Die Erwartungen sind hoch, dass im Städtebau und in der Stadtplanung die Weichen für die Zukunft gestellt werden. Mobilität, soziale Gerechtigkeit, Klimawandel sind die Schlagworte. Der Besuch in zwei als vorbildlich geltenden neuen Quartieren in Hamburg und Darmstadt zeigt: Die Erwartungen können erfüllt werden. Die Voraussetzung dafür sind allerdings nicht nur ein gutes Konzept und ein guter Plan, sondern auch eine Institution, die für die Umsetzung einsteht. Mit anderen Worten: Am Ende ist eine kompetente Verwaltung, eine starke, handlungsfähige und handlungswillige öffentliche Hand entscheidend.
Das Pergolenviertel in Hamburg
Es ist schwer, gerade in Hamburg nicht an das immer große Vorbild zu denken. Doch mag die Jarrestadt auch in der Nachbarschaft liegen, es taugt nicht nur Fritz Schumacher als Referenz. Denn genauso gut könnte dafür man das Rote Wien, die Siedlungen der 20er Jahre aus Berlin wie Carl Legien oder Siedlungen des Neuen Frankfurt heranziehen. Ihnen allen ist gemeinsam, dass dem an sozialen Fragen der Zeit orientierter Wohnungsbau ein Städtebau zugrunde liegt, der aus großen, einheitlichen Formen komponiert ist, der von einem sorgfältig gestalteten öffentlichen Raum und einem gewissenhaft ausbalancierten Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft geprägt ist – all dies macht auch das Pergolenviertel aus. Was dieses neue Quartier aber auch zeigt: Die Form allein ist kein Garant für ein an Gemeinwohl orientiertes und der Stadtgesellschaft verpflichtetes Ergebnis. Dazu bedarf es einer nochmal ganz eigenen und spezifischen Art des Managements, der Projektorganisation, der Abstimmung. Und hier hilft die Praxis der Vergangenheit der Gegenwart nur bedingt.
Präzise Vorgaben
Das Pergolenviertel liegt im Hamburger Norden, östlich der City Nord und des fast 150 Hektar großen Stadtparks. Das Areal ist insgesamt 24 Hektar groß; dabei ist die Bebauung selbst auf acht Hektar konzentriert. 1700 Wohnungen sieht die Planung vor. Die meisten sind bereits bezogen, im Laufe des nächsten Jahres werden auch die letzten fertig gestellt sein. Das Viertel ist auf dem durch den Jahnring zweigeteilten Gelände einer großen Kleingartenkolonie errichtet worden, von der sechs Hektar erhalten wurden; weitere sieben Hektar sind für Parkflächen, Spiel- und Bolzplätze reserviert. Die Kleingärten sind nun gegliedert in drei große Einheiten, die von Pergolen eingefasst werden. Sie gaben dem Viertel seinen Namen und finden ihre gestalterische Entsprechungen in den Arkadengängen und zweigeschossigen, sechs Meter hohen Durchgängen der großen, teilweise aneinander gefügten Baublöcke und der fast 200 Meter langen Zeile. Freiraum und Bebauung sind miteinander über ein überwiegend autofreies Wegenetz verbunden. Der Plan für das Quartier ist in einem Wettbewerb ermittelt worden, den das Zürcher Büro E2A gemeinsam mit den Hamburger Landschaftsarchitekten Lichtenstein gewonnen hatte.
