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Das Land, das es nicht mehr gibt. Auch als Sehnsuchtsbild hat es eine bis ins Heute reichende Wirkung. Die Auseinandersetzung mit der Realität blockiert es aber. Das Bild dreier russischer Bäuerinnen von 1909 ist von Sergei Michailowitsch Prokudin-Gorski >>>


Die Stadt war immer ganz selbstverständlich der Gegenstand, mit dem sich Planer, Architekten, Geografen, Soziologen, Historiker und Theoretiker auseinandersetzten – das Land blieb dabei lange außen vor. Das ändert sich schon eine Weile. Zwei neue Publikationen bestätigen, dass dies gut so ist: Wir müssen uns dem Land dauerhaft widmen. Denn was dort passiert, bestimmt die Lebensqualität. Ganz gleich, wo man wohnt.

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Gewächshaus mit LED-Licht der Firma Koppert Cress in den Niederlanden. Foto: Luca Locatelli.

Seit mehreren Jahren ist bekannt, dass sich Rem Koolhaas nun nicht mehr mit den Städten, sondern mit dem Land beschäftigt: Countryside. Im Februar ist in New York dazu die Ausstellung „Countryside. The Future“ eröffnet worden und das Begleitbuch zur Ausstellung erschienen: Countryside – A Report. Es ist ein kleines Buch, ein echtes Taschenbuch, 10 mal 16 Zentimeter, 350 Seiten lang. Auf dem Titel drei russische Bäuerinnen aus dem zaristischen Russland, traditionell gekleidet, vor einem Holzhaus in traditioneller Bauweise.

Wenn dieser Titel einen Bezug zum Inhalt hat, dann den, dass er beschreibt, was unseren Blick auf die ländlichen Räume dieser Welt trübt: die sentimentale Sehnsucht nach einem Ort, an dem wir uns die Welt noch als eine imaginieren können, die in Ordnung ist. Wovon im Buch die Rede ist, ist nicht klein, nicht überschaubar, nicht idyllisch. Es geht um das, was ignoriert wird: der riesige blinde Fleck unserer Wahrnehmung. Klein ist der Anspruch nicht, den Koolhaas mit seinem Team bei diesem Projekt verfolgt hatte: Es handelt von Permafrostböden in Sibirien, von Glashausgebieten in China, 30 mal so groß wie Manhattan, wo Nahrungsmittel für 60 Millionen Menschen produziert werden. Von Farmen, auf denen die Landwirtschaft mit Robotern betrieben wird. Smart sollen nicht nur die Städte werden, das Land ist es schon: Überwacht und optimiert, erfasst und auf Effizienz getrimmt. Der kalte Kapitalismus nimmt Rücksicht auf ökologische Zusammenhänge höchstens insofern, als er sich nicht seiner Grundlage berauben will. Aber Koolhaas wäre nicht Koolhaas, wenn er mit der Radikalität des Hinsehens und Befragens von den Entwicklungen auf den großen Flächen nicht auch die Widersprüche sichtbar machen wollte, die sich genau dann ergeben, wenn man versuchen möchte, Beobachtungen zu einem Bild zu fügen.

Das gelingt, aber um den Preis, dass das Buch ist von einer sprunghaften, unruhigen Essayistik geprägt ist. Interviews, Reportagen, Themen wechseln rasant und abrupt, so als wollten die Kuratoren und Herausgeber abbilden, dass es vergeblich ist, eine Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Phänomenen herstellen zu wollen.

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Rotiernde Melkmaschine, die größte der Welt. Sie gehört zu einem Kuhstall in der Wüste von Katar. Foto: Petra Blaisse

