender Beitrag zum Diskurs über Stadt, als Panorama der städtischen Vielfalt und Themen, mit denen umzugehen wir herausgefordert sind.
„… what can be studied is always a relationship or an infinite regress of relationships. Never a ,thing‘.“(1)
Immer wieder wird die Relation zweier Zahlen herangezogen, um eine einschneidende Veränderung zu markieren, eine, die gar ein neues ‚Zeitalter der Städte‘ (2) beschwört: Seit Beginn des neuen Jahrtausends leben mehr Menschen in den Städten als je zuvor. Was den Menschen mit der Aussicht auf Arbeit und Bildung ein besseres Leben verspricht, stellt Städte vor die Herausforderung, mit dem unaufhaltsamen und unkontrollierten Zuzug Schritt zu halten. Städtisches Leben für die Zukunft gestalten und formen zu können, wird in diesem Problemaufriss den „sehr wirkungsvollen Möglichkeiten“ der Stadtplanung zugeschrieben, wie dies durch eine „Vielzahl erfolgreicher Städteplanungen oder Projekte“ belegt sei. (3)
Von der Stadt zum Städtischen
Das Narrativ ist nicht neu. Es folgt einer externalisierten Sichtweise auf Stadt, die sie als objekthaft begreift, liefert gängige Beschreibungen der Probleme von Stadt und impliziert ebenso gängige Bewältigungsstrategien, die sich auf Expertenwissen und Erfahrung verlassen. Was in solch generalisierender Betrachtung außer Acht bleiben muss, sind die spezifischen Bedingungen und Wirkungen von Raum- und Stadtproduktion durch ihre Akteure in den jeweiligen lokalen Kontexten.
Zudem wäre zu fragen, ob das Versprechen auf eine bessere Zukunft, das Gegenwart als problematisch diskreditiert und sich auf die Vergangenheit je nach Perspektive als gutes oder schlechtes Beispiel bezieht, nicht immer schon problematisch war. Wenn darüber hinaus Zukunft einem spezifischen Konzept – Stadt – zugeschrieben wird, ließe sich weiter fragen, was dieses miteinschließt – und was es als nicht zugehörig ausschließt. In dieser Gegenüberstellung eines ‚Drinnen‘ (der Städte und Metropolen) und eines (nicht näher bezeichneten) ‚Draußen‘, wäre also zu fragen, wie dieses ‚Andere‘ beschaffen ist und welcher Art die Wechselbeziehungen mit dem ‚Drinnen‘ sind.
Doch gehen wir einen Schritt zurück, um uns die Entwicklungsbedingungen in Erinnerung zu rufen, die mit der Marke eines ‚Urban Age‘ nun ihre Apotheose erfahren sollen. Es ist Henri Lefebvre Verdienst, die historische Entwicklung der Industriestadt zum Gegenstand seiner Analyse gemacht zu haben, aus der er seine Hypothese zur vollständigen Verstädterung der Gesellschaft ableitet. Mit seiner Arbeit suchte er die Lücke des historischen Materialismus im Hinblick auf die Stadt und das Städtische zu bearbeiten. Die Schriften von Marx und Engels sind ihm die Grundlage, auf der er die Wirkungsgefüge kapitalistischer Stadtproduktion zu entschlüsseln suchte – jenen historischen Prozess also, der durch die Zentralisierung von Kapital, Infrastruktur und Menschen zur allmählichen Verstädterung führen sollte.
Die Umsetzungsprozesse der massiven Stadtumgestaltungs- und -erweiterungspläne, etwa Haussmanns Paris, Cerdas Barcelona oder Hobrechts Berlin, wirken vor diesem Hintergrund wie Screenshots eines komplexen Plots. Lefebvre versucht, sie in ihrem Ausmaß und ihrer Gewalt mit der Metapher ‚Implosion – Explosion‘ zu fassen: die ungeheure Verdichtung und Konzentration von „Menschen, Tätigkeiten Reichtümern, von Dingen und Gegenständen, Geräten, Mitteln und Gedanken“ (4) und das gleichzeitige Auseinanderbersten und Ausstreuen unzähliger Fragmente in ihren je eigenen Formen, Funktionen, Strukturen an die Ränder, in die Vororte, Satellitenstädte und darüber hinaus.
