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Kenntnisreichtum, Proklamationen, Emotionen: Wie sich Architekturgeschichte erarbeiten und vermitteln lässt, entspricht der Vielfalt von Perspektiven, mit denen auf alles und nichts zurückgeschaut werden kann. Methoden, Mythen und Manifeste kennzeichnen nur Teile davon – drei neue Bücher illustrieren eine geisteswissenschaftliche Verunsicherung.


Winfried Nerdinger: Architektur in Deutschland. 816 Seiten, 251 Abbildungen, 49,90 Euro, e-Book 39,99 Euro. München, Beck 2023. ISBN 978-3-406-80710-7 2023

Winfried Nerdinger: Architektur in Deutschland. 816 Seiten, 251 Abbildungen, 49,90 Euro, e-Book 39,99 Euro. München, Beck 2023. ISBN 978-3-406-80710-7 2023

Es ist die Aufgabe von (Architektur-) Historikern, Wissen über die Genese der gebauten Welt zu erschließen, zusammenzutragen und zu erklären. Dass die jeweiligen Gegenwarten, aus denen heraus Geschichte „geschrieben“ wird, unterschiedliche Perspektiven offenbaren, ist gut und lässt die Auseinandersetzung mit Geschichte auch immer recht kurzweilig erscheinen. Zur Architekturgeschichte in Deutschland im 20. Jahrhundert liegen mehr als ein Opus magnum vor – etwas verstaubte Stilgeschichten sind auch dabei. Zu nennen sind nun der kürzlich verstorbene Wolfgang Pehnt, der 2005 auf 592 Seiten „Deutsche Architektur seit 1900“ vorstellte.1) Und Werner Durth, der mit Paul Sigel 2009 den 784 Seiten umfassenden Band „Baukultur. Spiegel gesellschaftlichen Wandels“ publizierte.2) Nun legt Winfried Nerdinger, der an der TUM Architekturgeschichte gelehrt und am angeschlossenen Architekturmuseum der TUM klare Themen gesetzt hat, ein weiteres Werk vor. Hatte Wolfgang Pehnt ein glänzend erzähltes, erklärendes Panorama des Bauens seit 1900 vorgelegt, in dem die Faszination vom Gebauten nicht ganz unter den Tisch fiel, las sich die „Baukultur“ von Durth und Sigel schon etwas nüchterner, wurden doch Soziologie und Politik stärker berücksichtigt. Winfried Nerdingers Forschungsschwerpunkte lagen nun bislang beim Bauen im Dritten Reich und in Bauwirtschaftsfunktionalismen des 20. Jahrhunderts. Jetzt spannt er in seinem neuen Buch den Bogen deutlich weiter. Jedes der fünf chronologisch aufgebauten Kapitel – Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus, Nachkrieg 1945-1949, Systemkonkurrenz 1949-1990 – ist mit einem stets gleichbenannten Blick auf Bauwirtschaft, Baupolitik und Berufsstand – begonnen. Um es gleich zu sagen: Architekten kommen mit ihrem berufsständigen Dasein nicht gut weg, so heißt es pars pro toto im Abschnitt „Nationalsozialismus“: Zielsetzungen zur Stabilisierung des NS-Systems „und die dafür letztlich gewissenlos arbeitenden Architekten müssen deshalb im Fokus jeder Betrachtung der im Nationalsozialismus betriebenen Planungen und der realisierten Bauten stehen“. (Seite 280).
