Das Einzigartige von Architektur erweist sich auch darin, dass sie Anlass zu Reflexionen gibt, die ohne sie nicht möglich wären. Sie fundieren die Gegenwart im Vergangenen und klären so den Blick auf das Aktuelle.
Was, wenn man Ästhetik und ästhetische Grundbegriffe von der Architektur her diskutieren würde? Diese Frage stellten sich Daniel Martin Feige und Sandra Meireis – und baten Wissenschaftler:innen verschiedener Disziplinen um Antworten. Die Antworten liegen nun in einen Buch vor, sie werden gegeben aus der Perspektive von Design, Architekturtheorie, Architekturgeschichte, Musikwissenschaften und der Philosophie.
„Eine am Paradigma autonomer Kunst oder an einer kontemplativ verstandenen Theorie ästhetischer Erfahrung orientierte Ästhetik wusste mit der immer auch auf Zwecke bezogenen Architektur nicht immer viel anzufangen“, heißt es im Klappentext. Klagen wie die, dass es niemand mehr wage, „auf internationalen Ausstellungen mit Architektur zu punkten, die einfach nur schön oder sonstwie ästhetisch ist“ (Bernhard Schulz) sind also nicht ganz so neu – oder anders ausgedrückt: die Auseinandersetzung mit Architektur aus ästhetischer Sicht ist immer eine eigene und andere, weil sie ohne die Bindung an Nutzung und Funktion unvollständig wären.
Dass sich die entsprechende Auseinandersetzung gerade wegen dieser Besonderheit der Bindung an den Zweck lohnt, zeigt dieses (im übrigen auch anregend und dennoch unaufdringlich gestalteten) Buch, in dem sich Beiträge von bekannten Autor:innen mit denen von Nachwuchswissenschaftler:innen mischen. Das Spektrum spannt sich – nicht ganz unerwartet – von Reflexionen philosophischer Ästhetik (seit) der Neuzeit (Jörg Gleiter), Ausflügen in Kirchenbau und frühe Christenheit (Sokratis Georgiadis), von Gedanken zum Bau von Opernhäusern im Ostseeraum (Verena Liu und Gesa zur Nieden) bis zur Frage nach der Bedeutung von Ästhetik in der aktuellen Architekturpraxis, etwa in Bezug auf die Verwendung der KI (Sandra Meireis) oder der Frage, inwiefern eine nachhaltige Architektur neue ästhetischer Erfahrungen ermöglichen müsse (Anke Haarmann und Matthias Ballestrem). Den Kontext der Stadt bezieht Stephan Trüby in seine Überlegungen ein, Lidia Gasperoni nimmt die Ästhetik des Experimentellen unter die Lupe.
Was als Ausgangsüberlegungen zu diesem Buch geführt hatte – dass nur eine spezifische Reflexion des Ästhetischen der Eigenheit von Architektur gerecht werden kann – erweist sich dabei als ertragreiche Aufgabenstellung. Die Beiträge erschöpfen sich glücklicherweise nicht darin, Ästhetik als Zwangsbindung an Schönheit zu verstehen. Und hätten vielleicht auch noch weiter gehen können. Denn die Frage, was die um uns stattfindende Zerstörung von Natur, Häusern und Lebensräumen für eine Ästhetik des Architektonischen bedeutet, gerade dann, wenn man in ihr eine Vermittlungsleistung für neue Praktiken im Bereich des Architektonischen sieht, bleibt etwas außen vor. Aber das ist ja auch ein Zeichen von Qualität: dass sich neue Fragen stellen und zum Weiterdenken animiert wird. Vielleicht gibt es ja in absehbarer Zeit einen Folgeband. Ich freue mich schon darauf.
In der Reihe der Wiener Schriften zur Kunstgeschichte und Denkmalpflege, herausgegeben am Institut für Kunstgeschichte, Bauforschung und Denkmlapflege, erschien als Band 7 die Abschlussarbeit von Maximilian Müller über Hermann Czech. Müller hat für seine Arbeit den engen Bezug zwischen theoretischer Reflexion und Praxis in Czechs Oeuvre in den Mittelpunkt gestellt und vertritt dabei die These, dass Czechs Arbeit davon geprägt sei, Ambivalenzen von Architektur Ausdruck zu verleihen und sie durch das Bauen erst zu einer Synthese zu führen, die Gegensätze vereint.
Dieser gleichzeitig der komplexen Materie gerecht werdende und dennoch übersichtlich bleibende Ansatz bleibt überzeugend, weil Müller sich auf Gegensatzpaare konzentriert – Übermut/Unterschätzung, Konsumtion/Produktion, Kunstwerk/Gebrauchsgegenstand, Manierismus/Partizipation, Subjektivität/Objektivität sowie Alt/Neu hat er für seine Arbeit gewählt. Sie eignen sich gut, einen Einstieg in das Werk und Denken von Hermann Czech zu gewinnen und seine Bauten zu verstehen. Sei es die Wohnsiedlung im Franz Kamter-Weg, in denen Partizipationsmethoden als Ausdrucksmittel verwendet wurden, etwa in dem leicht zurückspringende Putzfelder deutlich machen, in welchem Bereich die Nutzer:innen die Position und Größe von Fenstern bestimmen konnten; sei es das Haus Schwechat, in dem Czech den Raumplangedanken von Adolf Loos aufgreift. Das führt zu einer räumlichen Differenzierung auf der Basis einer Auseinandersetzung mit dem Ort, die den Entwurf gegen industrielle Konsumgutlogik sperrt.
