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Utopie und Wirklichkeit


So mancher Aufbruch in eine vermeintlich bessere Zukunft ist gescheitert. Dennoch darf man sich immer noch fragen, ob nicht wieder Inspiration und Anregung von dem ausgehen kann, was einmal von Hoffnungen auf eine andere Welt getragen war. Drei Buchempfehlungen.

 

 

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Adrien Golinelli: Ordos. The stillborn City.
216 Seiten 128 Farbabbildungen, englisch, 45 €
Keher Verlag, Heidelberg, 2016

Irgendwo in der inneren Mongolei liegt Ordos. Eine neue Stadt für mindestens eine Million Bewohner, an der vor etwas mehr als zehn Jahren angefangen wurde zu bauen. Eine politische Entscheidung, keine ökonomische. Ordos ist, gemessen an seiner Größe, wenig bewohnt, einige tausend Menschen mögen es sein – das Leben hier ist teuer, Klima und Landschaft sind rau. Und es gibt keine Arbeit, außer der, weiter an der Stadt zu bauen. Und irgendwo in der Nähe wird Kohle abgebaut. Dafür braucht man aber keine Millionenstadt. Adrian Golinelli hat Ordos portraitiert. Er dokumentiert ohne jegliches Pathos die Leere der geplatzten Hoffnung, die als Kulisse aus politischen Gründen aufrechterhalten wird und deswegen um so trostloser wirkt. Große Baustellen, Container, Baubrigaden, Bulldozer. Leere Straßen, leere Häuser, ein Kinderzimmer, die Handschuhe eines Bauarbeiters, Latrinen. Detailaufnahmen wechseln mit Panoramabildern, mal scharf, mal grobkörnig. Mal werden die Motive angeschnitten, mal mittig platziert. Golinelli arbeitet nicht konzeptionell, sondern dokumentarisch, zeigt Bauten, interpretiert Details als Zeichen: wen soll eine Überwachungskamera hier überwachen? Das entwickelt eine enorme suggestive Kraft, die weit über das Dokumentarische hinausgeht. Und Golinelli zeigt die Menschen von Ordos. Die Menschen, die hier leben, die versuchen, sich einzurichten, festzuhalten an den Vorstellungen des Lebens, das sie sich gemacht haben mochten, bevor sie hier her kamen. Sie inszenieren einen Luxus, der fehl am Platz ist. Daneben die Bauarbeiter, die Dienstleister, Putzfrauen, Hostessen, die Parias, manche von ihnen kommen auch in kurzen Texten zu Wort. Die Stadt beginnt bereits wieder zu zerfallen bevor sie angefangen hat zu leben. Wie eine Erzählung aus der Zukunft schließt das Buch mit einem fiktiven Rückblick aus dem Jahr 2066. Die Wohntürme wirken wie überdimensionierte Grabmale – „die Votivgabe einer Zivilisation, die sich selbst verflucht hat.“

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Sofia Borges & Gestalten (Hg.): The Tale of tomorrow. Utopian Architecture in the Modernist Realm
400 Seiten, englisch, 49,90 €
Verlag Gestalten, Berlin, 2016