Mit großer Wissensfülle sind die fünf Zeitabschnitte in ihren Eigenarten aufgeschlüsselt. Und deutlich wird, dass an vielen Miseren lobbyistisch gesteuerte Politik und ein fehlgeleitetes Wirtschaftssystem großen Anteil haben. Was uns gegenwärtig um die Ohren fliegt – die Bodenfrage, das Wohnungsproblem, das ökologische Harakiri – erläutert Nerdinger überzeugend in Ursachen und einer dynamischen Entwicklungsgeschichte, die Architekten immer weniger Einfluss aufs Gebaute beschert. Und im wesentlichen ist diese Bedeutungsminderung des Berufsstands selbstverschuldet. Kriterien klassischer Architekturgeschichtsschreibung – wie formale Fragen, individuelles (Bau-)Künstlerverständnis – spielen in Winfrieds Nerdingers Darstellung keine wesentliche Rolle. Schließlich fällt die Einschätzung von „Wiedervereinigung und Ausblick“ (ab Seite 625) im letzten Kapitel düster aus. Mit der Wiedervereinigung zeigte sich „der Umbau Berlins zur neuen Kapitale der Bundesrepublik entsprechend den wirtschaftlichen wie auch politischen Interessen in anderen Dimensionen und nach internationalem Kommerzmaßstab. (…) …in der Berliner Republik ging es nur noch um politische Repräsentations- und kommerzielle Funktionsbauten.“ (Seite 629f.). Mit guten Gründen rückt der Autor schließlich in gutes Licht, was Karl Ganser mit der IBA Emscher Park in den 1990er Jahren geglückt ist. „Wandel ohne Wachstum“ war Gansers Zielrichtung, die – das erwähnt Nerdinger nicht – mit den IBAs im Osten der Republik durchaus Nachfolge fand. In der 88 Seiten umfassenden Bibliografie rückt sich der Autor mit allein drei ganzen Seiten in eine Quellenreihe, die man gerne relativiert gesehen hätte.
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1) Rezensionen: Dieter Bartetzko: Tausendundeine Architektur. Lehrreich für alle Bürger: Wolfgang Pehnt führt durch Deutschlands Bauten. In: FAZ, 25. November 2005; Gert Kähler: Heute ist Wüstenrot-Tag. Wolfgang Pehnts große Geschichte der deutschen Architektur seit 1900. In: Süddeutsche Zeitung, 28. Oktober 2005; Winfried Nerdinger: Amüsante Häppchen. Wolfgang Pehnt plaudert über die deutsche Architekturgeschichte. In: Die Zeit, 6. Januar 2006;

