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Wie geht es weiter in der Mobilität? Schon vor Wochen (>>> Wir ham’s ja) hatten wir Skepsis geäußert, dass sich nach den einschneidenden, krisenbedingten Veränderungen unserer Arbeits- und Lebensverhältnisse etwas ändern werde. Etwa daran, dass wir über unsere Verhältnisse leben, Raubbau an unseren natürlichen Lebensgrundlagen üben, Profitgierige in die Schranken weisen. Leider bestätigt sich die Skepsis am Beispiel Mobilität.

Bald wird es wieder so und schlimmer sein: Güterverkehr auf deutschen Straßen – ein rollendes Warenlager –  wird zunehmen. (Bild: Ursula Baus)

 

 

Inzwischen lassen sich Corona-Erfahrungen wie nach einem groß angelegtem Feldversuch auswerten: Es war stiller draußen, weniger Verkehr, die Natur schien aufzuatmen. Das Internet krachte nicht zusammen, der Alltag funktionierte leidlich. Doch traut man den Wissenschaftlern jetzt nicht mehr, weil sie Erfolg vermelden, der nicht ins Krisenszenario passt. Politik setzt im Wettlauf Lockerungen in der Bewegungsfreiheit durch – und vor allem die Autolobby schreit nach: Corona-Geldregen.

Unterwegs im Zug: Autobahnen und Parkplätze säumen die Strecken. (Bild: Ursula Baus)

Unterwegs im Zug. (Bild: Ursula Baus)

Nach der Krise…

… ist vor der nächsten Krise, die mit dem Klimawandel längst prognostiziert ist. Mobilität – gesund zu Fuß und mit Fahrrad, stinkend und ganze Täler lärmverseuchend mit Motorrad oder Auto, umweltschonend mit Bus und Bahn – spielt im politischen Programm, das seit Jahren einen leistungsfähigen, ökologisch verantwortungsbewussten und energetisch schadstoffarmen Verkehr unter der Knute von Lobbyisten nicht hinkriegt, eine Hauptrolle. Der Klimawandel wird Krisen zeitigen, im Vergleich zu denen die Corona-Krise nicht mehr als ein winziger Störfall sein dürfte.

Zurück zur Mobilität. Deutschland ist Autoland. Es wird genauso wenig Autoland bleiben wie es einst Land der Stahlindustrie nicht blieb. Mobilität weltweit wendet sich vom Auto ab, weil es in dicht bebauten Städten viel zu viel Platz beansprucht, irrwitzig teuer ist (siehe unten) und ökologisch eine enorme Belastung unserer Lebensgrundlagen mit sich bringt.

Es stehen jetzt steuernde Auflagen für alle finanzstrategisch gedachten Corona-Gelder an. Auch im Bereich Mobilität muss das heißen: Gelder gibt es nur, wenn sie nach strengen, verbindlichen politischen Vorgaben für eine Mobilitätswende verwendet werden, die diesen Namen verdient. Denn die letzten Wochen haben gezeigt: Es lässt sich vieles anders machen als bisher, wenn man es muss – oder eben, wenn man es will.


Dario Gentili: Krise als Regierungskunst. 200 Seiten, 20 €, Merve-Verlag 2020. ISBN: 978-3-96273-024-6

Dario Gentili: Krise als Regierungskunst. 200 Seiten, 20 €, Merve-Verlag
2020.
ISBN: 978-3-96273-024-6

