• Über Marlowes
  • Kontakt

Klaus Humpert (1929–2020)

2046_SL_wd_humpert2

Klaus Humpert in Badenweiler, 2019 (Bild: Wilfried Dechau)

„Kannst Du mir nur einen Stadtplatz aus dem 20. Jahrhundert nennen, der es an Qualität und Schönheit mit unseren historischen Plätzen aufnehmen kann?“ – hatte mich Klaus Humpert bei einer unserer letzten Begegnungen gefragt. Die Architekturmoderne – ursprünglich seine geistige Heimat – war für ihn ganz offensichtlich an ihre Grenzen gestoßen, wenn es darum ging, urbane Räume zu schaffen. Waren die Anstrengungen mehrerer Generationen, die sich mit dem Wiederaufbau und Weiterbau europäischer Städte befassen durften, so ins Leere gelaufen? Nein, aber Klaus Humpert ging es stets – jenseits von Trends und Statistik – um die Bestimmung der Triebfedern der Stadtentwicklung und um die Gestaltung einer lebenswerten städtischen Umwelt.

Nach der Hochschulreife, die Klaus Humpert am Kolleg St. Blasien erwarb, zog es ihn in den frühen 1950er Jahren zum Studium an die TH Karlsruhe, wo er unter anderem bei Egon Eiermann und Otto Ernst Schweizer studierte – Lehrern, die zwischen der Erfahrungswelt der Menschen und der Rationalität des Funktionalismus vermitteln konnten. Geprägt von einer Ernsthaftigkeit und Wahrhaftigkeit, die vielleicht nur eine Generation aufbringen konnte, die Krieg und Zerstörungen ganz unmittelbar erfahren musste, begeisterte er sich für die Aufbruchsstimmung der Nachkriegsmoderne und konnte schon bald seinen eigenen baulichen Beitrag leisten.

2046_SL_CC_badenweiler

Badenweiler, Kurhaus (Bild: PantaRhei, CC BY SA 4.0, 2018)

Humperts berufliche Laufbahn begann in der Staatlichen Bauverwaltung. Seine Entwürfe für die Rundhochhäuser in Lahr (1959–62, seit 1996 unter Denkmalschutz) und das Kurhaus in Badenweiler (1969–72), ausgezeichnet mit dem Hugo-Häring-Preis, begründeten seinen Ruf als hervorragender Hochbauarchitekt. Von 1965 bis 1982 war er im Freiburger Stadtplanungsamt tätig, 1970 wurde ihm die Leitung des Amts übertragen. Mit seinen Konzepten zur Stadterneuerung und Gestaltung des öffentlichen Raums begründete er den Ruf Freiburgs als Ort innovativen Städtebaus. Planungen zur Entlastung des Stadtkerns vom Autoverkehr und zur Anbindung der westlichen Innenstadt an die Kernstadt gehen auf ihn zurück. Sein bemerkenswertes Engagement, das früh auf die Einbindung der Bürgerschaft in Planungsprozesse setzte,  wurde 1982 mit dem Fritz-Schumacher-Preis gewürdigt.

Die Wahrheit der Stadt

Es war wohl das intensive Studium des genialen Grundrisses der Freiburger Kernstadt, der fein komponierten und im menschlichen Maßstab gestalteten Stadträume, vor allem die tägliche Erfahrung von Wertschätzung und Gebrauch durch Bewohner und Besucher der Stadt, die ihn schon bald am Credo der Moderne zweifeln ließ: Hier die lebendige Vielfalt in den Gebäuden und das vibrierende Leben der öffentlichen Räume, dort funktionsoptimierte Großbauten mit monofunktionaler Leere und Langeweile.

Der Ruf an die Universität Stuttgart, wo er als Nachfolger von Egbert Kossak die Professur Stadtplanung und Entwerfen am Städtebau-Institut antrat, bot Humpert allerbeste Möglichkeiten, dem widersprüchlichen Verhältnis von Moderne und Urbanität auf den Grund zu gehen und die gewonnenen Einsichten weiterzugeben. Mit seiner Berufung wandte sich die Städtebaulehre an der Fakultät wieder stärker den räumlichen Dimensionen der Stadt zu. Die großen Modelle, an denen er mit den Studierenden – nicht selten bis in die Nacht hinein – auf den Fluren des Kollegiengebäudes diskutierte, waren Teil eines großen Experiments, das man wohl am besten mit dem Begriff „forschendes Entwerfen“ charakterisieren kann. Die projektierten Stadträume mussten sich immer messen lassen an der konkreten Stadterfahrung. Auf Stadterkundigungen und Exkursionen, zu Fuß und mit dem Fahrrad, suchte Humpert mit seinen Studierenden nach kulturellen Einflüssen und  anthropogenen Konstanten im Verhältnis der Menschen zur gebauten Stadt.

