Fragen zur Architektur (38) | Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft: Wenn es doch so einfach wäre, menschliches Denken und Handeln und ihre Folgen in Korrelation zur Zeit zu setzen. Eingeschränkt auf die Weltveränderung durch das Bauen erhellt sich diese Korrelation immerhin in konkreten Beispielen, in denen zeitbedingte Wirkungsfaktoren eine klare Bedeutung zugewiesen bekommen. Und mit bautypischen Themen wie Denkmalpflege (Vergangenheit), Bestand (Gegenwart) und Nachhaltigkeit (Zukunft) neu verknüpft werden können. Darum geht es im folgenden – Teil 2 des „Epochenwandels“ wird sich der Revisionen der Architekturgeschichtsschreibung widmen.
Der womöglich anstehende Abriss des denkmalgeschützten Studentenwohnheims, das 1965-74 von dem Schweizer Architekturbüro atelier 5 in Stuttgart Vaihingen geplant und gebaut worden ist, veranlasste die zuständigen Denkmalpfleger kürzlich zu einer längst fälligen, gelungenen Offensive. Dazu später. Dass Denkmalschutz neubauwütige Investoren, Bauherrschaften und Genehmigungsbehörden kaum noch anficht, haben wir schon häufig thematisiert – siehe Seitenspalte. War der Denkmalschutz 1975 als hart erkämpfte Kultur- beziehungsweise Hochkultur-Schutzstrategie mit exzellenten Befugnissen und einigem Geld ausgestattet, droht er unter dem Druck der Bau(wirtschafts)politik und des Kapitals längst in der Marginalität zu versinken. Die Liste der Abrissgenehmigungen hochrangiger Zeugnisse der Architekturgeschichte wird täglich länger. Es geht an die Substanz. Und gleichzeitig lässt sich erklären, was passiert, wenn die Bauwirtschaft Hochkonjunktur hat: Dann erweisen sich Retrotendenzen als erbärmliche Strategien, um sich mit vergangener Baukultur beim Neubau zu schmücken oder durchzusetzen.1)
Umdeutungen
Inzwischen werden aber andere Wertigkeiten virulent: Ressourcenknappheit, Klimawandel, Müllverursachung und vieles mehr, was weit an den gängigen Baubewertungskriterien der Denkmalpflege vorbeigeht. Es rücken bei der Bestandsbewertung architekturgeschichtlich, denkmalpflegerisch relevante Kriterien weiter in den Hintergrund, während der Bestand an sich eine ganz andere, höhere Aufmerksamkeit bekommt: als Speicher grauer Energie, als funktional und historisch geadeltes Lager wertvoller Baustoffe; Abriss beschert zudem immense Müllmengen auf Transportwegen und Lagerplätzen. Die gelb markierten Teile im Balkendiagramm lassen die Baumülldimensionen ins Auge springen; und egal, ob sie verwertet werden oder nicht: Transportiert werden sie immer und belasten damit Umwelt und Infrastruktur.2)
Vor diesem Hintergrund sind Einflussbereiche und Entscheidungsbefugnisse neu auszuhandeln, wenn es um den vorrangigen Erhalt des Gebauten geht. Und zugleich ist festzustellen: Diese neuen, anders gearteten Bestandswertschätzungen springen der Denkmalpflege zur Seite, und so sollte Abriss zu einer absoluten Ausnahme degradiert werden. Und immer wieder wird und muss betont werden, dass Wirtschaftlichkeit vom Sockel absoluter Vorrangigkeit gestoßen werden muss.
