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Kirchen im Dorf lassen

 

Sankt Michael in Saarbrücken, gebaut 193 bis 1924 von Hans Herkommer (Bild: Ursula Baus)

Sankt Michael in Saarbrücken, gebaut 1913 bis 1924 von Hans Herkommer (Bild: Ursula Baus)

2337_Kirchen_1In der Kirche Sankt Michael in Saarbrücken fand Mitte September 2023 ein gut besuchtes, interdisziplinäres Kolloquium statt. Es ging unter dem Titel „Gottes Häuser“ darum, was aus den tausenden Kirchen in Deutschland werden soll, die leer stehen, umzunutzen sind, veräußert werden müssen. Zeit, um die Grauzonen zwischen Kirchenbau, Säkularisierung, Aufklärung und gegenwärtigen Glaubensinhalten zu beleuchten. Ist der Glaube für den Kirchenbau etwas anderes als eine „Funktion“?


Stopped into a church I passed along the way
Well, I got down on my knees and I pretend to pray
You know the preacher likes the cold
He knows I’m gonna stay
California dreamin‘ on such a winter’s day
(The Mamas & the Papas, California dreamin’, 1965)


Unabhängig von seiner parteilichen Verwendung ist Gregor Gysi ein überaus begabter Redner. Daran hat sich die evangelische Kirche im Lutherjahr 2017 erinnert und ihn gleich in mehreren Gemeinden zu einer Predigt im Gottesdienst eingeladen. Zu den Thesen, die Gysi von der Kanzel verkündete, gehörte das Bekenntnis: „Ich glaube zwar nicht an Gott, aber ich möchte auch keine gottlose Gesellschaft […] Ich fürchte sie sogar.“ In einer Gesellschaft müsse es eine allgemein verbindliche Moral als „Maßstab im Kopf“ geben. Der Kapitalismus könne das nicht bieten, die Kirche hingegen schon.

Zu Sakralräumen hat sich der Linken-Politiker nicht geäußert, aber sein Plädoyer lässt sich auf den Städtebau übersetzen. Auch dabei möchte man nicht auf Kirchen verzichten. Es bedarf weder tiefer Frömmigkeit, sonntäglich praktizierter Gottesdienste noch kindheitsseliger Erinnerungen, um für die architektonische Anwesenheit einer Kirche zu stimmen. Als man Le Corbusier nach der Fertigstellung seiner Wallfahrtskapelle Notre-Dame-du-Haut (Ronchamp) fragte, ob für seinen Entwurf nicht ein starker Gottglaube notwendig gewesen sei, soll er geantwortet haben: „Nein, notwendig war der Glaube an die Architektur.“ Der Bau einer Kirche hat demnach eine kulturelle Bedeutung, ohne dass man ihre sakrale Sinngebung bemühen muss. Es handelt sich offenbar um „mehr als steinerne Behälter“.

Sankt Gallus Neugalmsbüll: ein kleines neogotisches Kirchlein in Schleswig-Holstein (Bild: Ursula Baus)

Sankt Gallus, Neugalmsbüll: ein kleines neogotisches Kirchlein in Nordfriesland, 1888-91 von dem Kieler Architekt Heinrich Moldenschardt gebaut. (Bilder: Ursula Baus)

Gottes Häuser

Zunächst ist eine Kirche ein Gotteshaus. Der Begriff wird als Synonym verwendet. In Deutschland stehen ungefähr 45.000 christliche Kirchenbauten. Dazu kommen etwa 900 Synagogen, von denen aber nur noch 100 für Schabbatfeiern genutzt werden. Einige dieser Neubauten – etwa in München, Dresden und Mainz – sind von überregionaler architektonischer Bedeutung. Viele alte Gebäude, die Hitlers barbarische Zerstörung überdauert haben, werden als Museen oder Kulturhäuser betrieben. Moscheen gibt es etwa 2800, wovon die meisten als unauffällige Gebetsräume in Hinterhöfen und Gewerbegebieten fristen, schmucklos, ohne Kuppel oder Minarett. Erst Paul Böhms Zentralmoschee in Köln-Ehrenfeld hat die Bauaufgabe ins öffentliche Interesse gehoben.

