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Tübingen, Französisches Viertel, Dezember 2018. (Bild: Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0, Abilus)

Städtebau ist eine Disziplin, die hervorragend dazu geeignet wäre, zwischen Architektur und Stadtplanung zu vermitteln, Brücken zu bauen zwischen Kreativität und Regulierung, Flexibilität und Rechtsnorm, Praxis und Wissenschaft, Individualität und Gemeinwohl. Dazu fehlen aber wichtige Voraussetzungen: Zu knapp ist das Personal für die Ausbildung und in den Verwaltungen, und es mangelt an Verfahrensqualität. Anstatt sich in Diskussionen gegenseitig zu befehden, bedarf es eines Schulterschlusses zwischen Architektur und Stadtplanung im Sinne einer neuen Städtebaukultur. 

Stadtplanung ist schon lange eine eigenständige Disziplin – ihre Geschichte macht aber deutlich, wie sehr sie mit Architektur verwoben ist. Im Rahmen der Kritik am unbegrenzten Städtewachstum begann die Stadtplanung im 19. Jahrhundert sich aus der Architektur herauszulösen. Vor etwa 100 Jahren wurde der erste eigenständige Studiengang „civic design“ an der Universität Liverpool gegründet, parallel entstanden Vertiefungsstudiengänge in Städtebau und Stadtplanung an verschiedenen Architekturfakultäten. Vor etwa 50 Jahren wurden eigenständige Planungsstudiengänge unter anderem in Dortmund, Kaiserslautern, Weimar, Kassel, Berlin und Hamburg gegründet, unter anderem mit Unterstützung profilierter Architekten wie Gerd Albers oder Albert Speer. Auch die SRL als Berufsverband der Planenden wurde damals gegründet. Dies war wesentlich begründet in der steigenden Komplexität der Stadtentwicklungsaufgaben, in Deutschland auch in der Einführung des Planungsrechts, das die Grundlage der räumlichen Entwicklung legte. (Albers 1996)

Die Planungsstudiengänge differenzierten sich in den Folgejahren im Sinne eines integrierten Ansatzes aus, der auch sozio-ökonomische Themen und prozessuale Strategien berücksichtigte. Obwohl es also bereits seit langem eine etablierte Planungswissenschaft gibt, werden ihre Absolventen von Seiten der Architektur teils immer noch als „Abtrünnige“ betrachtet. Ähnlich ergeht es den Absolventen der Innenarchitektur oder der Landschaftsplanung, die anderen „kleinen“ Eintragungslisten der Architektenkammern. Es ist an der Zeit, sich auf Augenhöhe zu begegnen, um gemeinsam die drängenden Aufgaben im Planungs- und Baubereich anzugehen. Es ist an der Zeit, die Antagonismen zu überwinden – und auch die damit verbundenen, früheren Generationskonflikte und Narrative.

Städtebaukultur entwickeln

Es ist gut, dass Baukultur in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen hat, nicht zuletzt dank diverser Bundes- und Landesinitiativen. Wichtig wäre es aber, zusätzlich den Städtebau in seiner Brückenfunktion zwischen Architektur und Stadtplanung zu stärken, im Sinne einer „Städtebaukultur“. Denn hier entscheidet sich die räumliche und gestalterische Organisation der Stadt, hier treffen Ordnungsprinzipien etwa aus dem Verkehr und der Bautypologie auf das räumliche Entwerfen und Gestalten, hier trifft wissenschaftliche Analyse auf künstlerische Kreativität. Durch guten Städtebau wird architektonische Kreativität genausowenig eingeschränkt wie die eines Landschaftsplaners. (Schenk 2021)

Über viele Jahrzehnte war der Städtebau allerdings einer der Verlierer beim auseinander Dividieren von Architektur und Stadtplanung. Aus Sicht der Architektur war er zu wenig detailliert, aus Sicht der Stadtplanung zu gebäudenah und entwurfsbezogen. Im Rahmen von Studienreformen wurden die Lehrkapazitäten für den Städtebau oft systematisch reduziert, und zwar sowohl bei Architektur- als auch bei Planungsstudiengängen. Dort, wo einst mehrere Professuren für Städtebau existierten, ist häufig nur noch ein Fachgebiet übrig, das nur noch als eine „Fachdisziplin“ von vielen betrachtet wird. Inzwischen wurden zwar einige neue Master für Städtebau oder „urban design“ eingerichtet, diese sind jedoch eher als Zusatzangebote zu verstehen.

