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Milliarden am Meer

 

Marktgeschrei (33) | »Ich sach Dir mal wat: Seit vier Wochen bin ich hier, und wat meinste? Ich krich dat gebacken. Da sagen wir unsern Jungs, sie können Homeoffice von uns aus auf Malle machen, Hauptsache, wir werden den Schuppen los.« Der am Strand telefonierende Herr kann es sich offenbar leisten, wochenlang an einem der teuersten Orte der Republik im »Homeoffice« zu weilen. Die Strandpromenade ist ein öffentlicher Raum, den er mir nichts, dir nichts als sein Outdoor-Office nutzt: eine Groteske zu public private property und medialen Leerräumen.

Telefonieren im öffentlichen Raum, Stadtmobiliar und Kunst in Westerland (Bild: Ursula Baus)

Wo der Quadratmeter Wohnen schon mal 40.000 Euro und mehr kostet, sollten die Kommunen nicht die ärmsten und der öffentliche Raum in verfassungskonformer, gerechter Umverteilung für jedermann gepflegt und reizvoll sein. Weit gefehlt. Während im reichen Sindelfingen die weißen Flächen von Zebrastreifen hier und da aus Carrara-Marmor eingebaut wurden, zeigen sich Straßen und Bürgersteige hier auf Sylt wie Hinterlassenschaften recht ärmlicher Zeiten und zugleich unfähiger Planer und Ausführender. Die Böden von Westerlands Fußgängerzone scheinen aus Restposten von Bodenplatten bestückt zu sein, niemand achtet darauf, dass nicht jeder sein Angebot im öffentlichen Raum feilbieten kann – einen drastischeren Kontrast zwischen privatem Reichtum und geschrumpfter kommunaler Kraft findet man nicht so oft. Die Kunst im Sylter öffentlichen Raum ist nicht mal mehr peinlich, sondern einfach schlecht, auch das Stadtmobiliar ebenda sieht nach Resterampe aus.

Essen, Trinken, Tierliebe – alles wichtig, aber dafür ist der öffentliche Raum zu schade. (Bild: Ursula Baus)

Essen, Trinken, Tierliebe – alles wichtig, aber dafür ist der öffentliche Raum zu schade. (Bild: Ursula Baus)

Die Symptome des hiesigen Reichtums sind klassisch: Laute, herrische Chef-Stimmen, fette SUVs, röhrende Porsches und royale Bentleys, Minis mit weißem Leder-Interieur. Blondinen mit vergoldeten Fingernägeln, Falten verdeckenden Sonnenbrillen, Klamotten nicht immer vom Feinsten, aber doch Teuersten. Kampen ist auf seiner luxuriösen Flanier-und-Futterstrecke dabei mäßig besucht, die öffentlichen Räume abseits der Durchfahrtstraße präsentieren sich wie ausgestorben.

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Abstandsgrün, »Friesenwall«, Heckenwall zweifach – eine Zonierung des Raums in Kampen, die klare Grenzen setzt. (Bild: Ursula Baus)

Es ist noch Hauptsaison, die Häuser sind bewohnt, gleichen aber Trutzburgen mit doppelten, blickdichten Heckenreihen, Alarmanlagen-Indizien und gewaltigen, privaten Tiefgaragenzufahrten. Hier deutet nichts auf Ferienstimmung, heitere Stunden am Meer, unbeschwertes Miteinander. Die privaten Territorien sind groß genug, damit man nicht mit dem Hund raus und eine Begegnung mit Mitmenschen riskieren muss. Es offenbart sich hier eine spezielle Welt, in der das Verhältnis zwischen öffentlich und privat in eine merkwürdige Schieflage geraten ist.