„The tale of tormorrow“ versammelt auf 400 Seiten viele der Bauten, die von einem Glauben an eine bessere Zukunft beseelt waren, eine Zukunft, die das 20. Jahrhundert so oft versprach. Utopische Architektur nennen die Autoren diese Häuser, weil sie auf etwas verweisen, was erst noch Wirklichkeit werden sollte, dessen Glanz aber bereits die Gegenwart erhellen sollte. Soziale Utopien, spirituelle Skulpturen, Häuser von Liebe und Freiheit werden gezeigt: Bauten von Lina Bo Bardi, von Louis Kahn, von Zvi Hecker, von Oscar Niemeyer. Ricardo Bofill steht neben Piet Blom, Betrand Goldberg neben Jørn Utzon. Organische Architektur steht neben technizistischer. Manche Architekten werden mit mehreren Arbeiten gezeigt, von manchen wird nur ein einzelnes gezeigt: Moshe Safties Habitat 67, Kurokawas Nagakin Capsule Tower, Walter Maria Förderer Kirche Saint Nicolas in Hérémence. Das einleitende Kapitel „Road to Modernism“ reicht vom Goetheaneum und Le Corbusier bis John Lautner. Es macht viel Spaß, sich diesem prächtigen Bildband zu widmen, man mag etwas melancholisch werden angesichts der Zuversicht, die viele Bauten ausstrahlen, und die uns heute abzugehen scheint, vielleicht wird man hin und wieder auch erleichtert sein, dass sich so manche Beglückungsstrategien als Zeitphänomen erwiesen hat. Man habe die Lektion gelernt, heißt es im Vorwort (was man allerdings auch bezweifeln darf), wobei man daraus nicht schließen darf, dass die Bauten gründlich untersucht worden seien, dass man erführe, wie sie sich heute zeigen. Darum geht es den Autoren nicht. Sie wollen eine Seite der Moderne zeigen, die, so schreiben sie, später pervertiert worden sei und deswegen unseren Blick auf diese helle Moderne verstellt habe. Das Buch soll inspirieren, Mut machen, die vielschichtige Ressource des 20. Jahrhunderts zu erschließen. Die Zeit sei gekommen, wieder zu beginnen und eine bessere Zukunft zu entwerfen. Sind wir uns sicher, dass wir die Lektion gelernt haben?

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Andreas Baur (Hg.): GOOD SPACE – politische, ästhetische und urbane Räume. Ausstellungskatalog
426 Seiten mit 180 farbigen Abbildungen, 48,00 €
Snoeck Verlag, Köln, 2017

„Ja, wir lieben die großen Ideen der 60er/70er Jahre und den Optimismus, der dem Federstrich zur Veränderung der Welt zum Besseren innewohnt. Doch wir sind der festen Überzeugung, dass Komplexität real und gut ist und unsere heutige Gesellschaft ganz grundsätzlicher Annäherungen bedarf. Deshalb sind unsere Raumkonzepte eher kleinen Maßstabs und tief in den lokalen Bedingungen verwurzelt … Bye Bye Utopie“. Dieses Bekenntnis des Berliner Büros raumlabor findet sich im Katalog zur Ausstellung Good Space, die 2016 in Esslingens Villa Merkel zu sehen war. Das Zitat von raumlabor beschreibt gut, wie im Unterschied zum Anspruch von Stadtplanung und Architektur künstlerische als reflektierende Verfahren einen vielschichtigen Umgang mit der Umwelt aktivieren können. In diesem Sinne behandelte die Ausstellung die Frage danach, was vom öffentlichen Raum erwartet wird und werden kann, welche Optionen, in ihm zu handeln, offenstehen. Sie zeigte Installationen von Gewächshäusern, die räumliche Adaption des Möbius Bands, Dokumentationen von Performances im öffentlichen Raum. Martin Creed portraitierte gehbehiderte Menschen beim Überqueren einer Straßenkreuzung in New York, Stephen Willats beschäftigt sich mit der Frage, wie Information im Alltag aus Wahrnehmungen gerneriert, verarbeitet und überprüft wird. Eine Sektion reflektierte die Impulse, die von Archigram, Coop Himmelb(l)au und Haus-Rucker in den 1960ern ausgingen und in Hans Holleins „Alles ist Architektur“ gipfelten – keine Allmachtsfantasie, sondern eine befreiende Aufforderung, durch die Veränderungen des Kontextes und seines Maßstabes Dinge neu zu sehen und Routinen zu hinterfragen.
Vorträge, die im Rahmen der Ausstellung gehalten wurden, sind in den Katalog mit aufgenommen. Als Vertiefung der in der Ausstellung behandelten Themen und als Anregung, über den öffentlichen Raum nachzudenken und ihn sich anzueignen, kann das Buch also durchaus das sein, was sich Andreas Baur, einer der Kuratoren und Leiter der Villa Merkel von ihm erhofft: selbst ein „Good space“ zu sein.

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