2046_SL_humpert_spuren

2007 bei der Edition esefeld & traub erschienen: Laufspuren

Der alltägliche Blick aus dem Kollegiengebäude auf den benachbarten Stadtgarten konnte vor Augen führen, wie sich die dahineilenden Passanten entgegen den sorgfältig erdachten und gebauten Wegen auf Trampelpfaden den kürzesten Weg suchten. Humperts damals entstandene Arbeit über verhaltensgeprägte Spuren in Stadt und Land zeigte die große Bedeutung der Bewegungsabläufe im Raum für Siedlungs- und Infrastrukturentwicklung auf. Etwa, wenn ein Pfad indianischer Vorbewohner sozusagen als Störung ins Gitternetz Manhattans eingraviert bleibt und als Broadway eine frühe Schicht der Stadtwerdung dokumentiert. Humperts Beitrag zu den „Lauf-Spuren“ ist im Sommer 2020 noch einmal unter dem Titel »Trails, Tracks and Traces« in englischer Sprache erschienen.

Klaus Humpert diagnostizierte den Widerspruch zwischen den ständig heruntergebeteten Prinzipen der Europäischen Stadt – Kompaktheit und Dichte, Mischung und soziale Vielfalt – und der Wirklichkeit der Stadtentwicklung. Demgegenüber stand die Erfahrung, dass europäische Städte an ihren Rändern ausfransen, je stärker sie wachsen. Konterkariert nicht bereits der Wunsch, landschaftsnah zu wohnen, die klassischen Planungsprinzipien? Umso mehr überraschte ihn, dass er auf Reisen in die dynamisch wachsenden außereuropäischen Agglomerationen Zeuge informeller Stadtwerdung wurde, die  –  wie etwa in Nezahualcóyotl, dem im Selbstbau entstandenen Millionenvorort von Mexiko-Stadt – nutzungsgemischte, urbane Quartiere und urbane Kerne hervorbrachte.

Mit seinen Studierenden war Klaus Humpert gleichzeitig als Lehrer und Lernender unterwegs. Es gelang ihm, seine permanente Suche nach Urbanität in eine außergewöhnlich faszinierende Lehre umzusetzen – mit einer intuitiven Pädagogik und einer besonderen Fähigkeit zum ungewöhnlichen Blick auf den Forschungsgegenstand „Stadt“. Spielerisch gelang es ihm, in den Studierenden Begeisterung für lebenswerte Städte zu wecken und ihnen zu vermitteln, wie urbane Räume funktionieren. Weil er Themen früh erkannte, deren Bedeutung erst später zum Allgemeingut wurde, konnte er Studierende zum Entdecken neuer Themen in der Stadtentwicklung motivieren. So entstanden an seinem Lehrstuhl die ersten Entwürfe zur Konversion der riesigen Gleisflächen vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof, einige Zeit bevor diese Planungsaufgabe als Stuttgart 21 Furore machte.

Sein Lehrkonzept, das „Stadtlesen“ und „Entwerfen mit den Bausteinen der Stadt“ ins Zentrum rückte, wurde schulbildend. Viele seiner Absolventen, die an verantwortlicher Stelle in kommunalen Planungsämtern, an Hochschulen oder in freien Büros tätig sind, bezeichnen sich ausdrücklich als Humpert-Schüler.

Forschung und Praxis


2046_SL_humpert_principles

Heruasgegeben mit Klaus Brenner und Sibylle Becker: Fundamental Principles of Urban Growth. Müller + Busmann, Wuppertal 2002

Wenn Klaus Humpert auch ein wenig damit kokettierte, erst spät und „zu seiner eigenen Überraschung“ Geschmack an der Forschung gefunden zu haben, sehe ich die Mitarbeit im DFG-Sonderforschungsbereich 230 der Deutschen Forschungsgemeinschaft „Prozess und Form natürlicher Konstruktionen“ als logische Fortsetzung seiner früheren Studien. Als er von 1987 bis 1992 unter anderem zusammen mit Frei Otto Gemeinsamkeiten zwischen menschlichen und biologischen Konstruktionen erforschte, kamen ihm seine empirischen, urbanen Forschungen sehr zugute. In der Analyse ungeplanter großstädtischer Agglomerationen und kultureller Einflüsse auf die Stadtstruktur konnte er mit seinem Team am Städtebau-Institut sichtbar machen, wie sich die menschlichen Bewegungen im Raum zu Transportwegen und Siedlungen verdichten, deren Eigenschaften und Gestalt pflanzlichen Systemen ähnlich sind.