Studentische Lebensweisen
Und nun konkret. Das büro atelier 5 hatte Mitte der 1960er Jahre ein Studentenwohnheim geplant, in dem Aspekte des modularen, strukturalistischen Bauens, des gemeinschaftlichen Wohnens und der Verzahnung mit dem Außenraum den Entwurf dominierten. Auch individuellen Bedürfnissen wurde mit Erschließung und differenzierten Grundrissen Rechnung getragen. Für diese Zeit war es Luxus, als Studentin ein wirklich eigenes Zimmer mit rund 12 Quadratmetern mit einem Waschbecken und großen Fenstern bewohnen zu dürfen. Und wie gut das im Grundsatz geht, zeigt sich noch heute, wo wir doch durchschnittlich inzwischen knapp 50 statt damals 15 Quadratmeter für jeden beanspruchen. Es gab 610 Einzelzimmer, 118 davon hatten sogar Dusche, WC und Kochnische. 492 Zimmer waren in Gruppen von je 12 Zimmern mit gemeinsamen Duschen und WCs zusammengefasst, zudem gab es 36 Wohnungen für „verheiratete Studenten“.
1997 bis 2000 ist das Ensemble bereits „pinselsaniert“ worden, einige Veränderungen der Grundrisse trugen der Tatsache Rechnung, dass Studentinnen in kleineren Gemeinschaften mit mehr Komfort leben möchten. Haus- und Energietechnik sind nach nunmehr knapp 50 Jahren robuster Nutzung allerdings marode – wen kann das wundern? Aber um so wichtiger ist eine Erkenntnis: Dass ein solches Gebäudeensemble, obwohl es jahrzehntelang nicht gepflegt und in Schuss gehalten wurde, überhaupt so gut erhalten ist, spricht einmal mehr für seine ursprüngliche Qualität, die mit einer Initiative der Stuttgarter Denkmalpflege gewürdigt wird: mit einer „ergebnisoffenen Suche nach Pfaffenhof 2.0“. Bauträgerisch zuständig ist die Vereinigung Stuttgarter Studentenwohnheime e. V. (VSSW), die keinen Hehl daraus macht, das Ganze abreißen und neu bauen zu wollen. Die VSSW beauftragte die Immobilienexperten albrings + müller ag mit einer Bestandsaufnahme, die mit der sehr fragwürdig formulierten These schloss: „Langfristig und nachhaltig gesehen, ist Abriss und Neubau die beste Option“. Mit dem Schwerpunkt auf Bautechnik lassen sich manche Argumentationen der Bestandsaufnahme nachvollziehen, dass aber beispielsweise dadurch „Attraktivität und Image“ als schlecht eingestuft werden, nicht. Dass „zukunftsorientierte Grundrissveränderungen nicht möglich“ seien, erst recht nicht. albrings + müller ag, die sich auf ihrer Website als „Immobilienspezialisten“ und als „Dienstleister mit technischer und kaufmännischer Expertise“ bezeichnen, resümierten genauer:
„Denkmalschutz verhindert den Erhalt und Erneuerung des Objektes
• Für was etwas schützen, was nicht mehr bewohnbar ist
• Funktionaler Bedarf der Nutzer sollte höheren Stellenwert haben als öffentliche Belange für Denkmalschutz.
• Bei Betrachtung der Kosten ist die nachhaltigste und langfristig sinnvollste Option der Abriss der Anlage und dann neue Bauteile
• Neubau würde qualitative und quantitative Kriterien sowie notwendige Funktionen erfüllen, die das aktuelle Objekt nicht erfüllt.“
Eine dermaßen einseitige Sicht blendet aus, dass Bauten nicht nur „Immobilien“ im Sinne bauwirtschaftlicher Produkte, sondern Architektur als Kulturleistung sind.
Abwägen
Nun waren beim Workshop aber auch Experten anderer am Bau Beteiligter dabei. Unter anderem Architekturhistoriker (Klaus Jan Philipp), erfahrene Bestandssanierer (Muck Petzet), experimentierfreudige Um- und Neubau-Architekten (Tobias Wallisser), Vertreter des Unibauamts Stuttgart und Hohenheim (Edwin Renz), der Architektenkammer (Diana Wiedemann), zudem Andreas Hofer als Chef der IBA Stuttgart und Philip Kurz von der Wüstenrot Stiftung, die beste Expertisen in der Pflege des Bestands hat3) – und andere. Dadurch kamen Argumente und Optionen, Rat- und Vorschläge aus vielen Perspektiven zusammen, die in der Gesamtschau ein klares, anderes Ergebnis aufleuchten ließen: Es kann nicht um „Alles oder Nichts“ gehen, vielmehr müssen intelligent konzipierte Anpassungsprozesse, technisch innovative Eingriffe und vieles mehr, allerdings sehr schnell in die Wege geleitet werden, um dem Rang des Studentenwohnheims in der europäischen Architekturgeschichte genauso gerecht zu werden wie den Ansprüchen der Studenten. Allerdings darf man klar fordern, dass eine Rendite von 8 Prozent nicht das Ziel des Ganzen werden darf.