Das Unsagbare bauen

Die bei uns vorherrschende Glaubenskultur beruft sich auf das am 27. Februar 380 n.Chr. von Kaiser Theodosius erlassene Edikt Cunctos populos, mit dem das Christentum zur Staatsreligion erhoben wurde. Und mit diesem Datum beginnt auch die Geschichte des christlichen Kirchenbaus. Dazu übernahm man den Typus der römischen Basilika, die als Gerichts- und Markthalle gedient hatte. Adaptiert wurde dieser Langbau mit dem höheren Mittelschiff, das durch eine Fensterzone (Obergaden) über den Pultdächern der niedrigeren Seitenschiffe belichtet wird und oft mit einer Apsis endet. Durch opulentere Elemente verlor die Basilika in der nachfolgenden Baugeschichte mit Gotik, Renaissance und Barock an Bedeutung. Gegenwärtig gibt es keine konkrete Entwurfslehre mehr für christliche Kirchen. Die beiden großen Religionen stützen sich architekturfern auf die von Jesus überlieferte Regel: „Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen“ (Matthäus 18,20).

Wozu ein Haus?

Aber so einfach ist es nicht. Wenn man sich auf die aktuelle Fachliteratur zum Kirchbau einlässt, staunt man über die religionsphilosophische Rabulistik, mit der (vor allem bei den Katholiken) die „Wesensvollzüge der Kirche“ erfahren werden sollen. Mit der Erinnerung an die mehr oder weniger routiniert bis teilnahmslos abgeleisteten Messebesuche überfordert einen der Hinweis, es gehe hier „nicht primär um die Verkündigung objektiver Wahrheiten, sondern um die ‚Vermittlung des Anrufs Gottes an die Subjektivität des Menschen‘ (Karl Rahner).“ Das Gehäuse, in dem dies alles geschehen soll, wird aus profanem Baumaterial errichtet, das jedoch eine heilige Aufwertung erfährt: „Der Altar als der mystische Christus soll der Ausgangspunkt und gestaltende Mittelpunkt des Kirchenbaus und der Kirchenausstattung sein.“ Und unabhängig, wie in der jüngeren Baugeschichte ein Raumkonzept für eine Kirche zwischen Longitudinalität und Zentralität ausgefallen ist, verliert man bei den Erläuterungen leicht den Halt, wenn theologische Tautologien zu vermitteln versuchen, wie „die wechselseitige Begegnung von Gott und Mensch durch Christus im Heiligen Geist“ in der Hl. Messe stattfindet. Entsprechend hoch ist auch bei den Protestanten die Herausforderung an „die sakrale Formensprache, die das Geheimnisvolle, Irrationale, Unfassbare in Räumen zum Erlebnis werden lässt.“

Tagung zum Thema "Gottes Häuser" in Sankt Michael, Saarbrücken (Bild: Ursula Baus)

Tagung zum Thema „Gottes Häuser“ am 13. und 14. September 2023 in Sankt Michael, Saarbrücken (Bild: Ursula Baus)

Liturgischer Funktionalismus

In der evangelischen Kirche steht die Versammlung der Gemeinde im Vordergrund, in der katholischen die Präsenz Gottes, erfahrbar im „gnadenhaften Wesensaustausch zwischen Gott und Mensch.“ Der Unterschied der Gebäude hat sich in jüngster Zeit etwas verschliffen, aber generell „ist der evangelische Kirchenbau weniger spektakulär. Das liegt an einer gewissen Scheu vor dem imperialen Gestus“, urteilt der Theologe Horst Schwebel. Die Protestanten haben 1951 in ihrem Rummelsberger Programm orakelt, dass es zwar keine christliche Stilpräferenz gebe, eine Kirche sich aber von profanen Räumen unterscheiden müsse und mit ihrer „,Gestalt gleichnishaft Zeugnis von dem geben soll, was sich in und unter der gottesdienstlich versammelten Gemeinde begibt: nämlich die Begegnung mit dem gnadenhaft in Wort und Sakrament gegenwärtigen heiligen Gott‘.“