2) Werner Durth, Paul Sigel: Baukultur. Spiegel gesellschaftlichen Wandels. Berlin, Jovis 2009 (Rezensionen: Gerd Held. In: Die Welt, 2.1.2010; Jürgen Tietz: Architektonische Selbstvergewisserung. In: NZZ, 24.12.2009; Bernhard Schulz: Opus magnum. In: Baumeister, B12 2009.


Laura Strack, Moritz Hannemann, Klaus Ronneberger (Hrsg.): Baustelle Commune – Henri Lefebvre und die urbane Revolution von 1871. Fotografien von Jan Lemitz, Vorwort von Ulrike Haß. 340 Seiten, adocs 2023, 24 Euro.ISBN 978-3943253610

Laura Strack, Moritz Hannemann, Klaus Ronneberger (Hrsg.): Baustelle Commune – Henri Lefebvre und die urbane Revolution von 1871. Fotografien von Jan Lemitz, Vorwort von Ulrike Haß. 340 Seiten, Hamburg, adocs 2023, 24 Euro. ISBN 978-3-943-253610

Es ist ein schön gemachtes Buch: übersichtlich gegliedert und gestaltet, als habe ein Grafiker nichts anderes im Sinn gehabt als das Lesen einfach und angenehm zu machen. Es geht um die sehr kurze, gleichwohl komplizierte Geschichte der „Pariser Commune“ von 1871: Während des deutsch-französischen Kriegs 70/71 hatte sich in Paris spontan ein revolutionärer Stadtrat gebildet, den es vom 18. März bis zum 28. Mai 1871 gab und der Paris nach sozialistischen Prinzipien zu verwalten suchte. In den innenpolitischen Wirren einten sich unterschiedliche Aktivisten auf die Autonomie von Paris, wo zunächst die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Lebensbedingungen der Bürger verbessert werden sollten – etwa durch Mieterlass, Überlassung von nützlichen Gegenständen usw. Sozial- und politikgeschichtlich wird die kurze Zeit der Pariser Kommune als „Beginn einer neuen Epoche“ (Sebastian Haffner) bezeichnet, weil die grundsätzliche Ordnung der Gesellschaft neuen Maximen folgte: Demokratie, Parlamentarismus, Sozialismus, Frauenemanzipation. Im Mai 1871 endete die Kommune damit, dass die Kommunarden von den französischen Truppen niedergemetzelt wurden.
Henri Lefebvre (1901-1991) hatte seine Sicht auf die Commune 1965 unter dem Titel „La proclamation de la commune“ veröffentlicht, in der er die Praxis der Commune quasi als Dreh- und Angelpunkt einer werdenden Geschichte beschrieb. Die Commune sei, so Lefebvre, der bislang einzige „Versuch eines revolutionären Urbanismus“. Nun liegt dieser Text in übersetzten Auszügen vor, hilfreich erläutert und kommentiert von Laura Strack, Moritz Hannemann und Klaus Ronneberger. Einige spätere Publikationen Lefebvres (Le droit à la ville 1968, La révolution urbaine 1970, La production de l’espace 1974) weisen ihn als marxistisch beeinflussten Stadtsoziologen mit geschichtsphilosophischen Interessen aus, die Klaus Ronneberg so zusammenfasst (Seite 251): „Die Praxis schafft die Geschichte und Geschichte wird ‚von unten‘ gemacht“. Der Band endet mit einem Foto-Essay von Jan Lemitz, in dem unter anderem die Pariser Place Vendôme auftaucht. Hier hatte Napoleon aus Anlass seines Sieges in Austerlitz eine Säule errichten lassen – am 16. Mai 1871 wurde sie niedergerissen und der Platz interimsmäßig, für 78 Tage, in Place Internationale umbenannt. Die gemeinwohlorientierten Überlegungen Lefebvres scheinen gegenwärtig an Aktualität zu gewinnen – es lohnt sich deswegen, das Buch immer wieder in die Hand zu nehmen.


Susanne Stacher: Architektur in Zeiten der Kriese. Aktuelle und historische Strategien für die Gestaltung "neuer Welten". 200 Seiten, 32 Abbildungen, Birkhäuser 2023, 42 Euro. ISBN 9783035627725

Susanne Stacher: Architektur in Zeiten der Krise. Aktuelle und historische Strategien für die Gestaltung „neuer Welten“. 200 Seiten, 32 Abbildungen, Birkhäuser 2023, 42 Euro. ISBN 9783035627725