Insofern ist hier für Romantik kein Platz mehr. Die Art, mit dem Land umzugehen, wird als cartesianisch verstanden: als eine objektivierte, vermessene, wiederholbare und ortsungebundene Art, die Welt der bedingungslosen Nutzbarkeit und Kontrollierbarkeit zu unterwerfen – ohne noch Politik, Verhandlung, Alternative zu benötigen. Ob die Transformation des Landes in und während der Zeit der UdSSR, ob riesige Kuhmelkrotationsmaschinen in Katar, ob ein um E-Commerce organisiertes Dorf in China, ob der 433 Quadratkilometer große Industriepark Tahoe Reno Industrial Center in Nevada: Sie alle folgen den Regeln der Infrastruktur und der wirtschaftlichen Funktionsfähigkeit. Die surreal anmutende Abstraktion von den Eigenheiten des Ortes macht sie denkbar ungeeignet für verklärende Narrative über Natur und Landschaft. Und sie sind gerade darin das, was die romantisierende Bildungsbürgerlichkeit suchen mag: eine Stadt und Land zusammenbindende Logik und Einheitserfahrung – die allerdings kein Gegenbild zu einer als unzureichend empfundenen Realität mehr ist, sondern als erdrückende Dominanz eine Alternative nicht mehr zuzulassen scheint.

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AMO/ Rem Koolhaas (Hg.): Countryside. A report. 10×16 cm, 352 Seiten, 20 Euro
Taschen Verlag, Köln, 2020

Noch die mögliche Alternative zur Monokultur, das Pixelfarming, bei dem auf kleinstem Raum verschiedene Pflanzen sich ergänzend und ökosystemgerecht kombiniert werden, ist als technikbasierte Methode  dem Zwang zur Nutzungsoptimierung unterworfen. Treibt sie nicht den Teufel mit Beelzebub aus?

Aber auch das ist nicht die letzte große Erzählung, der Abgesang: denn zum Buch gehören die Geschichten vom erfolgreichen Schutz der Gorillas in Uganda und der Wiederbelebung eines Dorfes in Kalabrien durch Flüchtlinge, von den genossenschaftlich organisierten Farmern in North Dakota. Das Buch endet mit einer fast dreißigseitigen Litanei von Fragen, die die Widersprüchlichkeit des Blicks auf das Land illustrieren – Ausdruck der Vergeblichkeit jeden Versuchs, der noch so umfassenden Beobachtung eindeutige Aussagen abzuringen. Es bleibt dem Leser überlassen, daraus einen Schluss zu ziehen – zu resignieren, weil das Handeln keinem großen Ziel folgen kann oder zu handeln, weil das Fehlen des großen Ziels die Resignation außer Kraft setzt.


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Werner Bätzing: Das Landleben. Geschichte und Zukunft einer gefährdeten Lebensform. 22×15 cm, 302 Seiten, 26 Euro
Verlag C. H. Beck, München, 2020

Vielleicht ist es daher heilsame Therapie, die Sicht wieder zu erden zu versuchen. Dazu empfiehlt sich das ebenfalls gerade erschienene Buch von Werner Bätzing zum Landleben als einer Geschichte und Zukunft einer gefährdeten Lebensform. Der bis vor Kurzem Kulturgeographie Lehrende beginnt die Geschichte mit der Sesshaftwerdung und den ersten Hochkulturen, was etwas lehrbuchhaft daherkommen mag, sich aber bei der weiteren Lektüre als durchaus begründet erweist. Von den Ursachen für den Zerfall der Hochkulturen als machtkonzentrierte Gebilde führt eine direkte Argumentationslinie zur Stärke Europas im Mittelalter: Da hier ein gemeinsamer kultureller Boden sich mit dezentralen Machtstrukturen verband, hat die Stadt hier das Land nie ganz dominiert – und die Konkurrenz und der Austausch zu einer innovativen Kraft geführt, an der das Land einen großen Anteil hatte.

Überraschend, aber nachvollziehbar mag sein, dass Bätzing den großen Bruch mit der sich im Mittelalter etablierenden Lebensform erst in den 1960er Jahren ausmacht: Erst Massenmedien und Massenmobilisierung haben zur Industriealisierung der Landwirtschaft geführt, die das Land kontinuierlich entwertetet. Und diese Entwertung war auch – so seine nun auf die Bundesrepublik fokussierte Darstellung – politisch befördert. Die Schulreform nahm den Dörfern die Schulen, die Kommunalreform den Gemeinden die Eigenständigkeit, das Konzept der Zentralen Orte beförderte die großräumige Entmischung zentraler Versorgung. Städtischer, konsumorientierter Lebensstil versus ländlicher Lebensstil, den Bätzing charakterisiert als höhere Orientierung an der Gemeinschaft, eine höhere Fähigkeit, Dinge selbst herzustellen, eine höhere Bereitschaft, langfristige Folgen des Wirtschaftens auf Ökosysteme zu beachten.

