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Ohne Zeitangabe

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Fragen zur Architektur (38) | Ging es im Teil 1 des „Epochenwechsels“ aus Anlass eines drohenden Abrisses um neue Konzepte der Denkmalpflege in transdisziplinären Zusammenhängen, so stellt sich ergänzend hier im Teil 2 die Frage, welche Revision in der Architekturgeschichtsschreibung ansteht. Auch dafür gibt es einen konkreten Anlass: Christian Freigang, Kunst- und Architekturhistoriker, initiierte an der FU Berlin eine Konferenz, in der die Disziplin selbstkritisch debattiert wurde.

Vergangenheit und Zukunft? Ein Thema für die Architekturgeschichtsschreibung oder nur für die Kritik? (Bild: Stephan Trüby)

Gegenwärtig bedrohen mehrere Faktoren das gesamte Baugeschichtswissen. Beispielsweise scheint nur noch bedingt relevant, was nicht digitalisiert und weder über Google, noch Wikipedia gefunden werden kann. So hinterlässt der enorme Wissensverlust an der Schwelle vom Analogen zum Digitalen einen fatalen Humus für fake news, also Ignoranz hoher Verbreitung, die dem Missbrauch, zumindest einer fragwürdigen Instrumentalisierung jeglicher Geschichtskenntnisse Tür und Tor öffnet. Zudem erleben wir eine verheerende Welle von willkürlichen Abrissen, denen – von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen – kulturell und wissenschaftlich nichts entgegengesetzt wird. Eine Online-Konferenz des Lehrstuhls von Christian Freigang öffnete die ihrerseits ins Wanken geratene Disziplin einem guten Diskurs.1)

Wer liest was warum? Architekturgeschichtsschreibung auf dem Prüfstand – Plakatmotiv der Konferenz an der FU Berlin.

Wer liest was warum? Architekturgeschichtsschreibung auf dem Prüfstand – Plakatmotiv der Konferenz an der FU Berlin.

Relativität der Zeit

Zunächst sei aber an Grundsätzliches erinnert, das Andreas Beyer zum fragwürdigen Konstrukt der »Geschichte« für unser Magazin 2018 erläutert hat.2) Vor allem sein Hinweis, dass Geschichte nur aus gegenwärtiger Perspektive erkenntnisträchtig sein kann, bleibt grundlegend. Zeitkategorien haben keinen ontologischen Charakter, und die von Luhmann und Koselleck erhellte Relativität der Zeit beschert uns den Kampf um Deutungshoheiten über Vergangenes, der von bisweilen absurden Thesen begleitet ist. »Geschichte«, so Andreas Beyer, komme bei seinen Studierenden nicht gut an, »Schauen im Bestand« locke über die Maßen. Nun muss man sich allerdings fragen, wie es denn mit dem Bestand aussieht: Das war Thema beim »Epochenwechsel 1«. Und führt zu den Konferenzthemen von Freigang und Beese, die mit 10 Thesen – hier sinngemäß wiedergegeben – begannen:

1. Architekturgeschichte hat keinen Platz mehr an geisteswissenschaftlichen Fakultäten.
2. Architekturgeschichte ist eine bloße Hilfswissenschaft der Kunstgeschichte. beziehungsweise ein Randbereich der Architektur.
3. Architekturgeschichte versteht zu wenig von der wirklichen Baupraxis.
4. Architekturgeschichtliche Lehre bildet nur SpezialistInnen aus, die weder in die Bildgeschichte noch ins Museum zurückkönnen. 5. Architekturgeschichte ist methodologisch unterkomplex, weil zu sehr auf veraltetem Objektbegriff anhängt.
6. Die Denominationen der meisten Architekturgeschichtsprofessuren sind altmodisch, weil sie sich zum Beispiel über Epochen definieren.
7. Architekturgeschichte hat die bildwissenschaftliche Wende verschlafen.
8. Architekturgeschichte ist zu wenig interdisziplinär. 9. Architekturgeschichte ist zu männlich, wird von weißen alten Männern betrieben.
10. Architekturgeschichte in unserem Kontext ist zu westlich/europäisch/national.