2240_HabermasReale und mediale Öffentlichkeit

Jürgen Habermas erläutert in seinem neuesten, angenehm schmalen Buch den »neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit«, in der sich jeder zu unkontrollierter Autorenschaft ermächtigen kann.1) Man erkenne die »Erosion der Demokratie, die immer weiter fortschreitet, seitdem die Politik gegenüber den Märkten mehr oder weniger abgedankt hat. Aus dieser Sicht gehören Demokratietheorie und Kapitalismuskritik zusammen.«2)

Habermas bezieht sich auf die mediale Öffentlichkeit, die ihre Äquivalenz durchaus im öffentlichen (Kommunikations-)Raum findet. Die semiotische Deutung dessen, was man hier auf Sylt und vor allem in Kampen sieht, hat sich in den letzten Jahrzehnten in Kommunen manifestiert, die sich im Ganzen als »gated communities« profilieren und nicht wissen oder nicht wissen wollen, wie sie dem Markt gemeinwohlorientiert entgegensteuern können. Die kaschierende Inszenierung privaten Gewinns und die offenbare Sozialisierung des Verlusts nehmen sie hin. Gerade, aber nicht nur Kampen ist in dieser Hinsicht in der Art, wie öffentlicher Raum behandelt wird, aussagekräftig. Gunter Sachs (1932-2011), aus heutiger Sicht nachgerade ein Intellektueller, scheute seinerzeit nicht die Öffentlichkeit und schämte sich seines Reichtums nicht, wovon der »Standort Kampen« in Sachen Aufmerksamkeit und ökonomisch durchaus profitierte. Kampen heute symbolisiert indes die Dünkel und Überheblichkeit der Reichen, die die Öffentlichkeit scheuen und in ihren Blasen jene Echoräume konstruieren, die in der »medialen Öffentlichkeit« die deliberative Demokratie zerrütten. In Kombination mit Medienunternehmen zeichen sich hier analoge Strukturen des Metaverse ab, das scheinbar intentionslos propagiert wird.

Der Klenderhof in Kampen (Bild: Wikipedia free, Drisminstede)

Der Klenderhof in Kampen (Bild: Wikimedia Commons CC BY-SA 4.0, Drisminstede)

Kapitalismuskritik und mehr

Die Kampener »Blase« wirkt stilbildend für die ganze Insel – über Stilfragen kommt man auf Sylt auf architektonischer Ebene leider kaum hinaus. Immobilienangebote offenbaren bescheuerte Grundrisse, stümperhaft gefügte Baukörper, Hauptsache »unter Reet«. Unter Reet wurde auch der 2019 zu verkaufende »Klenderhof« gebaut, ein Haus mit abwechslungsreicher Geschichte. 1932 von Otto Firle3) für eine jüdische Kaufhaus-Erbin errichtet, die ihrem Mann Max Baldner – dem Cellisten des Klingler Quartetts – ein Sommerhaus schenken wollte. Es entstand dabei ein trutziges Ensemble, die nicht grundlos »Baldner-Festung« genannt wurde und Gäste aus Politik, Wirtschaft und Konzertleben anzog, unter anderem Hermann Josef Abs (1901-1994), seit 1937 Mitglied des Aufsichtsrats der I.G. Farben, ab 1938 Vorstandsmitglied der Deutschen Bank, deren Vorstandssprecher er von 1957 bis 1967 und zudem bis 1976 Aufsichtsratsvorsitzender wurde; daneben war er Berater Konrad Adenauers. Auch Herrmann Göring fand die Baldner-Festung vortrefflich; er wurde übrigens »Ehrenbürger Kampens«4) und hatte sich in Wenningstedt ein Sommerhaus bauen lassen, das bei Sotheby’s unter den Hammer kam.5)
Den Kampener »Klenderhof« vermietete und bewirtschaftete die Witwe Baldner, bis sie ihn 1950 an Axel Springer (1912-1985) verkaufte, der ihn sanierte, für »Verlagskonferenzen« nutzte und nach einem Brand 1973 auch wiederherstellen ließ. Die Witwe Friede Springer (*1942), deren Vermögen lt. Forbes auf über 3 Milliarden Euro geschätzt wird, verkaufte ihn an eine Schweizer Familie und einen Münchner Architekten, bis diese ihn weiterverkauften.
Hier schließt sich ein Kreis, in dem es um Öffentlichkeit geht. Axel Springer und der Reichtum, den er – und als machthabende Medienunternehmer auch Leo Kirch (1926-2011) oder Hubert Burda (*1942) – mit seinen Medien erwarb, ist Geschichte, insofern sie nicht mehr demokratietragend wirken, sondern unverhältnismäßige Privatvermögen hinterließen beziehungsweise -lassen.