Ein sehr präziser Gestaltungsleitfaden gewährleistet die architektonische Qualität der Gebäude, für die insgesamt neun Architekturbüros verantwortlich zeichnen. Dieser Gestaltungsleitfaden trifft unter anderem Vorgaben für die Fassaden, für die Fenstergliederungen, die Hauseingänge, Balkone und Loggien, auch darüber, wo keine Balkone über den öffentlichen Raum ragen sollen und die geschlossene und klarkantige Form als wichtig erachtet wurde. Die mit Ziegeln in einem von Norden nach Süden von Rot nach Sandfarben abgestuften Farbton bekleideten Häuser folgen einer Höhendramaturgie, die die Außenkanten der kräftigen und einprägsamen Gesamtfigur betont. Sie umschließt im nördlichen Teil einen großen zentralen Quartiersplatz. Das Quartier wird lediglich von Anliegerverkehr frequentiert. Ein niedriger Schlüssel von auf das Gesamtareal bezogenen 0,4 Stellplätzen je Wohnung (variiert von 0,15 bis 0,9 je nach Eigentumsform und Bauherrschaft) wird flankiert von Anreizen, auf das Auto zu verzichten. Dazu gehören unter anderem barrierefreie Rampen zur S-Bahn und in das benachbarte Barmbek, fahrradfreundliche Tiefgaragenrampen und Carsharingangebote, teilweise wurde dies mit Bundesmitteln gefördert.
Der Anteil von familiengerechten und barrierefreier Wohnungen ist hoch; 60 Prozent aller Wohnungen sind gefördert. Darunter fallen breitgefächerte Formen der Förderung – erster und zweiter Förderweg, Eigentumsförderung bis hin zu Kleingenossenschaften, Bau- sowie Eigentümergemeinschaften, wenn sie die Anforderungen des geförderten Wohnungsbaus erfüllen. Die Förderung der Baugemeinschaften wird noch ergänzt um ein spezielles, von einer Agentur der Stadtentwicklungsbehörde gemanagtes Bewerbungsverfahren: Bestimmte Grundstücke wurden dabei von vorneherein für die Vergabe an Baugemeinschaften reserviert, abgestimmt zwischen Agentur, der Planungsbehörde und dem Grundstückeigentümer, dem Landesbetrieb Immobilienmanagement und Grundvermögen. Das Stadtplanungsamt legte zudem gemeinsam mit der Agentur für Baugemeinschaften, dem Amt für Wohnungswesen sowie dem bezirklichen Sozialraummanagement fest, wo geförderte, wo Eigentumswohnungen gebaut wurden, wo Baugemeinschaften zum Zuge kamen und wo soziale Einrichtungen und Einrichtungen des periodischen Bedarfs platziert wurden.
Gemeinschaftsproduktion
Die einzelnen Baufelder wurden – mit Ausnahme zweier Baufelder, die direkt an die kommunale Wohnungsbaugesellschaft SAGA gingen – per Konzeptverfahren vergeben, wobei beispielsweise auch positiv bewertet wurde, wenn längere Sozialbindungen als die festgelegten 30 Jahre angeboten wurden. Über konkurrierende Verfahren mit drei bis fünf Büros wurden die Architekturbüros ermittelt. Bei vier Baufeldern wurden je zwei Bauherrenteams festgelegt, die über die Konzeptausschreibungen zusammengefunden hatten. Deren gemeinsames Planen wurde zunächst über von der Behörde organisierte Antragskonferenzen eingeleitet, bevor sie sich im weiteren Verlauf selbst untereinander koordinierten. Aus den Grundstückserlösen wurde zudem ein Anteil von einem Prozent in einen Fonds gegeben, aus dem das Quartiersmanagement betrieben wird. Es bringt Eigentümer:innen und die insgesamt recht heterogene Bewohnerschaft zusammen.
Dies alles macht sichtbar, wie hoch der Steuerungsaufwand für ein solches Quartier ist – und es ist deswegen auch nachvollziehbar, dass die großen Bauformen an jene erinnern, die vor etwas hundert Jahren das Selbstverständnis der Kommune als Initiatorin und Steuerinstanz repräsentierten. Aber es ist eben auch Ausdruck einer Idee von Stadt, in der sich Menschen als Teil organisierter und geregelter Gemeinschaft verstehen können, eine Idee, die durchaus als Alternative zum Parzellenstädtebau und dessen auf Einzelbauherrenschaft – und deswegen auf Eigentum und Vermögen – aufbauenden Prinzip interpretiert werden darf. Wenn dabei so überzeugende Quartiere wie das Pergolenviertel entstehen, sollte das Vertrauen in eine starke öffentliche Hand steigen. Im Alltag beweisen muss sich das Pergolenviertel zwar erst noch. Doch die Fachwelt scheint schon jetzt überzeugt: Das Pergolenviertel erhielt eine Belobigung beim Deutschen Städtebaupreis 2023 und der BDA Hamburg zeichnete 2020 und 2022 insgesamt sechs Gebäude aus.