Aber auch in den kommunalen Ämtern und in den Büros sind Kompetenzen und Ressourcen im Städtebau verloren gegangen. Dies wird besonders deutlich angesichts der Wohnungsnot, wo wieder große Entwicklungsvorhaben und bodenpolitische Initiativen erforderlich sind – um sie zu bewältigen, fehlt in vielen Städten schlichtweg das Personal. Bei großen städtebaulichen Wettbewerben beteiligen sich wenige Büros, und viele Beiträge scheiden bereits im ersten Rundgang aus, weil sie nicht die Grundprinzipien des Städtebaus beherrschen.

Eine Stärkung des Städtebaus in seiner Brückenfunktion muss also an den Hochschulen beginnen, ist aber auch erforderlich beim Städtebaureferendariat und bei der Weiterbildung. Dazu gehört, städtebauliche Wettbewerbe auszuloben und städtebauliche Leistungen angemessen zu honorieren. Der Städtebau ist eine eigenständige Aufgabe im Planungsprozess und setzt entscheidende Rahmenbedingungen, die dann in den Bebauungsplan und letztlich in die Baupraxis übersetzt werden. Von daher führen Einsparungen beim Städtebau unweigerlich zu weniger qualitätvollen Projekten. Letztlich wäre es sinnvoll, eine Planvorlageberechtigung auch für städtebauliche, stadtplanerische Leistungen einzuführen – bislang berechtigt die Eintragung in die Liste der „Stadtplaner“ nur zur Teilnahme an Wettbewerben.

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Vielfach ausgezeichnet: Tübingen, städtebaulicher Entwicklungsbereich Stuttgarter Straße, Französisches Viertel. (Bild: Christian Holl, 2020)

Leitbild-Kontinuität im Städtebau

Seit den 1980er Jahren gibt es in Deutschland eine überraschend lang anhaltende Kontinuität eines städtebaulichen Leitbilds: das der kompakten, dichten sowie funktional und sozial vielfältigen Stadt. Dieses Leitbild wurde durch die Ziele der Nachhaltigkeit bestärkt und 2007 in der Leipzig-Charta manifestiert. Es ist im Planungsrecht (§ 1 BauGB) sowie in der Nationalen Stadtentwicklungspolitik formell und informell verankert. Die Leipzig Charta setzt sich bewusst ab von den Zielen der Charta von Athen mit Funktionstrennung und aufgelockerter Stadt einerseits, sowie von der Nachkriegsmoderne mit dem Leitbild der autogerechten Stadt andererseits.

Mit dem bestehenden Leitbild lassen sich neue Herausforderungen wie Klimawandel und urbane Resilienz weitgehend bewältigen. Die Leipzig Charta 2020 erweitert es unter anderem um Aspekte der Gemeinwohlorientierung, der Digitalisierung und der grünen Stadt, sie plädiert vor allem für eine integrierte, ressortübergreifende Stadtentwicklungspolitik. Damit stärkt sie genau die Themen, die in grundständigen Planungsstudiengängen mit einem interdisziplinären und prozessualen Planungsansatz vermittelt werden. Das Memorandum „Urbane Resilienz 2021“ setzt sich mit den Folgen der Pandemie und dem Klimawandel für die Stadtentwicklung auseinander. Es wird gefolgert, dass das bestehende Leitbild aus der Leipzig Charta in seiner Grundstruktur bestehen bleiben kann, aber zu erweitern ist um Aspekte der Risikovorsorge, der grünen Infrastruktur und der Anpassungsfähigkeit. (BMI 2021)

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Alltag der Stadtentwicklung: offene, monofunktionale Blockstrukturen. (Bild: Christian Holl)