Da die Arbeit engagierter Architekten auf einer intrinsischen Motivation beruhen soll, versteht es sich, dass der Entwurf eines Gotteshauses als kardinale Herausforderung gilt, als sei es damit möglich – mehr noch als bei einem Theater oder einem Museum –, sichtbare Beweise für den um den Beruf wesenden Nimbus zu liefern. Nach Wolfgang Jean Stock „lässt sich der europäische Kirchenbau als ein prägnanter Ausdruck der Architekturgeschichte lesen – von der jeweiligen Grundströmung bis hin zu experimentellen Ansätzen.“ Aber hinzufügen muss man auch, dass manche Planungsbeflissenen dabei verführt wurden, sich bei dieser exklusiven Bauaufgabe mit einer kunsttümelnden Gestaltung zu beweisen. Endlich durften sie einmal all das an Gesten und Gebärden unterbringen, wofür sich sonst keine Verwendung findet!

Andererseits lässt sich die 68er Bewegung in der Architektur verfolgen. Sogenannte fortschrittliche Kräfte plädierten für ein Ende des Kirchenbaus zugunsten von Sozialleistungen für die Dritte Welt. Diese Hinwendung zum Diesseits wurde in schmucklosen Mehrzweckgebäuden ablesbar, in funktionalen Gemeindezentren, bei denen die gottesdienstliche Funktion in den Hintergrund rückte – vielleicht eine andere Art von „Häresie der Formlosigkeit“ (Martin Mosebach). Karl Friedrich Schinkel hatte bereits überlegt, ob eine protestantische Kirche „den Charakter eines Hörsaals für moralische Vorlesungen erhalten müsse?“.

2339_Kirche_kratzputzDie Wände von Sankt Gallus in Neugalmsbüll sind akkurat in Kratzputztechnik ornamentiert. (Bild: Ursula Baus)

Orte setzen, Architektur erleben

Eine Kirche ist auf jeden Fall ein besonderer Ort, selbst wenn man sich mehr der Ökumene als der Transzendenz zuwendet, sie bietet sich an „als lebensweltlicher Sonderraum, als ein dem Alltag gegenübergestellter Raum“. Schon als unübersehbarer Stadtbaustein gehört sie zu unserer vertrauten abendländlichen Siedlungstopographie. Als Student war ich ziemlich irritiert, als ich bei der Arbeit an einem städtebaulichen Entwurf vom Leiter der Modellbauwerkstatt gefragt wurde, warum ich denn in der Ortsmitte eine Kirche vorgesehen hätte – und nicht etwas, was bei den Anwohnern besser ankomme, zum Beispiel eine Kegelbahn. Es mag sein, dass der Schreiner glaubte, damit den richtigen Ton unter linken Studenten zu treffen. Kirchen waren für uns einfach „normal“, obligatorisch für die Arbeiterklasse. Unabhängig, ob zeitgenössische oder historische Gebäude, die eine geschichtliche Rückbeziehung erlauben, geben sie ihrer Umgebung eine Orientierung. Ganz anders ist es, wenn man zufällig einen Königreichsaal der Zeugen Jehovas oder ein Gebäude der anthroposophischen Christengemeinschaft entdeckt. Das sind äußerlich unauffällige kirchliche Niederlassungen, die sich subaltern in den Stadtgrundriss fügen und kein emotionales Interesse evozieren. Ein Kirchenbau der beiden großen Glaubensgemeinschaften ist dagegen ein Anziehungspunkt. Kommt man in einen unbekannten Ort und möchte informell einen Raum kennenlernen, in dem sich über lange Periode etwas vom Leben der Einwohner abgebildet hat, führt einen der Weg in die (hoffentlich unverschlossenen) Kirchen. In den Handbüchern der Bau- und Kunstdenkmälern stehen sie vor den Erläuterungen zu den Profanbauten.