Systemverhärtung

In einem kürzlich erschienenen Buch vertritt der Philosoph Dario Gentili, Bezug nehmend auf die Wirtschaftskrise 2008, unter anderem die These, dass Krisen zur Regel werden und durchaus auf Systemfehler verweisen. Neu ist diese These nicht. Dann aber werde daran gearbeitet, das System zu stärken und zur Immunisierung des Systems vor allem die Systemverwaltung zu perfektionieren. Heißt im Kapitalismus: „Während die Krise (…) in der Moderne von der Politik bestimmt wurde, hat die Krise heutzutage eine im Wesentlichen ökonomische Konnotation angenommen.“1) Die Intention, das Bestehende zu festigen, manifestiere sich unter anderem in dem politisch schamlos missbrauchten Begriff „alternativlos“. Gentilis These wirkt in ihrer analytischen Kraft – Krisen gehörten zu den wirksamsten Instrumenten sozialer Disziplinierung und Verwaltung bestehender Ordnungen – und in ihrer Ablehnung neoliberalistischer Entwicklungen zwar etwas schlicht. Aber falsch ist sie deswegen nicht.

Das zeigt die Corona-Krise in den jüngsten Tagen nur zu deutlich. „Beenden Sie die einseitige Fixierung auf eine rein virologische Sichtweise und damit das gefährliche Spiel mit den Zukunftschancen dieses Landes“ – heißt es am 1. Mai 2020 in einem Offenen Brief des Bundesverbandes mittelständische Wirtschaft an die Kanzlerin und die MinisterpräsidentInnen der Länder.2) „Die Zeit der Virologen und Epidemiologen ist vorbei“ – verlautbarte Wolfgang Kubicki (FDP) am Tag der Arbeit. Jetzt reicht’s also mal mit der Wissenschaft, jetzt redet die Wirtschaft – und übt ordentlich Druck auf die Politik aus. Politik agiert mit Lockerungen tatsächlich dafür, dass der Markt wieder in Ordnung und auf Wachstumskurs kommt. Bislang ist nicht erkennbar, dass sie dabei andere Prioritäten als je zuvor setzen würde. Im Gegenteil.


Der Ast ist morsch

Denn längst wetzen in Berlin die Lobbyisten wieder ihre Messer. Wie immer fuchtelt die deutsche Autolobby am dreistesten damit herum, und weil man in der letzten „Krise“ mit der „Abwrackprämie“ imagemäßig ein Eigentor geschossen und die Marktentwicklung mit E-Autos sowieso verpennt hat, spricht man jetzt von „Innovationsprämie“. Und – damit es öffentlich nicht so auffällt – fordert Steuervergünstigungen für die Firmenflotten und Autoneukaufprämien für Jedermann. Egal, welche Antriebsart das Auto hat. Man muss den Autofahrern, die keine neuen Autos brauchen, einfach schmackhaft machen, dass sie neue Autos kaufen, damit die Autoindustrie „am Leben bleibt“. Allen Ernstes meint Reinhard Zirpel, Chef des Autoimporteur-Verbandes VDIK, über automobile Konjunkturprogramme „solle man nicht lang darüber herumdiskutieren“.3)
Er wird Gründe dafür haben, denn die Hand aufhalten, wo doch „der Gewinn vor Steuern (bei) Daimler, VW und BMW betrug in den letzten zwei Jahren 66 Milliarden Euro(betrug) – trotz aller Rückstellungen für die Abwicklung von Dieselgate. Allein im letzten Jahr wurden 8,2 Milliarden Euro an Dividenden ausgezahlt.“ (> Kontext Wochenzeitung)
Es regt sich aber Widerstand, nicht zuletzt von denen, um deren Zukunft es geht: unter anderem von fridaysforfuture.  4)

Um es kurz zu machen: Andreas Scheuer sprach in der letzten „Krise“ eingedenk der Autoindustriebedeutung davon, dass man doch nicht den Ast absäge, auf dem man sitze.5) Und um im Bilde zu bleiben: Wenn dieser Ast morsch ist, sollte man schnellstens Alle runterholen, bevor sie samt Ast in die Tiefe stürzen. 6)

So sieht die Urbanität der autogerechten Konsumgesellschaft aus. (Bild: Ursula Baus)

So sieht die Urbanität der autogerechten Konsumgesellschaft aus. (Bild: Ursula Baus)