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Die Lincoln-Siedlung in Darmstadt
Mit Preisen ist auch die Lincoln-Siedlung nicht zu knapp gewürdigt worden. Für das Mobilitätskonzept erhielt sie unter anderem den Deutschen Verkehrsplanerpreis, im Wettbewerb „klimaaktive Kommune 2022“ eine Auszeichnung in der Kategorie „klimagerechte Mobilität“. Kürzlich wurden zwei Häuser mit der Joseph-Maria-Olbrich-Plakette des BDA Darmstadt ausgezeichnet. Eines davon ist die Schule von Waechter+Waechter Architekten BDA, die für den, der mit der Straßenbahn ankommt, den ersten Eindruck prägt. Sie liegt am zentralen Quartiersplatz, der sich zu einer Grünanlage erweitert. 24 Hektar groß ist das gesamte Areal. Nach dem Zweiten Weltkrieg war diese Fläche, etwa drei Kilometer vom Stadtzentrum entfernt im Süden Darmstadts zwischen zwei viel befahrenen Straßen gelegen, als Wohngebiet für Darmstadt vorgesehen gewesen, dann aber als Familienwohngebiet für die amerikanische Armee erschlossen worden. Nach deren Abzug konnte 2014 die Stadt über die BVD New Living, einer Tochter der stadteigenen Bauverein AG, die Fläche von der BIMA erwerben, und der Umbau konnte beginnen. 5000 Menschen werden hier wohnen, wenn die Siedlung fertig bebaut sein wird; die meisten Häuser stehen schon. Zum Teil sind darunter Gebäude der alten Bebauung, in manchen von ihnen sind Studierendenwohnungen untergebracht, sechs Gebäude mussten allerdings abgerissen werden; sie waren nicht zu halten gewesen, so Torsten Handke, der Geschäftsführer der New Living.
Doch die Vergangenheit ist auch in den Neubauten präsent, denn sie orientieren sich am Bestand der langen, schräg zu den Erschließungsstraßen gestellten Zeilen; das bestehende Straßennetz bildet auch die Basis des neuen. Zum Teil sind die neuen Häuser dort gebaut worden, wo die alten standen, in anderen Baufeldern wurden in Blockrandbebauung und gemischten Bauformen eine höhere Dichte erzielt. Die bestehende technische Infrastruktur konnte großteils weiter genutzt werden und musste nicht neu angelegt werden. Die alten Wärmenetze wurden ertüchtigt, die Häuser sind an das Nahwärmeversorgungsnetz des Netzversorgers Entega AG angeschlossen. Mittels Wettbewerben und mit Unterstützung des Gestaltungsbeirats gelingt es, das Niveau der Bauten über den üblichen Durchschnitt zu heben.
Einen Teil der Gebäude wurde von der stadteigenen Bauverein AG gebaut und vermietet; einige Grundstücke sind an Träger gemeinschaftlicher Wohnprojekte vergeben worden, darunter das nach dem Mietshäusersyndikat entwickelte Projekt des Heinersyndikats, ein Haus des Vereins Zusammenleben e.V. und eines von Wohnsinn Bessungen. 40 Prozent aller Wohnungen sind gefördert, 25 im ersten, 15 im zweiten Förderweg; ein Quartiersmanagement wurde eingerichtet.
