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Zu normal, um harmlos zu sein


Die Figur ist ambivalent, das mit seinem Namen verknüpfte Buch gilt Architekten und Architektinnen immer noch als unverzichtbar. Eine umfangreiche Veröffentlichung untersucht die Entstehung der Bauentwurfslehre von Ernst Neufert und fragt nach ihren Wirkungen. Das Buch macht deutlich, wie das entsteht, was den Alltag der Architektur ausmacht.


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Gernot Weckherlin: BEL. Zur Systematik des architektonischen Wissens am Beispiel von Ernst Neuferts „Bauentwurfslehre“
480 Seiten, 22,5 x 26,5 cm, 69 €
Wasmuth Verlg, Tübingen, 2018
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Es ist das wichtigste Architekturhandbuch des 20. Jahrhunderts – doch der geläufige Titel verkürzt, dass es nicht von einer Person alleine erstellt wurde. „Der Neufert“, die vom Ernst Neufert herausgegebene Bauentwurfslehre, die 1936 erschien, war kein Ein-Mann-Unternehmen. Sie war es nicht nur deswegen nicht, weil die enorme Menge an Material, das sich in ihr findet, von mehreren Menschen gesichtet und aufbereitet werden musste. Sie ist auch kein auratisches Werk, weil es Entwicklungen, Notwendigkeiten und Bedürfnisse aufgriff, weitertrieb. Die Bauentwurfslehre ist, wie es Gernot Weckherlin, der Autor dieses Buches über die Bauentwurflehre schreibt, ein „Knoten des Netzes aus Fachwissen und entwerferischer Expertise, das den dynamischen ,Wissenskorpus‘ sichtbar macht und ihn gleichzeitig wirksam konstituiert und verändert.“

Gleichzeitig ist aber die Bauentwurfslehre eben auch kein anonymes, technokratisches Behördenkompendium, das ohne ihren Namensgeber genausogut hätte entstehen können. Dieses Spannungsfeld ist, so legt es die Lektüre von Weckherlins umfangreicher Untersuchung nahe, mit verantwortlich dafür, dass die Bauentwurfslehre bis heute von Architektinnen und Architekten als ungleich weniger bedeutende Leistung für die Architektur des 20. Jahrhunderts empfunden wird als die anderer Persönlichkeiten – gerade im einen manchmal durchaus unangenehmen Dauerbeschuss zum Bauhaus-Jubiläum ist das deutlicher denn je. Zum einen ist es ja „nur“ ein Handbuch, „nur“ eine Entwurfshilfe, die für die Grundlage sorgt, auf der sich dann das entfalten kann, was als individuelle Leistung sichtbar machen, inszenieren lässt. Paradoxerweise hat das zum Erfolg der BEL beigetragen: Sie war trotz der in ihr aufgeführten Beispiele avantgardistischer, funktionalistischer Architektur auch Traditionalisten der kulturellen Ideologie unverdächtig, weil sie, wie Weckherlin vermutet, in ihr keine das Bauen im Kern beeinflussende Wirksamkeit erkannten. Diese zumindest in einigen Aspekten sachliche Neutralität gehört zum Werk wie zur Person: Neufert hat Flachdach wie Steildach je nach Art ihre Anwendung als gerechtfertgt gesehen, hat Versuchsreihen durchgeführt, um nachzupüfen, ob die Behauptungen vom verbsserten Lichteinfall des Bandfensters belastbar sind.
Zum anderen aber ist der Autor, Ernst Neufert, auch eine Person, an der man sich reiben mag. Er war als Bauhäusler kein glühender Parteigänger der Nationalsozialisten, nicht einmal Parteimitglied, hielt, solange es ging, an seinem Büroleiter fest, einem in der NS-Diktion „Halbjuden“. Aber dennoch hat er seine Karriere gemacht, hatte sein Expertenwissen technokratisch in den Dienst des Regimes gestellt. Die rationalisierende Normierung, das tayloristische Zerlegen des Entwurfsprozesses, die funktionalistische Perfektion, die der BEL zugrunde liegt, erhält damit einen dämonischen Unterton.

Einfluss, Wirkung und Diskurs

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Doppelseite aus dem besprochenen Buch. (Wasmuth Verlag)

Gernot Weckherlin sichtet in seinem Buch die Bedingungen und das Umfeld, in dem die Bauentwurfslehre entstand. Neufert war eine Zeitlang die rechte Hand von Gropius und dessen Büroleiter. Mit gerade mal 26 wurde er Professor in Weimar – an der dortigen Nachfolgeschule des Bauhauses. Er hatte die Diskrepanz zwischen dem theoretischen Anspruch, der am Bauhaus von Gropius vertreten wurde, und der Arbeitspraxis im Atelier von Gropius erkannt, und als Büro- und Bauleiter auch unter ihnen gelitten. Weckherlin beschreibt den Weg zur Erstveröffentlichung, sichtet, wovon Neufert angeregt, inspiriert wurde, zeigt, wie er gearbeitet und Wissen nicht nur gesammelt, sondern auch durch die eigene Arbeit generiert hat. In dieser komplexen Gemengelage, die sich auf die Zeit bis 1936 konzentriert, wird deutlich, wie wenig sich auch in diesem Fall eine einfache Geschichte von Ursachen und Wirkungen beschreiben lässt, wie sehr der Diskurs hervorbringt, was er abzubilden vorgibt. Mit Bezug vor allem auf Foucault macht Weckherlin die Grenzen einer Bewertung von Behauptungen über den Einfluss Neuferts deutlich, zeigt aber genauso, dass er dennoch besteht, aber über das Werk Einzelner hinausgeht. Und so ist der Einfluss Neuferts gerade deswegen nicht zu unterschätzen, weil er nicht auf ihn und sein Werk alleine zurückgeht, sich in den Alltagspraktiken niederschlägt und auf ein Einverständnis von Prämissen baut, das mit der Bauentwurfslehre wiederum stabilisiert wird: Sei es das Credo von Einfachheit und Wirtschaftlichkeit, sei es das Dogma des minimalen Raumbedarfs, sei es eine auf Reproduzierbarkeit angelegte Baupraxis. Weckherlin zeigt mit seinem Einblick in einen bislang wenig beleuchteten Abschnitt der Architekturgeschichte, wie Alltag und Normalität entsteht, er lässt aber auch Gedanken darüber zu, warum Neuferts Bauentwurfslehre so merkwürdig selbstverständlich ist und als solche wenig kontrovers diskutiert wird. Die BEL ist, so ließe sich etwa schließen, Teil unserer Geschichte, unseres Einverständnisses über Architektur. Einschließlich des dämonischen Untertons, den zu überhören wir uns bisweilen viel Mühe geben.