4000 Euro für ein einziges Auto?

4000 Euro Steuergeld für ein einziges Auto, 500 Euro Einmalprämie für einen Krankenpfleger? Wer mit ÖV und Fahrrad und zu Fuß unterwegs ist, subventioniert mit Steuergeldern die Autoindustrie? Man fasst es nicht. Es ließe sich für die ökologisch notwendige, für unsere Städte existenziell wichtige und aufgrund enormer Lärmbelastungen im Freizeit- und Spaßverkehr wünschenswerte Verkehrswende stattdessen vieles mit den Corona-Geldern erreichen, vor allem die Bahn bedarf dringender Investitionen, was sogar das autofreundliche BMVI eingesehen hat. Die mit Klimazielen getriebene Politik reagierte 2019 auf die jahrzehntelange Vernachlässigung mit der Absicht, bis 2023 das Fahrgastaufkommen im Fernverkehr fast zu verdoppeln und den Marktanteil des Güterverkehrs von 18 auf 25 Prozent zu erhöhen. Geredet wird von einem „Deutschland-Takt 2030“, in dem große Städte in Halbstunden-Intervallen miteinander verbunden werden. Bis 2030 investiert der Bund 150 Mrd Euro, darin stecken 20 Mrd aus dem „Klimapaket“. Die Bahn selbst soll 50 Mrd beisteuern, obwohl sie bereits mit 25 Mrd. verschuldet ist und deswegen Tochterfirmen verkauft.7) Die Verluste der Bahn werden durch die Corona-Krise deutlich steigen, ihre Lobby ist allerdings nicht annähernd so opulent und schlagkräftig ausgestattet wie jene der Automobilindustrie.

Rund 100.000 neue Mitarbeiter braucht die Bahn. Wenn in der Autoindustrie fähige Fahrzeugtechniker und Digitalisierungsexperten entlassen werden, könnte die Bahn sie wohl brauchen. Auch in den Kommunen, genau dort, wo die Mobilität den „Endverbraucher“ erreichen muss und die deswegen eine Schlüsselrolle bei der Neuorientierung in der Mobilität spielen, fehlen Fachkräfte, die aus der Automobilbranche rekrutiert werden könnten – wenn denn Krisengeld an die Kommunen und nicht an die Autobranche überwiesen würde.

Ohnehin gilt es, Subventionen samt und sonders auf den Prüfstand zu stellen. „Nur wenn Autofahren und Fliegen nicht mehr direkt und indirekt subventioniert und somit merklich teurer werden, hat die Deutsche Bahn eine Chance, meint Verkehrsforscher Andreas Knie. Damit die Bahn bis 2030 zu einer wirklichen Alternative wird, müsse mehr Druck von den Kunden kommen.“ – resümiert Egon Koch, der Verfasser eines aktuellen HR-Features.8)

Zeit im Zug ist Zeit zum Schauen, Lesen, Denken, Nichtstun. (Bild: Ursula Baus)

Zeit im Zug ist Zeit zum Schauen, Lesen, Denken, Nichtstun. (Bild: Ursula Baus)

Digitale Effizienz

Erweist sich die Digitalisierung derzeit als geeignetes Hilfsmittel, um Personen- und Güterverkehre zu ersetzen, heißt: Mobilität zu vermeiden, spielt sie im System der Bahn eine zentrale Rolle zur Effizienzsteigerung. Konkret: Andreas Scheuer startete im Januar 2020 eine „Digitalisierungsoffensive für die Schiene“ mit einer Investition von 570 Mio Euro bis 2023. Ausgerechnet Stuttgart soll die Metropolregion „mit dem ersten digitalen Schienenknoten in Deutschland“ werden.9) War Stuttgart 21 schon mit der Trasse Paris – Bratislava angepriesen worden, geht es jetzt um die Linie Skandinavien – Mailand. Dabei hat die Bahn es trotz bestehender Verträge nicht mal hinbekommen, die Rheintrasse Nord – Süd pünktlich zum internationalen Anschluss fertigzustellen. Immerhin könnte es sein, dass die dürftige Leistungskraft des neuen Stuttgarter Bahnhofs, die von Gegnern des Projektes immer wieder aufgezeigt worden ist, mit digitaler Steuerungstechnik etwas gesteigert wird. Knotenpunkte im Schienennetz, in denen veritabler Stress herrscht, sind allerdings Köln, Frankfurt am Main und Mannheim. 10)

