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Offen für vieles


Der Kontext lässt sich auf vielerlei Weise interpretieren. Wie sich mit einem vorurteilsfreien Blick aus der Umgebung und der Aufgabe überraschende Architektur entwickeln lässt, die zu Entdeckungen einlädt, zeigen drei Beispiele aus Groß Kreutz, Kirchheim/Teck und Weinstadt.

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Where the wild Morels grow

Um es vorwegzunehmen: Der Name, den die Architekt:innen diesem Wohnhaus gegeben haben, bezieht sich das Dorf, in dem es realisiert wurde. „Schmergow“ ist slawisch und bedeutet: „Ort, wo Morcheln wachsen“ – entsprechend ist eine Morchel auch im Wappen des nicht einmal tausend Einwohner zählenden Dorfs zu sehen. Kein Haus also für fanatische Pilzsammler. Die Geschichte dieses Hauses ist so, wie man sie sich vielleicht auch beim Betrachten der Bilder hätte ausdenken könnte. Wie viele andere, von den Preisen in Berlin und dem dort knappen Wohnraum gedrängt, von einem Wohnen auf größerer Fläche, Garten und ländlicher Atmosphäre gelockt, hatte sich ein Paar in der Phase der Familiengründung eine Alternative im Umland von Berlin gesucht. Gefunden haben sie sie in der kleinen Gemeinde zwischen Potsdam und Brandenburg an der Havel, haben dort ein Grundstück gekauft. Das Budget für ein Haus war allerdings knapp.

D2242_AT_Pfeifer_morels_südwestinnenie mit der Planung für ein Haus beauftragen Architekt:innen von c/o now haben deswegen zwei Alternativen vorgeschlagen: Die eine, ein „kostengünstiges, roughes Haus aus Ortbeton, das aber dennoch die hohen ästhetischen Standards erfüllt, welche man aus Magazinen oder von Online-Plattformen kennt“, so die Architekt:innen, hätte nach überschlägiger Rechnung nicht mehr Wohnraum ergeben, als die Wohnung in Berlin, die man doch verlassen wollte, weil man über mehr Quadratmeter verfügen wollte. Und so entschied sich das Paar für die zweite. Sie ähnelt einerseits den konzeptionellen Ideen von Lacaton & Vassall: Komfort und Standards auf Notwendiges zu reduzieren, auf teure Materialien und prestigeträchtige Effekte zu verzichten und dafür Raum zu gewinnen. Und sie erinnert an die Arbeiten etwa Françoise-Hélène Jourdas und Gilles Perraudins, die das Haus-im-Haus-Prinzip nutzten, um den ungeheizten Zwischenraum als Klimapuffer einsetzen zu können.

Eine scheunentypische Holzkonstruktion mit mal geschlossener, mal transluzenter Trapezblechverkleidung, mit Schiebetoren und -fenstern sowie Sandwichpaneelen für das Dach, auf einer Grundfläche von 200 Quadratmetern, bietet im Innern Platz für den erweiter- und rückbaubaren Wohn- und Arbeitsraum. Das Konzept erlaubt einfache Lösungen, jenseits teurer Materialien und aufwändiger Abdichtungen: Einfach bauen einmal anders. Realisiert wurde ein zweigeschossiger Einbau auf 90 Quadratmeter Grundfläche, im Obergeschoss noch reduziert, so dass sich eine kleine Freifläche ergibt, sie wird derzeit als einigermaßen kindersichere Werkstatt genutzt, bald vielleicht zum Arbeitsraum ausgebaut. Erdgeschossig ist dem Einbau eine kleine Terrasse vorgelagert.
Erste Arbeiten wurden bereits im Selbstbau errichtet, zukünftige könnten folgen. Was aus diesem Haus werden wird, ist nicht nur offen, weil man die Zukunft nicht vorhersehen kann, sondern weil das zukünftige Unbekannte hier bereits im Konzept vorgedacht ist, das dazu ermuntert, Raum und Möglichkeiten zu nutzen: Arbeiten und Wohnen, in der Flexibilität, wie es neuen Lebensmodellen, den fluiden Biografien, den variantenreichen Familienformen unserer Zeit entspricht.