Kritische Zone(n)
Auf Lefebvres Zeitachse der Entwicklungsstufen der Stadt markiert die ‚kritische Zone‘ deren (vorläufigen?) Endpunkt. Diese kritische Zone ist uns erfahrbare Wirklichkeit geworden: Sie umfasst ein schier undurchdringliches Geflecht städtischer- und nichtstädtischer Räume und Infrastrukturen, natürlicher und künstlich überformter Gebiete und Gewässer, sie reicht bis zu den Weltmeeren und in die Atmosphäre. Der ihr zugrunde liegende urbane Industriekapitalismus greift so weit, dass sich nichts und niemand auf der Erde außerhalb seines Einflussbereichs befinden sollte (5) – das zeigen die Kollateralschäden mit ihren unfassbaren Verwüstungen, hervorgegangen aus dem ungehemmtem Raubbau an Ressourcen, der Entsorgung von Abfällen, den Konflikte in den Verteilungskämpfen und den sozialen Verwerfungen, dem Klimawandel und den Migrations- und Fluchtbewegungen.Folgen wir seiner Argumentation, so kann die enge Verflechtung von Industrialisierung und Verstädterung mit ihren politisch-ökonomischen und sozial-ökologischen Beziehungen in letzter Konsequenz nur in einen Zustand des Kritischwerdens führen, dessen vorrangiges Problem die Natur sein würde. Deren ,Elemente‘ seien von der Vernichtung bedroht, wenn um des Jahr 2000 Luft und Wasser derart verschmutzt sein würde, dass das Leben auf der Erde prekär geworden sein wird. (6)
‚Kritische Zone‘ ist heute der Begriff, unter dem sich Wissenschaftler:innen unterschiedlichster Disziplinen jener nur wenigen Kilometer dünnen Schicht widmen, die den Planeten umgibt, in der wir leben, und die schon immer einem stetigem, durch das Leben bedingten Wandel unterlag. Sie erforschen die komplexen Vorgänge, die ihrer Funktionsweise zugrunde liegen, und die in einer Weise kritisch geworden sind, dass fraglich ist „ob das Leben auf der Erde überhaupt weiterbestehen kann“. (7) Auch wenn wir zu ahnen beginnen, dass es sich bei den Krisen unserer Zeit nicht etwa um unverbundene Ereignisse, sondern, „um ein und dieselbe Kettenreaktion handelt, deren Ursprung in der Reaktion der ‚ERDE‘ auf unsere Unternehmungen liegt“, (8) so haben wir kaum eine Vorstellung davon, wie wir mit dieser kritischen Situation umgehen sollen.
Raum des Behälters, der Relationen – Gefüge
Ist es in unserem Sprachgebrauch selbstverständlich, sich in einem Raum zu verorten, in dem wir sagen, man lebe auf der Erde, in der Stadt oder in der Natur/auf dem Land, so wird die Selbstverortung und -vergewisserung auf vorgefundenem Terrain, in einem als ‚gegeben‘ vorausgesetzten Rahmen westlicher Ordnungsmuster selbst prekär. Der externalisierende Blick auf Welt – Natur – Stadt – Gesellschaft verwehrt uns die Wahrnehmung und Erfahrung eines sozial produzierten Lebensumfeldes in seinen Wirkungen. Die binäre Betrachtung (Mensch vs. Natur, Natur vs. Kultur, Stadt vs. Land, Natur- vs. Geisteswissenschaften, Theorie vs. Praxis) schließlich findet ihre Ursache in einer „hetero-patriarchalen kapitalistischen, kolonialen Moderne“ (9), die sich als „one-world world“ (10) das Recht anmaßte, die Welt zu sein, und alle anderen Welten ihren eigenen Bedingungen oder, schlimmer noch, der Nichtexistenz zu unterwerfen.(11) Als problematisch erscheint insofern nicht alleine die Störung der welterzeugenden und -erhaltenden Gefüge durch uns Menschen, als vielmehr die Weise, wie wir uns innerhalb derer selbst verorten.
Es scheint, als geriete unser Betriebssystem an seine Grenzen. Immer neue Cracks und Patches sind notwendig, um es am Laufen zu halten und uns davon abzuhalten, zu erkennen, wie heillos verstrickt in dieses Wirkungsgefüge aus „unzähligen unfertigen Konfigurationen aus Orten, Zeiten, Materien, Bedeutungen“(12) wir sind. Dabei wird es von einem Zusammenspiel in diesem Geflecht abhängen, ob und wie ein friedliches Zusammenleben auf der Erde möglich sein wird. Die Biologin und Wissenschaftsphilosophin Donna Haraway beschreibt die Aufgabe darin, „sich entlang erfinderischer Verbindungslinien verwandt zu machen und eine Praxis des Lernens zu entwickeln, die es uns ermöglicht, in einer dichten Gegenwart und miteinander gut zu leben und zu sterben“.(13) Die anthropo-, euro-, selbst-, andro-zentrische Perspektive eines In-der-Welt-Seins alleine scheint dafür nicht mehr hinreichend. Notwendig erscheint es, sie im Sinne eines in-Beziehung-Seins zu erweitern, das unser Wohnverständnis als relationale Praxis neu zentriert, und dabei Aspekte der Fürsorge, der Pflege und des Erhalts der Bindungen einbezieht, die essenziell für die Gemeinschaften, sind und die sich nicht alleine auf die Beziehungen zwischen Menschen beschränken.