Einzelne Aspekte seien aufgegriffen, um den epochalen Wechsel der (Architektur-)Geschichtswissenschaften zu konkretisieren. Zum einen lässt sich bestätigen, dass Architekturgeschichte zu wenig in und mit anderen Disziplinen als auch in und mit einer größeren Öffentlichkeit kommuniziert. Zum anderen wird die noch immer zu enge westlich-europäische Perspektive einer seit Jahrhunderten global wirkenden Architektur-Community nicht gerecht.3) Allein diese beiden Aspekte erklären, warum Architekturgeschichte auch akademisch, im Umkreis der Geisteswissenschaften, marginalisiert wird.

Deutungshoheiten und Begehrlichkeiten: Die Potsdamer Garnisonskirche ist ein Musterbeispiel für das Zusammenwirken von Geschichte und Gegenwart. (Bild: Website Philipp Oswalt)

Deutungshoheiten und Begehrlichkeiten: Die Potsdamer Garnisonskirche ist ein Musterbeispiel für das Zusammenwirken von Geschichte und Gegenwart. (Bild: Website Philipp Oswalt)

Kommunikation

Die Digitalisierung verschafft nun auch den Architekturhistorikern Zugang zu neuen Wissensquellen und einer Kommunikation, die weit über etablierte analoge Fachpublikationen und -debatten hinausgehen könnte. Aber sie werden kaum genutzt. Dass sich Kunst- oder Architekturhistorikerinnen kraft ihres Wissens in ein aktuelles Baugeschehen einmischten und ihr Fach damit als relevant für Gegenwartsentscheidungen manifestierten, kommt so gut wie nicht vor. Typisch dagegen, dass sich aus Kreisen von Architekten beispielsweise eine Persönlichkeit wie der Kasseler Architekturtheoretiker Philipp Oswalt in heiklen Fällen wie der Potsdamer Garnisonskirche engagiert – und nicht etwa Historiker.4)

Kunst- und Architekturhistoriker überlassen gern jenen das Feld, die wie dem retroseligen Landmaschinen-Kaufmann Wilhelm von Boddien in Berlin mit dem vielfältig scheiternden, privat initiierten Humboldt-Forum nicht nur öffentliche Meinung dominieren, sondern gebaute Realität hinterlassen. Berufsvertreter wie Adrian von Buttlar, der sich vielseitig in Debatten einbringt, sind alles andere als repräsentativ. Die Liste von Beispielen, in denen die Expertise von Architekturhistorikerinnen wichtig gewesen wäre, ist lang.
Auch klafft eine Lücke dort, wo Architekturhistorikerinnen als wortgewaltige und einflussreiche Intellektuelle den Denkmalpflegern Seite springen sollten, die ihrerseits praktizierend an der Gegenwartsfront kämpfen. Intellektuelle sind es, die klar positioniert, mit einem professionellen Wissensvorsprung und deutlicher Stimme wirken können. Für alles und jedes sind Lobbyisten unterwegs; warum nur sind sich Architekturhistoriker zu schade dafür, ihnen öffentlich entgegenzutreten? Indiz für den Epochenwechsel ist, dass Intellektuelle, die noch vor wenigen Jahrzehnten das Ohr von Kanzlern und Wirtschaftsgranden hatten, kaum mehr in Erscheinung treten. Dies zu beklagen, hilft nichts. Es müssen Strategien entwickelt werden, mit denen Machenschaften der Unwissenden, bewusst falsche Fährten Legenden entgegnet werden kann.5)

John F. Kennedy in der Paulskirche am 25. Juni 1963 (Pressebild DAM)

John F. Kennedy in der Paulskirche am 25. Juni 1963 (Pressebild DAM)