Der lange Weg zur Verkehrswende
Bekannt über Darmstadt hinaus aber ist die Lincoln-Siedlung als Modellquartier für zukunftsfähige Mobilität. Zukunftsfähig heißt vor allem, den Verkehr mit dem eigenen PkW zu reduzieren. Für das Mobilitätskonzept und dessen Umsetzung ist das Mobilitätsamt der Stadt verantwortlich, das Management hat ein städtisches Unternehmen übernommen. Das Projekt ist ein Modell für die Gesamtstadt, in der der Anteil des MIV am innerstädtischen Verkehr bis 2035 auf 25 Prozent gesenkt werden soll. In Lincoln geht man dazu mit großen Schritten voran. Es wurden Anreiz geschaffen, auf ein eigenes Auto zu verzichten. Der Stellplatzschlüssel ist auf 0,65 je Wohnung gesetzt, die Plätze, die sich zum großen Teil in drei Sammelgaragen, einer ober- und zwei unterirdischen befinden, werden zentral vergeben. Für einen Stellplatz muss man sich bewerben, vergeben wird nach Punkten. Dabei zählen etwa Mobilitätseinschränkungen, schulpflichtige Kinder, die Anstellung bei Feuerwehr oder Polizei, der Besitz eines E-Autos. Nur wenige Stellplätze liegen direkt an der Wohnung, dort sind bevorzugt Car-Sharing Plätze, Fahrräder untergebracht. Das Parken im öffentlichen Raum ist eingeschränkt und kostenpflichtig. Dafür gibt es alternative Angebote. Von keiner Wohnung ist es weiter als 300 Meter bis zu Straßenbahn, die auf der das Gebiet im Osten begrenzenden Heidelberger Straßen zwei Haltestellen anfährt. Ein Ruftaxi-System ergänzt die Straßenbahn. Fahrräder, E-Bikes und Elektro-Lastenräder können an zwei Leihstationen ausgeliehen werden, den Bewohnenden steht zudem ein Carsharing-Pool zur Verfügung, inzwischen mit fünf elektrisch betriebenen Fahrzeugen. In der Mobilitätszentrale kann man sich außerdem beraten und unterstützen lassen. Ursprünglich waren für die Bewohnenden die ersten zehn Kilometer umsonst, zusätzlich gab es für jede:n ein Freiguthaben von 64 Euro im Monat. Das ist inzwischen wieder etwas zurückgenommen worden, weil die Wartezeiten für eine Leihe zu lang geworden sind. Erste Erfolge zeichnen sich ab: der Anteil an Zweitwagen ist gesungen, der der Bewohnenden ohne Auto ebenso.
Ein Ausblick
Um die 1200 der 2000 geplanten Wohnungen sind fertiggestellt, das Bild einer lebendigen, sozial gemischten, gut mit Grün- und Freiräumen, Fuß- und Radwegen ausgestatteten Siedlung zeichnet sich ab: mit einem zentralen Quartierspark und hausnahen Grünflächen. Der Quartiersplatz und das Schulzentrum liegen zentral und unmittelbar an einer der beiden Straßenbahnhaltestellen, hier ist auch die Nahversorgung konzipiert, der erste Supermarkt eröffnet hier 2024. Das Quartier ist geprägt von einer Mischung unterschiedlicher Bebauungsformen, die sich aus der Geschichte und dem Pragmatismus, das Areal gut zu nutzen und an jedem Ort die bestmögliche Lösung zu finden, erklären lassen. Insofern ist das Quartier eine Modellfall, der zeigen kann, wie sich autorarmes Wohnen in üblichen Bebauungsformen umsetzen lässt und wie es dort wirkt. Dass hier kein Modellquartier mit lediglich einem Bebauungstyp entstand, der mit einer neuen Idee von Städtebau Zeichen setzt, gerät dem Quartier zum Vorteil: Es ist die Normalität, innerhalb derer sich das Mobilitätsverhalten ändern muss. Und eben nicht nur in einem Quartier, sondern am Ende in der ganzen Stadt – erst daran wird sich messen lassen, ob das Experiment gelungen ist: dann, wenn es nicht bei dem Experiment geblieben ist.
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