Umsetzungsdefizit

Trotz dieser Kontinuität gelingt es aber selten, die mit diesem Leitbild verbundenen Ziele umzusetzen – oft werden neue Quartiere kompakt in Blöcken angeordnet, aber doch relativ wenig dicht und kaum gemischt, von neuen Gewerbe- und Einfamilienhausgebieten ganz zu schweigen. Es gibt nur wenige Neubauquartiere der letzten Jahrzehnte, bei denen alle Ziele der Leipzig Charta umgesetzt wurden. Dazu zählt vor allem die vielfach prämierte Tübinger Südstadt, realisiert mit starker kommunaler Bodenpolitik und rigidem Planungsrecht bereits in den 1990er Jahren – sie zeigt zugleich eindrucksvoll, was bei einer gezielten Bündelung planerischer Instrumente möglich ist. Warum aber fällt es so schwer, entsprechende Planungsziele umzusetzen? Mangelndes Personal und städtebauliche Kompetenzen sind ein Teil des Problems. Häufig werden zu wenig Ressourcen und Mittel in die Vorplanungen und Wettbewerbe gesteckt, obwohl hier bereits der Rahmen für jahrzehntelange Stadtstrukturen geschaffen wird. Weiterhin gibt es in Deutschland – entsprechend unserem pluralistischen Staatsverständnis – ein ausführliches Abwägungsverfahren. Wenn es dabei keinen Mut zu politischen Entscheidungen gibt, ist das Ergebnis meist der kleinste gemeinsame Nenner. Auch führen die Belange aus Klimaschutz und Umweltschutz mitunter dazu, dass Baustrukturen entdichtet werden – obwohl dies nicht immer fachlich erforderlich ist. Die Proteste gegen jegliche bauliche Verdichtung haben zugenommen, Partikularinteressen können sich immer stärker durchsetzen.

Ein wichtiger und wenig diskutierter Bereich sind aber Bodenpolitik und Bauträgergeschäft. Viele Bauträger wollen keine Nutzungsmischung realisieren oder setzen einfache bauliche Typen durch; Nachverdichtungsvorhaben scheitern an der Mitwirkungsbereitschaft der Eigentümer. Nur wenn eine Kommune stark auftritt und ihre Planungskompetenz durchsetzt oder selbst als Projektentwickler auftritt, kann sie, wie in Tübingen, ihre Ziele durchsetzen.

Konstruktive Leitbild-Debatte

Das Institut für Stadtbaukunst hat mit der „Kölner Erklärung“ 2014 und der „Düsseldorfer Erklärung“ 2019 die Städtebau-Debatte zugespitzt und bewusst polarisiert – und schaffte es damit sogar in die Feuilletons. (Altrock/Huing 2017, DIS 2019, Sonne 2014) Nicht zu Unrecht kritisierten die Verfasser, dass die Ziele der Leipzig Charta unzureichend umgesetzt werden – einseitig verantwortlich gemacht wurde dafür aber das Planungsrecht. Das führt in die Irre: Nicht das Planungsrecht oder die Baunutzungsverordnung verhindern eine kompakte und gemischte Bebauung – vielmehr ist dies ja dort als Ziel verankert, und im Baugebietstyp Urbanes Gebiet ist nahezu alles möglich. Die kritisierte Aufteilung der Planungsprozesse in zweidimensionale Funktionspläne, isolierte Fachplanungen und eine selbstreferentielle Architektur mag zutreffend sein, die Schlussfolgerung, die grundständigen Planungsstudiengänge dafür verantwortlich zu machen, ist fragwürdig. Vielmehr wäre gerade gemeinsam eine neue Städtebaukultur in Architektur und Stadtplanung anzustreben, um in Ausbildung und Praxis Brücken zu bauen.

Das ist aber nicht das einzige Problem dieser Erklärungen: Hier wird implizit eine neues Leitbild der „schönheitsgerechten Stadt“ mit deutlichen Bezügen zum Historismus und zu Gründerzeit-Strukturen kreiert. Neubaugebiete mit dichten Blockstrukturen und historisierenden Fassaden können nicht als die alleinige Lösung für den Städtebau betrachtet werden. Problematisch ist dabei vor allem die damit verbundene Abwertung von Bauten der Nachkriegsmoderne, die pauschal verdächtigt werden, hässlich zu sein. Das erschwert deren Erhalt, zumal sie zunehmend unter dem Druck von Investoren stehen, die sich durch Abriss und dichteren Neubau höhere Renditen versprechen. (Reicher 2014)

Städtebau ist aber in einer pluralistischen Gesellschaft immer wieder neu auszuhandeln und umzusetzen. Als Ergebnis eines solchen Prozesses können sehr unterschiedliche Typologien entstehen. Fatal wäre aber eine Ideologisierung der Städtebau-Debatte, egal von welcher Seite.  Bei aller Kritik an der Schönheits-Debatte – deren Protagonisten in einen „rechten Raum“ zu stellen, ist auch irreführend und trägt weiter zur Polarisierung bei.