Kirchen sind in kleinen Gemeinden oft die einzigen baugeschichtlichen Zeugen. Wo sonst kann man nachvollziehen, was Romanik, Gotik oder Barock bedeutet? Da die alten Kirchen im Laufe der Jahrhunderte auch baulich verändert wurden oder nach kriegerischen Zerstörungen als Mittelpunkte des kulturellen Lebens rekonstruiert wurden, bieten viele Gebäude eine Exkursion in das Nebeneinander der Baustile. Am Aachener Dom reicht das Programm von der Romanik bis zum Jugendstil. Und gleich gegenüber am Münsterplatz demonstrierte Leo Hugot mit dem Wiederaufbau der (neu)gotischen Kirche St. Foillan eine spannende Balance mit der Moderne: Schlanke Stahlbetonpfeiler und eine gegossene Faltdecke persiflieren die historische Struktur.

Sankt Gallus, Innenraum. Es sind keine Fliesen, die den Kirchenraum über und über prägen. Vielmehr hatte ein Maurermeister einen Mitarbeiter für Monate nach Verona gechickt, um dort die Kratzputz-Technik zu erlernen, genauer: Sgrafitto. Architekturgeschichtlich gehört die Kirche zu den bedeutendsten Norddeutschlands aus dem 19. Jahrhundert. (Bild: Ursula Baus)

Sankt Gallus, Innenraum. Es sind keine Fliesen, die den Kirchenraum über und über prägen. Vielmehr hatte ein Maurermeister einen Mitarbeiter für Monate nach Verona gechickt, um dort die Kratzputz-Technik zu erlernen, genauer: Sgrafitto. Architekturgeschichtlich gehört die Kirche zu den bedeutendsten Norddeutschlands aus dem 19. Jahrhundert, die Innenausstattung ist in Europa einzigartig. (Bild: Ursula Baus)

Kirchbaugeschichte

Der Kirchbau bot in allen Epochen den Baumeistern ein prototypisches Wirkungsfeld. Zweifellos hatte das in der Gotik, als sich mit dem sursum corda die profane Konstruktion in filigrane Steinrippen auflösen sollte, mitunter einen katastrophalen Tragwerkskollaps zur Folge. Aber bis in die Gegenwart sind Kirchen prädestiniert, den Stand der profanen Bautechnik zu demonstrieren. Ein Sonderfall der traditionellen Ziegelbauweise bedeutete Antoni Gaudis unvollendet gebliebene Kirche Sagrada Familia in Barcelona, ein bizarres Kunstwerk, errichtet nach den statischen Erkenntnissen aus einem reziproken Hängemodell. Notre-Dame-du-Travail in Paris birgt hinter einem neoromanischen Äußeren ein von Bahnhofshallen bekanntes Eisenfachwerk. Und Otto Bartning entwickelte 1928 (zunächst in Köln) ein demontables, avantgardistisches Gebäude aus Stahl und Glas, die sogenannte Pressa-Kirche, die ein neues Raumgefühl vermitteln sollte.

Roher Sichtbeton wurde vor allem in Frankreich in den zwanziger Jahren domestiziert, etwa für die Kirche Notre-Dame-du-Raincy von Auguste Perret. Über Karl Moser, Le Corbusier, Helmut Striffler und Gottfried Böhm reicht diese Moderne der Bautechnik bis in die Gegenwart. Mit maßgebenden Tragwerksplanern entstanden nach dem zweiten Weltkrieg Faltwerke, Gitterschalen, kristalline Skulpturen und stützenfreie Kathedralen. Man darf davon ausgehen, dass diese schmucklose Reduktion bei konservativen Gemeindemitgliedern Befremden ausgelöst hat.