Der Workshop zeigte in bester akademischer Disziplin, in respektvollem fachlichen Miteinander, was es heißt, sich sowohl technischen, als auch wirtschaftlichen und baukulturell relevanten Ansprüchen der Bausubstanz gleichzeitig zuzuwenden. Das Pfaffenhof-Studentenwohnheim zeigt aber auch, dass verantwortliche Eigentümer oder Träger jede Bausubstanz kontinuierlich und dauerhaft pflegen müssen, so dass es gar nicht so weit kommt, dass jemand an Abriss denkt. Pflege des Bestands ist in anderen Ländern wesentlich deutlicher ausgeprägt als in Deutschland.
In diesem Sinne kann man nur hoffen, dass dieser neue Weg, den die Denkmalpflege mit ihrem Workshop eingeschlagen hat, Schule macht. Stets kompetente Betroffene, Unabhängige, Entscheidungsträger, in unterschiedlichen, baukulturell relevanten Gebieten Tätige seitens der Denkmalpflege zusammenzurufen, wird in vielen Fällen ratsam sein. Mehr noch: Nicht nur bei denkmalgeschützten Bauten, sondern generell in der Auseinandersetzung mit dem gesamten Bestand sind die Initiative und die Moderation der Denkmalpflege gefragt. Es ist wohl an der Zeit, sich zumindest teilweise von der Bezeichnung „Denkmal“-Pflege zu verabschieden, weil unter den bedeutender werdenden Aspekten des Klimawandels, der Ressourcenknappheit und allgemein der Nachhaltigkeit – siehe oben – der gesamte Baubestand zu pflegen und vor überzogener Renditeerwartung zu schützen ist. Denkmalpflege zu geregeltem Bestandsschutz zu erweitern, böte immense Chancen.
So wartet man jetzt im Fall Studentenwohnheim von atelier 5 auf die nächsten Schritte sorgsamer Planung. Auch die SWS wird als Trägerin den Prozess mit seinen vielfältigen Perspektiven verantwortungsvoll für Bauwerk und Nutzer wertschätzen und nicht nur auf 8 Prozent Rendite achten.
Neue Standards
War der Bestand bis vor wenigen Jahren noch das (Bewertungs-)Hoheitsgebiet der Denkmalpflege und ansonsten Verfügungsmasse für lukrativ bauende Investoren, rabiate Verkehrsplaner oder ignorante Behörden und Privatbauherren, zeichnet sich also tatsächlich ein Epochenwechsel ab. Der gesamte Bestand muss nach weitreichenden Kriterien erneut und unter vielen Blickwinkeln betrachtet werden. In diesem ureigensten Metier von Denkmalpflegern und Architekten könnten dann Formate wie der Pfaffenhof-Workshop zum Standard werden.
1) Das gegen die Investitions- und Baupraxis erwirkte Denkmalschutzjahr 1975 ließe sich rückblickend als „bottom-up“-Erfolg werten; Hausbesetzungen lenkten vielerorts die Aufmerksamkeit auf den Bestand.
Welche Ignoranz sich im retroseligen Neubau beispielsweise von Herrschaftsarchitektur eingebürgert hat, zeigt aktuell das Humboldt-Forum im rekonstruierten Schloss in Berlin, in dem fragwürdige „Sponsoren“ mit Reliefs verewigt wurden. (http://schlossdebatte.de/)
3) Die Projektliste der Wüstenrot Stiftung setzt bei fachgerechter Sanierung Maßstäbe.
https://wuestenrot-stiftung.de/#themen=809&posttypes=&p=1