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Siegreicher Entwurf für das Areal Prinz Eugen Kaserne in München: das Beste, was die Auslobung zuließ. Weiterreichende Experimente werden oftmals durch strenge Vorgaben schon im Wettbewerb unmöglich gemacht. (Bild: GSP Architekten)

Herausforderungen gemeinsam bewältigen

Die Herausforderungen für die Stadtentwicklung sind groß – zu groß, als dass wir es uns leisten könnten, sie nicht gemeinsam anzunehmen. Themen wie Resilienz, Klimawandel, Digitalisierung, soziale Ungleichheit und Mobilitätswende fordern unsere städtebaulichen Routinen heraus. Klimawandel und Risikovorsorge könnten künftig einen stärkeren Stadtumbau erfordern als bislang angenommen. Für die Bewältigung der künftigen Herausforderungen braucht es eine Kombination aus integrierter Stadtentwicklungsplanung, planungsrechtlicher Absicherung, kreativer Entwurfskompetenz und gestaltender Raumbildung.

Dies erfordert eine Offenheit für neue Ansätze im Städtebau, auf Basis des bestehenden Repertoires. Unsere städtebaulichen Leitbilder sind immer wieder weiterzuentwickeln, auch wenn es eine hohe Leitbild-Kontinuität gibt. Der Städtebau sollte jeweils ortsbezogen entwickelt werden, über Wettbewerbe, Bürgerbeteiligungen und demokratische Aushandlungsprozesse – unter Berücksichtigung des historischen Kontexts und mit zeitgenössischen Mitteln.  Im Sinne einer Städtebaukultur sollte der Städtebau wieder eine Renaissance erfahren, und seine Brückenfunktion wahrnehmen.

Dazu müssen die Verbände und Kammern für Architektur und Planung auch nach außen stark und mit verständlichen Botschaften auftreten, auch in strategischen Allianzen, wie etwa beim Bündnis Bodenwende. Die Neuverteilung der Ministerien nach einer Wahl zeigt immer wie ein Lakmustest, wie wichtig die Baukultur politisch genommen wird. Obwohl hier ein großes Potenzial für präventive, nachhaltige Planung sowie zur Reduktion der grauen Energie liegt, wird sie oft wie eine Restmasse verhandelt. Nur wenige Bundesländer verfügen, wie etwa Nordrhein-Westfalen, über eigenständige Ministerien für Stadtentwicklung und Bauen – und man merkt es ihnen an. Umgekehrt ist immer wieder deutlich sichtbar, wie gering die Qualität des Planens und Bauens in Deutschland geschätzt wird – als handelte es sich um ein Luxusproblem und nicht um die Herausforderung, Städte und Landschaften als Orte zu gestalten, die auch zukünftig lebenswert sind.


Literaturhinweise

Gerd Albers: Stadtplanung. Darmstadt 1996

Uwe Altrock,  Sandra Huning (Hg.) : Die schöne Stadt: Begriffe und Debatten. Berlin 2017

BMI (Bundesministerium für Inneres, Bau und Heimat): Memorandum Urbane Resilienz. Berlin 2021

DIS (Deutsches Institut für Stadtbaukunst): Düsseldorfer Erklärung. 2019. Online >>>

Christa Reicher: Ästhetik und Schönheit. Die neuen alten Zauberformeln des Städtebaus? In: Raumplanung 5/2014, S. 22-27

Leonard Schenk: Kriterien für einen guten Städtebau. In: PlanerIn 1-2021

Wolfgang  Sonne: Stadtbaukunst und Urbanität. In: PlanerIn 4-2014.