2046_SL_humpertMA

Erschien 2001: Klaus Humpert und Martin Schenk: Entdeckung der mittelalterlichen Stadtplanung. Das Ende vom Mythos der gewachsenen Stadt, Theiss, Stuttgart 2001

Um 1990 wandte sich Klaus Humpert der Erforschung mittelalterlicher Stadtgrundrisse zu. Maße, Modulreihen und Radien, auf die er in Freiburg gestoßen war, fand er auch in anderen mittelalterlichen Stadtgründungen. Über Feldversuche in der Nähe von Rostock konnte nachgewiesen werden, dass die Geometrie eines Stadtgrundrisses mit einfachen Hilfsmitteln eingemessen werden konnten. Sein Buch „Entdeckung der mittelalterlichen Stadtplanung – das Ende vom Mythos der gewachsenen Stadt“ (2001, gemeinsam mit Martin Schenk veröffentlicht) weckte publizistische Aufmerksamkeit. Die zentrale These, dass die mittelalterlichen Stadtgrundrisse und Raumkonzepte planmäßig entstanden waren, fand in der eigenen Zunft einige Zustimmung, traf aber unter Archäologen und Historikern eher auf Widerstand. Sie hat ihn bis zuletzt beschäftigt, zumal er in mittelalterlichen Miniaturen, unter anderem in der Manessischen Handschrift, ähnliche Gestaltprinzipien zu entdecken glaubte.

Sein gewinnendes Wesen, gepaart mit klaren Vorstellungen über die Architekturlehre, machte Klaus Humpert zu einem erfolgreichen Dekan an der Fakultät 1 in Stuttgart. Mit Verhandlungsgeschick legte er den Grundstein für eine von Konsens getragene Struktur des Studiums und der Organisation der Institute, die auch heute – in schwierigeren Zeiten – noch nachwirkt und beflügelt. In Gesprächen mit dem Wissenschaftsministerium und dem Rektorat setzte er eine ausgezeichnete Ausstattung mit studentischen Arbeitsplätzen durch. Die hohe Erfolgsquote der Absolventen geht bis heute auf das „Lernen voneinander“ in gut ausgestatteten Studios zurück.
Humperts Dekanat steht auch für die Einrichtung des Fachgebiets „Städtebau in Asien, Afrika und Lateinamerika“, heute „Internationaler Städtebau“, mit dem sich die Fakultät international öffnete. Als Ausdruck für sein vorbildlich gelebtes, integriertes Aufgabenverständnis an der Fakultät steht die unter seiner Ägide vollzogene Änderung des Namens in „Fakultät 1 Architektur und Stadtplanung“. Er, der gelernte Architekt, vermochte die Professorenkolleg*innen zu überzeugen, dass nicht jeder, der eine gute Türklinke entwerfen kann, die Befähigung zum Entwurf eines lebendigen Stadtquartiers oder eines Stadtplatzes hat, sondern dass der qualifizierte Um- und Weiterbau der Stadt auf ein Studium der Anatomie des Städtischen gründen müsse.

In wechselnden Arbeitsgemeinschaften mit meist jungen Kollegen stellte sich Klaus Humpert immer wieder der städtebaulichen Praxis, arbeitete an Konzepten für den öffentlichen Raum und an städtebaulichen Rahmenplänen – so zum Beispiel für Ludwigsburg oder Krefeld. In Krefeld erinnert man sich gerade im aktuellen Diskurs über das Innenstadtkonzept an Humperts Worte, dass man sich zwar keiner herausragenden Baudenkmale rühmen könne, aber der über mehrere Epochen entstandene Stadtgrundriss das alles überragende Monument Krefelds sei.