Wie viel sympathischer ist es dagegen, wenn mit lyrischer Semantik vertraute Architekten verkünden, ihr wichtigster Baustoff sei das Licht. Bei alten Kirchen denkt man in erster Linie an farbige Glasfenster, aber beeindruckender sind Räume, Leerräume, die durch ihre bildlose, kastenartige Höhe (wie in Aachen St. Fronleichnam von Rudolf Schwarz) von der natürlichen Helligkeit leben. Raffiniert ist die Lichtführung in den Kirchen von Andreas Meck, in denen geometrische Verwerfungen, Schächte und Schlitze durch die im Tageslauf changierenden Flächen vielfältige Perspektiven auf das unveränderlich Seiende erzeugen. Auch bei Königsarchitekten ist das Licht ein Verbündeter: Im Pfarrzentrum St. Franziskus in Regensburg lässt ein gespanntes mattes Glasfasergewebe die Decke ins Unbestimmte schweben, bei St. Marien in Schillig an der Nordsee wird das durch die schmalen Dachöffnungen einfallende Sonnenlicht wellenartig moduliert und ergibt „metaphorisch-kontextuelle und transzendentale Wirkungen zugleich“, wie es auf der Homepage der Architekten heißt. Doch auch der Blick durch eine großzügige Verglasung in die Natur kann einen Andachtsraum auszeichnen, beispielhaft Paul Baumgartens Kirche am Lietzensee in Berlin oder Carlfried Mutschlers Pfingstbergkirche in Mannheim. Hier befindet man sich weniger an Orten für die nach innen gekehrte Gewissenserforschung, sondern in hellen, einladenden Denk- und Begegnungsräumen, die inspirieren sollen zum Dialog mit Gott.

Dass ihre Grundfigur längst nicht mehr dem basilikalen Schema folgt, geht einerseits auf neue liturgische Regeln zurück, andererseits mag auch manchem Architekten seine eigene Religiosität beigestanden haben. Statt einem rechtwinkligen Funktionsraum mit starr gereihten Bänken zur frontalen Belehrung sind alle Geometrien denkbar. Die Circumstantes-Forderung führte zu mehr oder weniger freien oder rundlichen Grundrissformen. Otto Bartnings Auferstehungskirche in Essen mag als Prototyp gelten, ebenso Theodor Fischers achteckige Waldkirche in Planegg (zumal mit ansteigendem Gestühl wie im Anatomie-Hörsaal); bei späteren Münchner Kirchen wie St. Laurentius von Emil Stefann und St. Johann Capistran von Sep Ruf spürt man noch die vorsichtige Abweichung von der Wegekirche durch die gerichtete Hierarchie des Altars. Fünfzig Jahre später lieferte Dieter G. Baumewerd mit der elliptischen „Arche“ der St. Christophorus-Kirche in Westerland die Versöhnung der beiden konzeptionellen Gegensätze. Diese Typologie als Konsequenz differenzierter Liturgieauffassungen fand als „Communio-Raum“ in die Nomenklatur des Kirchbaus.

2339_Kirche_BCH_LumenDie Kunst der Emotion

Kirchen sind also architektonische Erfahrungsorte, an denen sich Flächen, Räume, Kubaturen, Umschließungen, Hüllen und Lichtführungen wie in keinem anderen Gebäude sinnlich erleben lassen. Sie oszillieren zwischen Bauphysik und Metaphysik. „Deshalb:“, erklärt Hans Busso von Busse, „Sinnvolles, gestaltbewusstes Fügen aller Teile entscheidet über die materielle Tauglichkeit…“ Ansgar und Benedikt Schulz, die Architekten der Trinitatis-Kirche in Leipzig, sehen einen weiteren Gewinn: „Aus der Beschäftigung mit dieser Bauaufgabe ergeben sich im Idealfall Erkenntnisse, die sich auf profane Bauaufgaben übertragen lassen.“ Kirchen gelten als Lehrbeispiel für eine emotionale Architektur. Sie sind „Behälter multipler Stimmungschoreographien: Sie imponieren durch Höhe und Weite, spielen mit Lichtintensitäten – heller, dunkler, farbiger –, skalieren den eigenen Leib zur Größe des Ritualraums, konfrontieren mit dem Leid von Märtyrern in Skulpturen und Gemälden, polarisieren Raumklarheit mit Raumvernebelung (Weihrauch) und intensivieren akustische Signale vokaler und instrumentaler Musik.“ Als Gesamtkunstwerke lösen sie „eine seelische Euphorie aus“.