Ort: In der Gasse 6, 14550 Groß Kreutz (Havel) – Schmergow
Bauherrenschaft: Julia und David Klemme, Groß Kreutz
Architektur : c/o now
, Wilhelmshavener Straße 47
, Berlin
team c/o now: Nicolas Bobran, Tobias Hönig, Andrijana Ivanda, Toan Nguyen, Markus Rampl, Paul Reinhardt, Duy An Tran, Diyar Ünlüçay, Ksenija Zdešar, special thanks to Christian von Borries
Tragwerksplanung: Kränzliner Ingenieurbüro, Märkisch Linden, OT Kränzlin
Fotografie: Zara Pfeifer, Wien/Berlin


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Ansicht von Westen. (Bild: Sebastian Schels)

Brauereihalle in Kirchheim

„Der Kontext des umliegenden Gewerbemischgebietes gibt eine industrielle Architektursprache vor und lädt dazu ein, sich von Bernd und Hilla Bechers Fotoarbeiten alter Industriegebäude inspirieren zu lassen.“ So heißt es im Text des Architekturbüros zu seinem Industriebau für eine Start-up Brauerei in Kirchheim/Teck, südöstlich von Stuttgart. Die direkte Umgebung des Neubaus ist mit dem Verweis auf die Bechers, unbestrittene Größen der Fotografie, sehr freundlich bedacht. TÜV, Discounter, Autohändler, einzelne ältere Gebäude, die noch ein wenig das Flair von regionaler Eigenheit verbreiten, die nahe Autobahn im Süden, im Osten eine ausgebaute Bundesstraße – hier herrscht üblicher Gewerbegebietsalltag. Den ebenso üblichen, herablassenden Urteilen über Gewerbegebiete wollen sich mehr*architekten allerdings nicht anschließen.

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Ansicht von Südosten mit dem kleinen, als Biergarten nutzbaren Platz vor der Halle. (Bild: Sebastian Schels)

Die kleine Brauereihalle macht deutlich, wie offen die Architekt:innen die Qualitäten des Orts gesucht haben, wie sehr sie die künstlerische Sicht auf den Alltag angeeignet haben, der in diesem Alltag das entdeckt, was sonst so oft geflissentlich übersehen wird. Und sie haben etwas entworfen, was man gerne ansieht, nicht als Kontrapunkt seiner Umgebung, sondern aus ihr entwickelt.

Der Neubau schließt einen offenen, aus Gebäuden verschiedener Höhe und Nutzung entstandenen Hof. Zur Straße hin bleibt, von einer niedrigen Mauer gefasst, Platz für einen kleinen Biergarten. Die zwei Sichtbetionstirnwände geben die starke Bildhaftigkeit vor: Sie verbinden die Form aus Pultdach mit aufgesetztem, asymmetrischem Oberlicht zu einer Art Scherenschitt-Silhouette. Ein rundes Fenster verhindert, dass das Gebäude allzu streng und hermetisch wird: Es mag paradox klingen, aber gerade dieses spielerische Element befreit das Gebäude von der Last, sich minimalistischer Kunst andienen zu müssen und Industriebau sein zu können.

Zwischen den beiden Wänden spannt sich die Halle unter einer Stahlkonstruktion, großzügig belichtet von den beiden mit Profilitglas verkleideten Längsseiten. Ein Vordach nach Süden, im Hofinnern, kennzeichnet die Anlieferung. Einfach und schlicht die Materialien auch im Innern: Die Konstruktion ist aus Stahl, weiß gestrichen, der Industrieboden ist hell beschichtet. In Sichtbeton ist der eingeschossige Einbau für die Sanitäranlagen und Kühlanlage, darüber, holzverschalt, der Bürokubus. Kesselanlage, Zutaten, alles ist, einem Schaulager gleich, offen, sichtbar und übersichtlich; zwischen Braukessel und Lagertanks findet sich noch Platz für eine Theke. Man wünscht dem Unternehmen und dem Haus viele Besucher – vielleicht wird der ein oder andere auch dazu angeregt, auch die Umgebung mit anderen Augen zu sehen. Das aber so zurückhaltend, wo wenig auftrumpfend, dass es auch anderen möglich sein sollte, der Einladung der Gastgeberin zu folgen und „neuen Gedanken nachzuhängen“.