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Ortsstruktur im ländlichen Raum. Bild: Christian Holl

Darin wird deutlich: Auch wenn Bätzing die Besiedlungsdichte als Indikator für den ländlichen Raum nimmt – entscheidend für die ländliche Gemeinde ist, ob sie 150 oder weniger Einwohner je Quadratkilometer aufweist, für den ländlichen Raum, dass mindestens 50 Prozent der Menschen in den Kreisen in ländlichen Gemeinden wohnen – letztlich geht es um die Lebensform, deren Qualitäten und deren Bedeutung für die Zukunft ihm am Herzen liegen. Drei Punkte machen das Buch daher so lesenswert – neben der klaren Sprache und der gut strukturierten Argumentation: Bätzing macht sich zum Ersten keine Illusionen. Er weiß, dass das Landleben nicht durch ein bisschen Bio hier und ein paar begeisterte Kunsthandwerkbetriebe da gerettet wird. Bätzing weiß, dass das Land nicht gegen die Stadt ausgespielt werden darf und beides immer in einem Funktionszusammenhang gesehen und bewertet werden muss. Bei aller Euphorie für das Land, das Zeitschriften wie Landlust suggerieren: Eine Trendwende in Politik und Gesellschaft, die das Landleben wieder aufwertet, kann er nicht erkennen. Zum Zweiten ist die Frage, warum das Landleben (etwa durch Kunsthandwerksbetriebe) idyllisiert wird, immer auch im Horizont seiner Ausführungen enthalten: als Ersatz, als Flucht, als Sehnsucht, als Umgang mit den Überforderungen, die das städtische Leben schon seit über 200 Jahren mit sich bringt. Und Bätzing weiß, dass die Verklärung zur Idylle dem Land nicht hilft, denn damit wird das Land „nicht mehr als lebens- und Wirtschaftsraum gesehen, wo Natur genutzt und verändert wird und wo Menschen ihre Probleme und Konflikte austragen, sondern es geht nur noch um die ästhetische Bewunderung.“

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Das alte Rathaus in Genkingen steht mehr oder weniger auf einer Verkehrsinsel. Bild: Christian Holl

Was das Buch zum Dritten auszeichnet, ist, dass es das Werkzeug zur Kritik an ihm gleich mitliefert: Jede Vorstellung vom Landleben sei, so Bätzing, normativ bestimmt: So soll es sein. Und so ist auch er selbst in seinen Beschreibungen nicht frei von dem, was er gerne hätte, dass es so sei. Zwischendurch darf man wieder zu Koolhaas schielen – und man wird bezweifeln dürfen, ob die hohe Wertschätzung von Gemeinschaft und Ökologie heute noch Wirklichkeit auf dem Land ist und ob das nicht an der Vergangenheit orientierte Denkschemata sind, die neue Lösungen blockieren – seien es Wohnformen oder politische Konzepte etwa in Fragen der Steuerung von Bodenwerten, die sich inzwischen auch auf dem Land zum Problem entwickeln. Damit sind zwei Themen erwähnt, die in seinem Ausblick und seinen – in vielen Punkten sinnvollen – Vorschlägen zur politischen und kulturellen Veränderung vielleicht nicht zufällig fehlen – und das nicht, weil es der Grenze dessen, was ein Buch aufnehmen kann, geschuldet wäre. Für sie muss man sich lösen von dem, was das Landleben einmal gewesen sein mag.

Immerhin: Anders als Koolhaas mag sich Bätzing nicht der Ratlosigkeit hingeben. Er will, dass Gemeinden mehr Autonomie gegeben wird, dass Steuermodelle hinterfragt werden – und das ist tatsächlich wichtiger, als sich weiter an Verlusterfahrungen abzuarbeiten. Und mag Bätzing auch wesentlich kleinräumiger denken und gemessen an der Wucht der Koolhaas‘schen Materialfülle fast ein wenig naiv wirken, zeigt er doch auf, wie sehr gerade diese Fülle ebenso wie die in Countryside eingestreuten Gegenbilder von Flüchtlingen, die Dörfer retten, Bilder der Städter sind, von denen fragwürdig ist, ob sie dem Land wirklich weiterhelfen. Mein Ratschlag: Beide Bücher lesen.