Es war ein strahlender Frühsommertag 2012. Meinhard von Gerkan und ich saßen auf der Terrasse seines Restaurants „Le Canard Nouveau“ in Hamburg hoch über der Elbe, als er mich fragte, ob ich mir vorstellen könne, seine Biografie zu schreiben. Die Aufgabe erschien mir gewaltig. Ich antwortete ihm, dass ich zwar schon etliche Bücher geschrieben hätte, aber bisher noch keine Biographie. Gerkan lachte. „Ich auch nicht!“, lautete seine Antwort. Damit war die Sache abgemacht.
Glück im Unglück
Was folgte, waren faszinierende Jahre gemeinsamer Arbeit, des intensiven Austauschs, geprägt von langen Gesprächen, oft bis tief in die Nacht, über sein Leben, über die Architektur, über die Welt. Meist trafen wir uns dazu gleich neben dem Büro von gmp, in seinem Wohnhaus an der Elbchaussee. Gemeinsam besuchten wir seine Geburtsstadt Riga mit seiner Taufkirche St. Petri. Mehrfach reisten wir nach China besuchten Vietnam, wo Gerkan mit der Vietnamesischen Nationalversammlung, dem Hanoi-Museum und dem Nationalen Kongresszentrum spektakuläre Bauten verwirklicht hatte. Aber wir fuhren auch in das kleine Volkenroda. Dort steht sein berührender Christuspavillon, den er für die EXPO 2000 in Hannover entworfen hatte und der anschließend nach Thüringen „wanderte“.
Geboren wurde Meinhard von Gerkan am 3. Januar 1935, mitten hinein in die Katastrophen der europäischen Geschichte. Sein Vater fiel im Zweiten Weltkrieg. Seine Mutter starb kurz nach Kriegsende. Von Riga über Posen führte Gerkans Flucht bis in die Lüneburger Heide. Dort hatte der Kriegswaise Glück im Unglück. Er fand liebvolle Aufnahme in einer Pastorenfamilie, absolvierte die Waldorfschule in Hamburg und schrieb sich am gerade erst gegründeten Europakolleg für das Fach Physik ein. Zu seinen Studienkollegen gehörte der junge Otto Schily, der spätere deutsche Innenminister. Ein Kontakt, der auch nach Gerkans Umzug nach Berlin Bestand hatte. In Berlin wechselte er das Studienfach, begann an der TU Architektur zu studieren. Eine Entscheidung, die sein weiteres Leben bestimmte. Nicht zuletzt, weil er dort Volkwin Marg kennenlernte.
Nicht ohne Volkwin Marg
Noch vor dem Mauerbau 1961 wechselten die beiden nach Braunschweig, wo sie mit Dieter Oesterlen und Friedrich Wilhelm Kraemer von zwei herausragenden Protagonisten der westdeutschen Nachkriegsmoderne unterrichtet wurden. Schon während des Studiums legten Gerkan und Marg den Grundstein für ihre späteren Erfolge. Sie zeichneten für andere Architekturbüros Wettbewerbsentwürfe. Damit verdienten sie Geld und sammelten zugleich Erfahrung. Mit bemerkenswertem Erfolg. Für ihren Entwurf des Theaters in Wolfsburg erhielten sie einen dritten Preis, gleich hinter dem Sieger Hans Scharoun und Alvar Aalto — aber noch vor ihrem großen Vorbild, dem Dänen Jørn Utzon.
Wer Gerkan zuhörte, wenn er über sein Leben berichtete, gewann den Eindruck, das Architektenleben sei ein Roman. In druckreifen Sätzen, mit kraftvoller Stimme, in der der baltische Einschlag mitschwang, erzählte er vom Gewinn des Architekturwettbewerbes für den Flughafen Tegel in Berlin als blutjunges Architekturbüro. Nicht weniger kurzweilig ist die Geschichte, wie der frisch diplomierte Gerkan mit einer Gruppe junger Kollegen in Japan eine Terracotta aus dem vom Abriss bedrohten Hotel Imperial von Frank Lloyd Wright in Tokio – nun ja – für die Nachwelt sicherte. Ohnehin die Welt. Gerkan reiste viel und gerne. Seine Neugier gehörte ebenso wie seine schnelle Auffassungsgabe zu den entscheidenden Triebfedern seiner Kreativität. Was ihn auszeichnete, war ein analytischer Blick für ästhetische Qualitäten, der sich auch in seinen bis heute unpublizierten frühen Fotografien und Filmen zeigt. Was ihn von etlichen Architektenkollegen unterschied, war die Fähigkeit, seine Gedanken in präzise Zeichnungen von hoher Qualität zu überführen.