Die gegenwärtige mediale Öffentlichkeit, wie sie Habermas begreift und in seiner »neuen Struktur der Öffentlichkeit« als nicht mehr demokratietragend analysiert, wird jetzt von Springer und vielen anderen Medientechnikern wie Facebook, Google & Co sehr gewinnträchtig befördert. Gewiss, man sollte von seiner Arbeit leben können, aber in diesem Sektor wirken die lukrativ arbeitenden Medientechniker nicht mehr im Sinne der vierten Kraft im Staat, weil sie nicht mehr deliberativ, sondern in erster Linie konsumbestätigend agieren; dafür stellen sie redaktionell unkontrollierte Medienräume für selbsternannte »Autoren« bereit, an vielen Stellen werden statt Redakteuren »Content Manager«  beschäftigt.

Zurück ans Meer. Das mutmaßlich teuerste Haus in Kampen, der Klenderhof, wo – siehe oben – Springer und kurze Zeit Schweizer residierten, gehört, so moin.de, inzwischen einem deutschen IT-Unternehmer: Ralph Dommermuth, deutscher Internet-Milliardär aus dem Westerwald (gmx.de und web.de), lebt eher zurückgezogen.
Der Klenderhof ist eine Inkarnation der Sylter Art des Bauens »unter Reet«. Bei Wikipedia lesen wir nun: »Axel Springer hörte 1977 in der Küche im Radio, dass in Deutschland jährlich fast 1.500 Kinder bei Verkehrsunfällen ums Leben kommen. Wenig später startete die Bild-Zeitung eine Kampagne unter dem Motto »Ein Herz für Kinder«, bei der bis heute fast 150 Millionen Euro an Spenden zusammen kamen.«6) Das wäre doch ein guter Anlass für eine Springer-Initiative heute, dass (nicht nur) Sylt autofrei zugunsten überlebender Kinder werde.

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Im Naturschutzgebiet »Braderuper Heide« (Bild: Ursula Baus)

Und trotzdem hierher reisen? Ja, denn das beste auf der Insel sind öffentliche Räume, die alles Private in die Schranken weisen und an Bedeutung gewinnen müssen: die Naturschutzgebiete, zum Beispiel die Braderuper Heide, die Wattgebiete und manches mehr. Mit einem strikten, absoluten Neubauverbot und flächendeckendem Autoverbot sowie maßstabsetzendem, hochleistungsfähigem ÖPNV. Auf andern Inseln geht das. Warum nicht auf Sylt?

Braderup, naturgeschützter Watt-Bereich (Bild: Ursula Baus)

Braderup, naturgeschützter Watt-Bereich (Bild: Ursula Baus)


1) Jürgen Habermas: Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik. Berlin 2022

2) ebda., Seite 87

3) Architekt und Grafik-Designer; von ihm stammt der Prototyp des Lufthansa-Logos. Bauten u.a.: Verwaltungsgebäude der Nordstern-Versicherung (Fehrbelliner Platz, Teil von Speers und Hitlers Berlin-Neugestaltung), Görings Landhaus Darß

4) Erst 2005 wurde der Wunsch publik, ihn doch – wenigstens symbolisch – aus der Ehrenbürgerliste zu streichen.

5) 2019 bei Sotheby’s ohne Hinweise auf Göring angeboten: https://www.youtube.com/watch?v=pclPLhW9tmI