Das Buch ist aus dem Französischen übersetzt, was die eine oder andere Ungereimtheit erklären mag. Die Autorin – Architektin – schaut auf Architekturprojekte „jüngeren Datums“ und verfolgt nach eigenen Angaben das Ziel, „Architekturgeschichte neu auszulegen“ (Seite 7). Allerdings liegt ihrer Schrift eine recht antiquierte Auffassung zugrunde: Krisen aller Art schlagen sich nach Susanne Stachers Ansicht „insbesondere in der Architektur nieder, die wie andere künstlerische Praktiken als Vorreiterin das Bild einer ’neuen Welt‘ über die Trümmer der ‚alten‘ breitet“ (Seite 7) Hier leuchtet das sehr alte Verständnis des Architekten als Demiurg auf, das sich durch das ganze Buch zieht. „Angesichts von Krisen, so meine Hypothese, müssen Architekt:innen Strategien entwickeln, um ihre eigene Raum-Zeit zu erschaffen, und sich dem Chaos entziehen, indem sie eine ’neue Welt‘ kreieren“. (Seite 8) Architekten als Schöpfer neuer Welten? Weiß die Autorin um die Bauzeiten der Gegenwartsarchitektur? Eines Bahnhofs in Stuttgart, eines Flughafens in Berlin?
Soziologie, Politik, Wirtschaft verschwinden im Buch hinter derzeit gehypten Begriffen wie Krise, Katastrophe, Kollaps – Kollapsologie –, und ausgerechnet Architektinnen sollen mit ästhetisch ambitionierten Projekten unter anderem für die „Wiederverzauberung der Welt“ sorgen. Heute bestehe „die Herausforderung gerade darin, dass wir angesichts der bedrohlichen Krisen eine reflektierte und zugleich kreative Haltung einnehmen, die uns handlungsfähig macht“ (Seite 21). Könnte jeder deutsche Politiker, jeder Unternehmerin so auch formulieren.
Die Autorin schlägt dafür vier „Figuren“ vor, mit dem der Projektteil (Seite 33 – 162) strukturiert ist. Das sind: 1. Archaismus / Sprung rückwärts in Raum und Zeit; 2. Zurück zur Ländlichkeit / Streben nach Entschleunigung; 3. Schaffen durch Zerstören / Beschleunigung als Mittel zum Zweck; 4. Wiederverzauberung der Welt / Aufhebung der Zeit durch einen Sprung in die Zukunft.
Die Projekte – Unbekanntes ist nicht dabei – sind in den Plänen schwarzweiß, in den Fotos in rot-schwarz-Farbkombination abgedruckt, was – wie die rosa gefärbten Textseiten – dem Buch eine rosarote Anmutung verleiht. Die Projekte stammen von „namhaften Vertretern“ (von Durand über Hollein, Ishigami, Howard, Loos, Meyer, Taut, Sant’Elia, Corbusier, Bjarke Ingels, Cedric Price, Archigram bis Nishizawa und Rei Naito) – ihren Beitrag sieht der Autorin darin, wie sie mehrfach betont, durch das „Prisma der Krise“ darauf zu schauen. Sie referiert dazu diverse Krisenmodi (Seite 10 f.), die teils global, teils eurozentrisch zu verorten, aber als solche nicht benannt sind. Die gesamte Geschichte utopischer Architekturentwürfe ist im Buch nicht nachvollziehbar verkürzt angedeutet und auch bibliografisch nicht erschlossen.
Die Autorin benennt nun programmatisch den Philosophen Michaïl Fœssel, der das Ende der Welt bereits sieht und die Frage stellt, was das Reale zu einer wirklichen Welt mache (Seite 11). Dieser erkenntnistheoretisch steilen These geht sie leider nicht nach. In der Relevanz des Ästhetischen für die neuen (Architekten-)Welten bezieht sich Susanne Stacher auf Jacques Rancière, für den die Künste auch als „Formen der Einschreibung des Sinns der Gemeinschaft“ wahrgenommen werden könnten (Seite 19). Architektur wird im Buch als weltrettende „Kunst“ deutlich überfordert – und mit ihr Architektinnen, die faktisch mit ihren Kammerzulassungen und Honoraren zu tun haben. Das interessiert hier im Buch nicht – Soziologie, Wirtschaft, Politik: wie gesagt Fehlanzeige. Bemerkenswert ist, dass mit Paolo Amaldi und Philippe Potié zwei Autoren am Ende unter anderem erläutern, was die Autorin meine, resümiernd Potié: „Angesichts des Katastrophismus einer angekündigten Apokalypse besteht die Verantwortung des Architekten darin, die ‚Enthüllung‘ von ‚Projekt-Figuren‘ vorzunehmen, deren erste Umrisse Susanne Stacher skizziert und die, wie ich glaube, in einer ästhetischen Dialektik dekliniert werden, die die farbige Kurve mit dem Weiß der Linie konfrontiert“ (Seite 182). Diese Sicht hat sich mir durchaus nicht erschlossen. Architektur in „Zeiten der Krise“ ist gegenwärtig nicht ästhetisch autonom, sondern das Produkt sozioökonomischer, politischer Verhältnisse, was Winfried Nerdinger überdeutlich darlegt (siehe oben), in Susanne Stachers Publikation aber befremdend ignoriert ist.