Czechs Texte und Arbeiten werden aufschlussreich in den Kontext der Zeit gestellt. So polemisiert sein berühmtes Diktum „Architektur ist Hintergrund. Alles andere ist nicht Architektur“ gegen Hans Holleins „Alles ist Architektur“ – so ganz Hintergrund ist auch Czechs Architektur keineswegs immer. Manche Bezüge zum aktuellen Geschehen wirken dabei auch mal etwas konstruiert. Czechs sich der Eindeutigkeit verweigernde Ironie an Robert Venturi zu messen, ist etwas weit hergeholt, vor allem, weil sich auch andere und näherliegende Referenzen hätten finden lassen, gerade auch in der österreichischen Architektur der Moderne oder im Design der der Nachkriegsmoderne. So wird in manchem Teil des Textes eher der Eindruck erweckt, dass Schulwissen abgearbeitet wird, etwa auch ein Exkurs über die österreichische Architektur, in dem merkwürdigerweise die für Czech wichtige Wiener Gruppe fehlt.
Viele der für Czech wichtigen Referenzen – allen voran Josef Frank und Adolf Loos – werden eingeführt, die distanzierte Nähe zu Christopher Alexander herausgearbeitet, den Czech einerseits schätze, in dessen Haltung er andererseits die romantisierende Vorstellung einer alles überwölbenden Harmonie sah. Dass Czech das Bauen und Entwerfen als Umbauen verstand, macht ihn und eine Denken für aktuelle Diskurse besonders interessant und die Auseinandersetzung mit seinem Werk lohnend.
Eine große Freude macht der von Gabriella Schaad und Torsten Lange herausgegebene „Archithese Reader“, der Texte der gleichnamigen schweizerischen Zeitschrift aus deren Anfangszeit zusammenstellt. Der Mitgründer Stanislaus von Moos gab mit der Archithese dem heterogenen und pluralistischen Diskurs der frühen 1970er Jahre eine Plattform. Das ist im Rückblick außergewöhnlich spannend, weil Architekt:innen und Planer:innen in verschiedenen Bewegungen Orientierung zu gewinnen suchten in einer Zeit des Umbruchs, der heutigen vergleichbar – damals, weil die Ideen einer zum Baufunktionalismus herabgesunkenen heroischen Moderne an Kraft verloren hatten und auf zu viele Fragen keine Antworten mehr geben konnte.
Beiträge von Bruno Reichlin, Fabio Reinhardt und Martin Steinmann, von André Corboz, Denise Scott Brown, Franksziska Bollerey und Kristiana Hartmann, von Rem Koolhaas, Gorgio Grassi, Charles Jencks und Aldo Rossi sind hier zu finden, Beiträge, die dem anonymen Bauen und der „Selbsthilfe-Architektur“ etwa in Nairobi nachspüren, von Experimenten im gemeinsamen Wohnen berichten oder das kollektive Wohnen von Owen und Fourier aufarbeiten. Dargestellt in vergilbtes Papier simulierenden Facsimiles der Originalseiten, denen englischen Übersetzungen beigestellt sind, gegliedert in fünf Kapitel, lässt der Reader diese Zeit und ihre Debatten wiederaufleben.
Jedem der fünf Kapitel ist ein längeres einleitendes Essay vorangestellt, das die Beiträge von damals kontextualisiert und sie auf heutige Debatten bezieht. Dabei stellt sich wiederholt die Einsicht ein, dass ein Bezug auf die Radikalität damaliger Debatten heute hilfreich sein könnte. Damals wie heute zeigt sich, dass mitunter Bürgerinitiativen „die sozioökonomischen Interessenkonflikte wesentliche schärfer als die professionellen Politiker sehen“ (Marianne Günter und Roland Günter 1972); auch heute könnte man die Ansicht vertreten, es sei möglich „den neuen Hang zum Historismus so zu verstehen, dass er nicht eine Alternative zur monolithischen Moderne bildet, sondern eine latent vorhandene Fliehkraft aufdeckt, die nie sehr tief unter der Oberfläche lag.“ (Alan Colquhoun, 1976). Dass die Auseinandersetzungen teils recht heftig waren, daran erinnern die nicht verlängerten Lehraufträge dreier Gastdozenten an der ETH, denen linke Agitation vorgeworfen wurde. Die Archithese druckte einige der Texte der umstrittenen Seminare. Heute vorstellbar?
Man kann sich leicht in diesem Fundus an anregenden Texten verlieren und die Zeit vergessen, um bereichert und inspiriert daraus wieder auftauchen; möglicherweise auch ein wenig frustriert darüber, dass die Texte von damals so aktuell geblieben sind. Oder aber ermutigt – denn die Parallelität der Zeiten macht kritisches Denken nur umso dringender.