Allerdings gibt es auch Grenzen. Ein Kirchenraum ist keine Geisterbahn. Der Schweizer Kunsthistoriker Peter Meyer warnte, dass der Architekt dabei nicht zum „gerissenen Stimmungsmacher“ verkommen dürfe. Fürchten muss man ebenso die gutmeinenden Seelen, die mit frommem Kunstgewerbe eine Kirche verderben. Ein Gotteshaus darf ruhig eine spirituelle Herausforderung für die Gemeinde bedeuten, es soll ja den „Anderraum“ bieten, der über den Alltag erhebt. Dem Designer John Pawson ist diese Balance großartig gelungen. Zuerst in Böhmen beim Umbau der Abtei Novy Dvur, dann mit dem 1000 Jahre alten Gebäude der Moritzkirche in Augsburg. Seine minimalistische Intervention verleiht den Sakralräumen eine zeitlos gültige Aura, man kann sagen, sie erhielten die Weihe der Architektur.

Viele Künstler – Matisse, Rouault, Bonnard, Chagall – haben für Kirchen gearbeitet. Wer kannte schon die Abtei Tholey im Saarland, bevor Gerhard Richter dort die Glasfenster erneuert hat? Agnostiker werden den Besuch ohne seelsorgerische Erwartungen wie in einem Museum absolvieren. Auch ohne gottesdienstliche Begleitung mag man Bachs Toccaten, seine Matthäuspassion oder Mozarts Requiem am liebsten in einer Kirche hören. Das ist vorkonziliar orientierten Reaktionären wie Martin Mosebach ein Dorn im Auge, sie betrachten es als Zweckentfremdung, wenn ein sakraler Raum nicht der Liturgiefeier dient. Dem könnte man entgegenhalten, dass das Publikum, das nicht aus bildungsbürgerlichen Erwartungen eine Kirche besucht, sondern auch wegen der dort wesenden Atmosphäre, eine „pathische Selbstgewahrwerdung“ erlebt, mithin die Wirkung eines heiligen Raumes. Und sei es nur für die kurze Rast, wenn man mit vollen Tragetaschen durch die Fußgängerzone hastet, in einer stillen Kirche etwas Ruhe findet und vielleicht an diesem Ort seine Zweifel spürt, ob man das wirklich alles braucht, was man da gerade eingesammelt hat. Denn: „…auch für Nicht-Religiöse sind Kirchen attraktive Orte. Experimentelle Räume, in denen man sich spielerisch, neugierig suchend, frei bewegen kann. Das macht den eigentlichen religiösen Charme von Kirchen aus, dass alle Besucher in ihnen eine Ahnung entwickeln, was es heißen könnte, religiös zu sein.“

In der kommerzialisierten Innenstadt Münchens überrascht die von den Brüdern Egid Quirin und Cosmas Damian Asam gebaute Kirche Sankt Nepomuk immer wieder. 1733 bis 1746 war sie als errichtet worden. 1946 zerstörte ein Bombenangriff den Chor, der 1975 bis 1983 gestützt auf eine nicht vollständige Quellenlage wieder hergestellt wurde. (Bild: Ursula Baus)