Zudem gab die Bahn bekannt, dass sie jetzt radikal agieren müsse, nachdem jahrzehntelang Brücken (wider besseres Wissen, Anm. d. A.) nicht gepflegt, saniert, ertüchtigt wurden. 1004 zwar noch befahrbare, aber in schlechtem Zustand befindliche Eisenbahnbrücken von insgesamt etwa 25.700 sind nicht mehr wirtschaftlich zu sanieren.11) Der Sanierungsbedarf bei der Bahn ist inzwischen in die Milliarden-Dimension gestiegen – allein im laufenden Jahr geht es um 12,2 Milliarden Euro für die Infrastruktur der Bahn.

Es war einmal ein Doppelhaus mit Garten. Wer sich und seine Autos dermaßen verbarrikadiert, will mit den Mitmenschen offenbar nichts zu tun haben. (Bild: Ursula Baus

So sehen Architektur und öffentlicher Raum aus, wenn das Auto das Dasein bestimmt. (Bild: Ursula Baus)

Teure Vergnügen

Zurück zum Auto: Wie teuer das Autofahren beziehungsweise -besitzen tatsächlich ist, vermeldete diese Woche das Leibniz Institut für Wirtschaftsforschung. Auf der Grundlage eines Beitrags in der Wissenschaftszeitschrift Nature zeigt sich, dass Autofahrer beziehungsweise -besitzer die Kosten ihres Fahrzeugs um rund 50 % unterschätzen.12)

Die Absurdität individueller Mobilität in immer größeren, PS-stärkeren und panzerähnlich gestalteten Blechhüllen offenbart sich allerorten – grotesk in einer typischen Pervertierung: Porsche baut gerade in Stuttgart ein Hochhaus, in dem die Autos in einem separaten Aufzug bis zur Wohnung befördert werden. Darauf hat die Menschheit als Innovation für die Mobilität des 21. Jahrhunderts gewartet!


1) Dario Gentili: Krise als Regierungskunst. Leipzig 2020 (1: Marcerata 2018), Seite 12

3) zit. nach: Wer am lautesten schreit. In: Süddeutsche Zeitung, 5. Mai 2020, Seite 15

5) Interview in der FAS, 9. Februar 2020

6) Aufschlussreich: Verkehr in Zahlen 2019/2020, hrsg. vom Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur
Bis 25.6. 2020 eine Sendung zu neuen Verkehrskonzepten: https://www.arte.tv/de/videos/086950-000-A/mobile-zukunft/

https://www.bmvi.de/SharedDocs/DE/Publikationen/G/verkehr-in-zahlen-2019-pdf.pdf?__blob=publicationFile

7) Dazu: Thomas Wüpper: Betriebsstörung – Das Chaos bei der Bahn und die überfällige Verkehrswende. 2019

8) Druckfassung HR-Feature, Seite 25

9) Pressemitteilung des BMVI: #Digitale Schiene, 31. 1. 2020

10) Bis 2040 sollen Gleise und Stellwerke voll digitalisiert sein, um das Netz besser auslasten zu können. Derzeit sind dafür 40 Mrd veranschlagt.

12) Gemeinsame Pressemitteilung vom RWI und der Stiftung Mercator: http://www.rwi-essen.de/presse/mitteilung/394/
Die Studie („Running a car costs much more than people think — stalling the uptake of green travel“) wurde vorgestellt in: Nature, 20. 4. 2020 | https://www.nature.com/articles/d41586-020-01118-w