2046_SL_CC_CampusWestend

Uni-Campus Westend in Frankfurt. Hinter dem Poelzig-Bau entstanden nach dem Masterplan von Ferdinand Heide neue Gebäude der Goethe-Uni; der Wettbewerb dazu war 2002. (Bild: CC BY SA 3.0, Goethe-Uni)

Der Preisrichter

Vor allem durch Mitwirkung in Preisgerichten hat Klaus Humpert das Gesicht der Städte Deutschland maßgeblich mitbestimmt. Mit analytischem Blick auf die Vor- und Nachteile der eingereichten Wettbewerbsbeiträge ist es ihm auch in konfliktreichen Verfahren gelungen, Fachleute, Politiker*innen und Bürgervertretungen hinter den besten Lösungen zu versammeln.
Juriert hat er nicht nur städtebauliche Projekte wie die Entwicklung des Stuttgarter Bahnhofsquartiers, das Bielefelder Universitätsviertel Hof Hallau oder den Campus Westend in Frankfurt, sondern auch öffentliche Räume wie den Wiesbadener Bahnhofsplatz oder die deutsch-französische Landesgartenschau in Kehl/Straßburg sowie eine Vielzahl Stadtbild prägender Wohn- und Gewerbebauten wie das Regensburger Kultur- und Kongresszentrum oder der Neubau des Terminals 3 am Flughafen Frankfurt.

Mit Leidenschaft trat er dafür ein, dass Neubauten Wege in der Stadt nicht unterbrechen, sondern begleiten, selbst dort, wo es nur schwer umzusetzen war, wie beim Bank- und Verwaltungszentrum LBBW am Stuttgarter Hauptbahnhof. Besonders wichtig war ihm der neue Stuttgarter Hauptbahnhof, weil mit dem Projekt Christoph Ingenhovens eine in seinen Augen geniale lichtführende Konstruktion Frei Ottos in Stuttgart verwirklicht werden konnte. Da war Klaus Humpert wieder ganz Architekt.

Im Diskurs zur Planungs- und Baupolitik in Freiburg meldete er sich auch nach seiner Emeritierung wieder zu Wort. So, als er den Siegerentwurf im Wettbewerb für den Platz der Alten Synagoge vehement gegen den Wunsch nach „allgemeiner Verwaldung“ verteidigte. Stand Humpert hier konsequent hinter der städtischen Planung, so wandte er sich entschieden gegen die Entwicklung des Dietenbachgeländes zum neuen Stadtquartier. Er war der Meinung, dass die bis 2030 benötigten Wohnungen schneller und kostengünstiger auf dem stadteigenen Rieselfeld zu verwirklichen seien als am Dietenbach mit seinem 380 Eigentümern. So blieb er auch als Pensionär ein streitbarer Stadtbürger in seiner Heimatstadt.

2046_SL_wd_humpert

Klaus Humpert (Bild: Wilfried Dechau)

Als ich 1994 den Lehrstuhl übernahm, ergaben sich erste Berührungspunkte aus Humperts Forschungen. Wir haben über die intelligente Methode zur Nachkonstruktion der historischen Grundrisse viel diskutiert. Nie hat er mir nachgetragen, dass ich die mittelalterlichen Raumkonzepte räumlichem Feinsinn und genialer Handwerkskunst zuschrieb und seiner These von der systematisch geplanten Raumkompositionen nicht folgen wollte. Mit den gemeinsam formulierten Themen des Klaus-Humpert-Preises, einem Abschiedsgeschenk von Freunden und Kollegen, – Sehnsucht Stadt, Stadt und Monument, Stadt und Garten, Stadt und Geschwindigkeit oder Löcher in der Stadt – erreichten wir viele Studierende in Deutschland, Schweiz und in Österreich. Die wohlwollende Unterstützung von Thomas Hoffmann-Kuhnt, der die prämierten Beiträge in der Zeitschrift Wettbewerbe Aktuell publizierte, bereitete vielen jungen Kreativen erstmals den Weg in die Fachöffentlichkeit.

Mit Klaus Humpert, der am 10. Oktober 2020 in Freiburg gestorben ist, haben wir einen Lehrer, Kollegen und Freund verloren, der sich lebenslang mit inspirierender Leidenschaft und Kraft für humane, urbane Städte eingesetzt hat. „Die Wahrheit der Stadt“, schrieb der amerikanische Architekturhistoriker Spiro Kostof einmal, „liegt in der Veränderung“. In Klaus Humperts Werk hat dieses Theorem seinen besten Ausdruck gefunden.