In der kommerzialisierten Innenstadt Münchens überrascht die von den Brüdern Egid Quirin und Cosmas Damian Asam in der Sendlinger Straße gebaute Kirche Sankt Nepomuk immer wieder. 1733 bis 1746 war sie als errichtet worden. 1946 zerstörte ein Bombenangriff den Chor, der 1975 bis 1983, gestützt auf eine nicht vollständige Quellenlage, wieder hergestellt wurde. (Bild: Ursula Baus)

Was bleibt

Eine Hoffnung. Die Bedeutung von Kirchen in der Gesellschaft nimmt allerdings kontinuierlich ab. Neubauten bieten keine vorrangige Bauaufgabe mehr, sondern Umnutzungen. 2021 haben 359.338 Katoliken in Deutschland ihre Kirche verlassen, jedes katholische (Erz-)Bistum, jede evangelische Landeskirche kennt die Prognosen, bis wann ihre Priester vor leeren Bänken predigen werden. Die gegenwärtigen Austrittszahlen steigen täglich aus aktuellem Anlass. In den letzten 20 Jahren wurden in Deutschland etwa 1200 Kirchenbauten aufgegeben. Viele wurden verkleinert oder für Gemeinderäume beschnitten. Andere Gotteshäuser erhielten eine säkulare Verwertung als Kunstgalerien, Kletterhallen, Restaurants, Kindergärten, private Villen. Nun gut, es mag merkwürdig anmuten, wenn man eine Maisonettewohnung in einer Kapelle bezieht, deren sakrale Funktion noch deutlich zu erkennen ist wie bei der Wohnanlage „Redukt“ am Nymphenburger Schlosspark; die Gebäude waren in den 1960er Jahren von Paul Schneider-Esleben als Jesuitenkloster errichtet worden.

Dass aber Kirchen erhalten bleiben sollen, ist nicht erst eine Forderung, seit der Begriff Nachhaltigkeit als „Hauptwort der Branchenethik“ (Martin Walser) gilt. Ihre Baumasse birgt neben der grauen auch eine spirituelle Energie, „nicht nur hinsichtlich des Gottesbezugs, sondern auch hinsichtlich der Überschreitung des Alltäglichen.“ In vielen Gemeinden sind sie die signature buildings, die dem Städtebau Ordnung und den Bürgern emotionale Identität geben. Sie als profane Versammlungsorte zu retten, knüpft an ihre ursprüngliche Nutzung an. Die Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Christliche Kunst heißt, die Nutzung von Gotteshäusern zu transformieren, sie für soziale und kulturelle Funktionen zu profanieren. Kirchen waren immer öffentliche Orte, die „ursprünglich allen gehörten und auch einem breiteren Nutzungsspektrum dienten, als es das 19. Jahrhundert mit seinem Verständnis für Sakralität bis heute festzementiert hat.“ Es war daher naheliegend, dass der politische Aufbruch zur sogenannten Wende in der DDR in Kirchenräumen angestoßen wurde. Die ehemalige Regionalbischöfin Susanne Breit-Keßler bleibt zuversichtlich, was das Politische betrifft: „Kirche in der Stadt hält die Frage nach Wahrheit wach – etwa durch die fulminante Beteiligung an Demonstrationen gegen rechts.“ In Gottes Namen.

In den Kirchen beginnt und endet traditionell der kulturelle Bogen des Lebens. Bazon Brock, emeritierter Professor für Ästhetik und Kunstvermittlung, beantwortete die Frage nach seinem Traumhaus mit einem Sterbehaus: „In jenen Tagen des erwartbaren Todes wünsche ich aus meiner Mitgliedschaft beim ADAC zum ersten Mal Nutzen zu ziehen; also mit den unbewegten Bewegern des Flugrettungsdienstes nach Pisa gebracht zu werden, um in der Kathedrale, im Mittelschiff, auf der Höhe des 4. Jochs, mit Blickrichtung auf die Apsis sterben zu dürfen. Das Haus steht, aber der Traum bleibt, das ist eine für mich akzeptable Auffassung von Architektur.“

Und die Kirche bleibt.