Die Verkürzung dieser Krise der Bewohnbarkeit auf eine ‚Wohnungskrise‘ lässt nicht nur ihre wahren Ursachen außer Acht.(14) Die Vorstellung, sie alleine durch regulierende Maßnahmen im Verbund mit dem Neubau von Wohnungen lösen zu können, um damit den explodierenden Mietkosten entgegenzuwirken, droht das Problem sogar noch weiter zu verschärfen. Belegt durch Studien und Gutachten, wird der Bedarf bis 2030 mit einer Million Wohnungen beziffert,(15) während im gleichen Zeitraum ein Anstieg des Leerstands auf drei Millionen Wohnungen erwartet wird.(16) Dabei bringt die expansive Bautätigkeit nicht nur die Städte in die Bedrängnis, immer neue Flächen als Bauland ausweisen zu müssen, sie sorgt auch für eine weiterhin immense Flächenversiegelung und den fortgesetzten Verbrauch endlicher Ressourcen.
Be-Wohnen
Mit der (Re-)Produktion der immer gleichen, marktgängigen Wohnmodelle von Drei- und Vierzimmerwohnungen wird weiterhin deren Fehlnutzung in Kauf genommen, die schon im Bestand eine Ursache für den weiterhin steigenden individuellen Wohnflächenverbrauch ist. Im Bestand beträgt ihr Anteil etwa 60 und im Neubau immer noch 50 Prozent. Dem steht etwa in Hamburg die Zahl von 80 Prozent Ein-und Zweipersonenhaushalten gegenüber. Die klassische Kernfamilie aus Ehepaar mit Kindern unter 18 Jahren, der diese Wohnform zugedacht ist, macht in Hamburg gerade noch zwölf Prozent aller Haushalte aus. Die Auswirkungen einer Wohnungsmarktpolitik, die sich in den Koordinaten ‚Staat‘ und ‚Markt‘ auf numerische Zielmarken beschränkt, zeigen sich unmittelbar: Während ein Teil der Mieter:innen an den Rand der Städte gedrängt wird und sich trotzdem die Anzahl der benötigten Zimmer nicht leisten kann, ist auf der anderen Seite eine Unternutzung durch weniger Personen zu verzeichnen, was nur jenen zugute kommt, die sich diesen Luxus als Doppel- oder Spitzenverdiener:innen leisten können. So geraten diejenigen, die mangels Angebot nichts Angemessenes finden können, in eine prekäre Lebenssituation, in der sie weit mehr als den als annehmbar definierten Anteil von 30 Prozent des Nettohaushaltseinkommens für das Wohnen aufbringen müssen.(17) Aber in diesem neoliberal transformierten Wohnsystem widersetzt sich die Wohnung der Aneignung, das Wohnen stellt sich zunehmend prekär dar, so dass auch die grundlegenden Prozesse der sozialen Reproduktion und die damit verbundenen Netzwerke der Fürsorge und Unterstützung bedroht werden, die zudem die Voraussetzung für alle formellen und wirtschaftlichen Aktivitäten sind. Im Ergebnis heißt das, dass die Städte ihre eigenen Grundlagen kannibalisieren.(18) Was das Streben nach immer mehr Wohnungsneubau im Ergebnis also erzeugt, ist nicht die Lösung der Wohnungsfrage, sondern die Ausweitung der Krise der sozialen Reproduktion, die, wie Nancy Fraser überzeugend darlegt, als Krise der Fürsorge genauso ernst und systemisch ist, wie die oben festgestellte ökologische Krise, mit der sie verflochten ist. (19)
Es erscheint wenig zielführend, die Frage des Bewohnens auf die Wohnung oder eine Wohnungsmarktpolitik zu reduzieren, die einzig quantitative, funktionale oder formale Kriterien in den Blick nimmt. Eine „Politik der Bewohnbarkeit“(20) gründet vielmehr auf einer Anerkennung des Bewohnens als heterogenes Ensemble im Sinne eines komplex ineinander verwobenen Netzwerkes ökonomischer, ökologischer, politischer, rechtlicher Elemente, wie sie sich in ihrer Verbindung durch die Aneignung und den Gebrauch der Bewohner:innen in ihren täglichen Routinen, Arbeitspraktiken und Spielformen (21) materialisieren. In seiner Kontingenz gibt die Wohnung zudem Aufschluss auf die Konventionen, Geschlechterhierarchien und Machtkonstellationen, was sie zu einem genuin politischen Ort machen, worauf insbesondere die Vertreter:innen des materiellen Feminismus immer wieder hingewiesen haben. (22) Worüber also auch zu sprechen wäre, ist die weiterhin unbeantwortete Frage, wie all das verfügbare Wohnwissen und die alltäglich gelebten Praktiken auf den ‚Container‘ der Wohnung zurückwirken, sich materialisieren und sich einer neuen Sozialität des Bewohnens öffnen, die auf Fürsorge und Erhalt gründet und gemeinschaftlichen Luxus (23) als Ziel verfolgt.