Ort: Faberweg 24/1, Kirchheim unter Teck
Bauherrenschaft: Wagner Vermögensverwaltung GmbH & Co.KG
Architektur: mehr* architekten brodbeck, rössler, van het hekke, Kirchheim unter Teck
Projektteam: David Brodbeck, Projektleitung Entwurf; Jens Rössler, Bauleitung; Dennis Miller, Projektarchitekt; Sabine Häcker, Projektarchitektin
Tragwerksplanung: bb baustatik, Kirchheim unter Teck
Bauphysik: Jürgen Rieschl, Energieeffizienz-Experte, Lenningen
Haustechnik: Hans Klein, Schlierbach
Fotografie: Sebastian Schels


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Ansicht von Süden. (Bild: Sebastian Schels Pk. Odessa)

Seminarhaus in Weinstadt

Dieses Haus in Weinstadt ist das dritte Beispiel für eine originelle Interpretation des Kontextes, dessen Qualität sich beim genaueren Hinsehen erschließt. Keine spektkuläre Geste, ein Satteldach, gedeckt mit roten Tonziegeln, mit großen Fensterflächen und Wellblechen, die Akzente setzen. Man könnte von fast schon provozierender Alltäglichkeit sprechen. So ist etwa die Rückseite ländlichen Schulbauten der Nachkriegszeit nicht ganz unähnlich. Dass der Neubau nicht zu teuer sein durfte, ist Teil dieser Interpretation des Orts, aus der sich ein Spiel mit ortsüblichen Architekturelementen entfaltet, zu denen auch das Wellblech gehört. Es ist als Brüstungsband eingesetzt, verdeckt Zuluftöffnungen und den Sonnenschutz, gliedert die Fassade.

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Im Seminar- und Gemeinschaftsbereich. (Bild: Sebastian Schels Pk. Odessa)

Das „Haaus“ steht in Baach, einem kleinen und idyllischen Teil von Weinstadt, einer im Zuge der Gemeinderefom in den 1970ern entstandenen Kommune. Baach gehört zum Stadtteil Schnait und hat gerade mal etwas mehr als hundert Einwohner; das Doppel-A wurde für das Seminarhaus übernommen. Dieser Move ist der architektonischen Strategie nicht unähnlich, die Verbundenheit mit dem Ort auszudrücken, Elemente aufzugreifen, ohne sich allzu glatt anzubiedern; Rücksichtnahme auf den Ort, ohne in die Idyllenfalle zu tappen. Der erste Eindruck, es könnte sich um eine Sanierung handeln, ist nicht abwegig: Das Bauernhaus, das vorher hier stand, wurde abgerissen, aber erst, nachdem sich die anfänglichen Überlegungen, es zu erhalten und umzubauen, als nicht tragfähig erwiesen haben.

Gebaut wurde das „Haaus“ für eine junge Gastronomin, die aus dem Ort kommt und nach ihrer Ausbildung und beruflichen Stationen zurückgekehrt ist, um ihren Heimatort und den gegenüberliegenden, elterlichen Gasthof um ein belebendes Element zu ergänzen. Ein Seminar- und Tagungshaus, das, so die Inhaberin, „zwischen all der Hektik in den Büros und Arbeitsplätzen dieser Welt“ neuen Ideen Raum geben soll. Wie es das Äußere schon andeutet, ist das Haus aus zwei Teilen zusammengesetzt, einem zweigeschossigen Trakt für die Zimmer und einem durchgehenden Tagungs- und Gemeinschaftsbereich mit Küche und Galerie. Ein Balkon verbindet den Neubau mit dem landwirtschaftlichen Altbau nebenan.

Im Innern zeigt sich deutlich die Architektursprache des jungen Büros Studio Ö. Eine offene Raumfigur, geprägt von robustem Sichtbeton und sehr fein gefügten Bauteilen, Pfetten, Wand- und Deckenscheiben, Stützen, Einbauten. Rau – Brüstungen sind beispielsweise aus Gitterrosten – und dennoch offen, freundlich hell, weil die Umgebung Teil des Inneren wird. Eine Atmosphäre, die auf die Kreativen der Metropolregion zielt, die mit einem solchen Charme etwas anzufangen wissen, die es zu schätzen wissen, wenn die Pragmatik der Vergangenheit in eine der Gegenwart übersetzt wird, anstatt sentimental verklärt zu werden. Das aber so zurückhaltend, so wenig auftrumpfend, dass es auch anderen möglich sein sollte, der Einladung der Gastgeberin zu folgen und hier „neuen Gedanken nachzuhängen“.



Ort: Forststr. 17, 71384 Weinstadt-Baach
Bauherrenschaft: privat
Architektur: STUDIO Ö Anna Wöllhaf Christoph Brösamle Architekten, Weinstadt
Tragwerksplanung: Gerald Wondratschek, Weinstadt
HLS: BBQS Engineering GmbH, Kernen im Remstal
ELT: Körner Ingenieure, Waiblingen
Bauphysik: Achim Schmitt, Schmitt + Mann beratende Ingenieure, Stuttgart
Lichtplanung: Altena GmbH, Ingenieurbüro für Lichttechnik, Weinstadt
Fotos: Sebastian Schels Pk. Odessa