Grenzen der Disziplin

Daneben ist zu beobachten, dass sich (architektur-)fachfremde Unternehmer, Politikerinnen und Publizisten völlig unerschrocken und mit erstaunlicher Ignoranz in Sachen Architektur oder Stadtentwicklung lautstark zu Wort melden. An Benedikt Erenz sei erinnert, der sich erbärmlich geschmäcklerisch zur Paulskirche äußerte.6) Dass dabei Geschichte und Gegenwart einander bedingen, lässt sich nicht vermeiden – zu glauben, als Historiker wolle man sich nicht zu Gegenwärtigem äußern, halte ich für falsch. Wenn die Deutungshoheit dermaßen beliebig an sich gerissen wird, ist Einmischung sogar geboten.

Tun sich Architektur- und Kunsthistoriker bereits schwer damit, die jeweils anderen (akademischen) Terrains zu betreten oder betreten zu lassen7), kann sich niemand wundern, dass die Rolle dieser Disziplinen in einem gesamtgesellschaftlichen Diskurs inzwischen marginal ist. Die Zukunft eines Gebäudes wie der Frankfurter Paulskirche könnte eine Bewährungsprobe für Architekturhistoriker und Wissenschaftler jüngerer Zeitgeschichte werden.

Wie weiter?

Befördert durch die rasante Veränderung der Öffentlichkeiten mit Internet und sogenannten Social Medias bleibt insgesamt ein Niveau auf der Strecke, auf dem öffentliche Debatten eine nennenswerte Bereicherung für öffentliche Entscheidungsprozesse sind. Was in der Corona-Pandemie mit neuartigem Imponier- und sogar Protestgehabe von Unwissenden zutage tritt, ist ein Phänomen, das sich eben in vielen Wissensbereichen der Gesellschaft schon längst verbreitet und den Rückzug von Wissenschaftlerinnen bewirkt hat. Architekturwissenschaftler könnten viel deutlicher in Erscheinung treten – wie Christian Drosten angefeindet zu werden, müssen sie nicht fürchten.

Die Konferenz an der FU Berlin war ein guter Anfang – nur fragt man sich, wie es jetzt weitergeht. An konkreten Fällen ließe sich womöglich am schnellsten und besten klarmachen, wo jene – gerade in demokratischen Prozessen – in die Schranken gewiesen werden müssen, die im wahrsten Sinne des Wortes dummes Zeug in die Welt bringen.


1)  Christian Freigang, Christiane Beese (Veranstalter): Architekturgeschichtliches Kolloquium. Architekturgeschichte als Disziplin – Methoden, Didaktik, Perspektiven. FU Berlin, 9. Juli 2021, online-Format. Impulsreferate Impulsreferate von Ute Engel, Andreas Huth, Carola Jäggi, Cornelia Jöchner und Klaus Jan Philipp
(https://www.geschkult.fu-berlin.de/e/khi/institut/veranstaltungen/veranstaltungen/architekturkolloquium3.html)

2)  Andreas Beyer: Wann beginnt Geschichte? In: Marlowes.de, 1. Mai 2018 (https://www.marlowes.de/wann-beginnt-geschichte/)

3) Sebastian Fitzner: Round-Table: Die Ubiquität der Architektur. Positionen der
Kunstgeschichte. Bericht zum Round table am 12.7.2013. In: Kunsttexte 1.2014

5) Instrumentalisierung von Geschichte beziehungsweise geschichtlichen Ereignissen ist so alt wie die Menschheit, aber gerade deswegen stets zu hinterfragen.

7) siehe dazu Stefan Schweizer und Jörg Stabenow (Hrsg.): Bauen als und Kunst historische Praxis. Architektur und Stadtraum im Gespräch zwischen Kunstgeschichte und Geschichtswissenschaft. Göttingen 2006; Susanne Hauser und Julia Weber (Hrsg.): Architektur in transdisziplinärer Perspektive. Bielefeld 2015