Braunschweig: Quelle des Nachwuchses
Mitte der 1970er Jahre begann Gerkan seine langjährige Lehrtätigkeit in Braunschweig. Zahlreiche seiner Studenten wechselten nach ihrem Studium direkt zu gmp. Einige gehören heute als Partner bei gmp zu den Säulen des international erfolgreichen Architekturbüros. Der Beginn seiner Lehrtätigkeit bot Gerkan Anlass, seine Erfahrung in vier Prinzipien zu fassen, mit denen er seine architektonische Haltung beschrieb und die bis heute als Leitlinien für gmp dienen. Die Prinzipien der Einfachheit, der Vielfalt in der Einheit, der Unverwechselbarkeit und der strukturellen Ordnung. Logik und Klarheit, die sich aus der Anwendung dieser vier Prinzipien ergab, versetzten ihn in die Lage, zusammen mit Volkwin Marg, selbst als junge Architekten, bereits große Bauaufgaben anzugehen. So zogen sich Großprojekte wie ein roter Faden durch sein Werk. Das reicht vom legendären Flughafen Tegel, dem sechseckigen Airport der kurzen Wege in Berlin, über den Berliner Hauptbahnhof bis hin zu seinen chinesischen Megaprojekten.
Das Gespür für Trends und neue Entwicklungen zeichnete ihn ebenso aus wie seine Beharrlichkeit und sein baukünstlerisches Selbstverständnis, die er – wie im Fall des Berliner Hauptbahnhofs – auch gegen seine Bauherren juristisch einklagte. Schon früh diente ihm das Publizieren als wichtige Form der Selbstvergewisserung über das eigene Tun. Lange bevor andere Architekturbüros diesem Trend folgten, dokumentierte und analysierte Meinhard von Gerkan so die eigene Arbeit. Mitte der 1970er Jahre begann gmp mit einer chronologischen Werkdokumentation, der „Weißen Reihe“. Schreiben gehörte zu Gerkans Leidenschaften. In seinen Büchern und Aufsätzen drückte er aus, was es über seine Bauten hinaus zu Architektur und Gesellschaft zu sagen gab. Die „Verantwortung des Architekten“, so der Titel eines seiner Bücher, war ihm Herzenssache. Kein Wunder also, dass er den Lesern auch einen Einblick in die „Black Box BER“ gab, um die Planungs- und Baugeschichte des neuen Berliner Flughafens aus seiner Sicht darzustellen – und ganz nebenbei auf die Sachbuch-Bestersellerliste zu klettern.
Kreativ, neugierig, fordernd, gelegentlich auch unwirsch, blickte Gerkan auf die Welt und nach neuen Herausforderungen. In einem Alter, in dem andere darüber nachdenken, sich aus dem Berufsleben zurückziehen, widmete er sich Großprojekten für die Deutsche Bahn mit der „Renaissance der Bahnhöfe“. Kaum ein deutscher Bahnsteig, der heute nicht von seinem geschwungen seriellen Bahnsteigdach geschützt wird. Sogar einen Zug entwarf er 1999 für die Deutsche Bahn, den „Metropolitan“. Die qualitätvolle natürliche Ausstattung mit Schichtholz, Edelstahl und Leder führte vor, wie angenehmes Reisen aussehen kann.
China: XXL
Zeitgleich begann mit dem Gewinn des Wettbewerbs für die Deutsche Schule in Peking 1999 das Abenteuer China. Das aufstrebende Reich der Mitte wurde für Gerkan zu einem Ort, an dem vieles von dem möglich wurde, was in Deutschland kaum vorstellbar war. Anstatt in den Maßstäben S, M oder bestenfalls L, durfte im aufstrebenden China in den Maßstäben XL oder gar XXL gedacht und gebaut werden. So entstanden neben der neuen Stadt Lingang bei Shanghai und dem Chinesischen Nationalmuseum am Platz des Himmlischen Friedens in Peking weitere ikonische Kulturbauten aus seiner Hand, das Maritim-Museum in Lingang oder die schiffsförmige Oper in Chongqing.
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Sie ist Sinnbild für Gerkans Verknüpfung westlicher und östlicher Architektur und Gedankenwelten. Sinnbild der weiten Reise Meinhard von Gerkans, die ihm vom Strand im lettischen Jurmala bei Riga über das Steilufer der Elbe in Hamburg bis an die Ufer des Jangtsekiang geführt hat. Welch ein reicher Lebensbogen, der sich am 30. November 2022 geschlossen hat.