Dass München einer der teuersten Standorte in Deutschland ist, weiß man. Dass im Werksviertel am Ostbahnhof Münchens eine neue Philharmonie entstehen soll, ist ebenfalls bekannt. Dass hier auf dem Boden eines subkulturellen Kultur- und Kreativstandorts ein besonderes Quartier entsteht, das zumindest in großen Teilen die vermeintlich unumstößlichen Gesetze des Immobilienmarktes als Fiktion entlarvt, wissen vielleicht nicht so viele. Es darf sich gerne herumsprechen.
Fast 50 Jahre lang wurden direkt am Münchener Ostbahnhof Knödel und andere Kartoffelprodukte hergestellt. Dann erging es den Pfanni-Werken wie anderen Familienbetrieben dieser Art. In der Stadt als großer Produktionsstandort nicht mehr gern gesehen, mit steigenden Abgaben sowie Energie- und Lohnkosten konfrontiert, in der globalen Konkurrenz unter Druck geraten, wurden 1993 die Pfanni-Werke verkauft, 1996 wurde die Produktion in München eingestellt. Bis hierhin eine gewöhnliche Geschichte – so entstanden auch in anderen Städten innerstädtische Brachen. Wie gut und stadtgerecht solche Flächen entwickelt werden können, ist in aller Regel nicht allein eine Frage der ambitionierten Planung, sondern vor allem eine des Eigentums. Kann sich die Stadt das Eigentum sichern oder eine kleinteilige Eigentümerstruktur befördern, hat sie auch die Möglichkeit, die Entwicklung zu steuern – gelingt ihr das nicht, entsteht meist das, was als eher monotones Nutzungs-Einerlei selten Begeisterung für zeitgemäßen Städtebau weckt, zumal seit einigen Jahren die Immobilie als lukratives Renditeobjekt dafür sorgt, dass Kosten minimiert und Grundstücksausnutzung maximal ausgereizt werden.
Lange Anlaufzeit
In München am Ostbahnhof verlief die Geschichte aber nicht nach einem der üblichen Schemata. Denn der Firmeneigentümer verkaufte Grundstücke und Anlagen nicht. Bis heute ist Werner Eckart, Sohn des Firmengründers Werner Eckart, über seine Firma OTEC im Besitz von Grund und Immobilien der ehemaligen Pfanni-Werke. Dennoch ist es in dieser Konstellation immer noch alles andere als selbstverständlich, dass das entsteht, was hier inzwischen angetroffen werden kann. Wer heute den Ostbahnhof in Richtung Süden verlässt, das Areal betritt, auf dem unter anderem auch die neue Philharmonie nach den Plänen von Cukrowicz Nachbaur entstehen soll, trifft auf ein lebendiges Areal in einer Mischung aus Großbaustelle, Gründerzentrum, Kunst- und Kreativquartier, provisorischem Containerdorf, neu genutzten Industriegebäuden, hochwertigem Bürobau und neuer Produktion.
Die Entwicklung, die mit voller Unterstützung von Eckart durch das Büro steidle architekten, namentlich durch dessen Partner Johannes Ernst behutsam gesteuert wird, verlief freilich nicht geradlinig. Zunächst waren die Werkshallen als „Kunstpark Ost“ eine Location für Alternativmärkte, Künstlerateliers, Feste und Konzerte der Subkulturszene, später als Kultfabrik ein Kultur- und Veranstaltungszentrum mit Clubs, Bars und Discotheken. Der Eigentümer wollte selbst stärker in dieses lukrative Geschäft einsteigen und plante ein Eventcenter, was bei der Stadt allerdings auf wenig Gegenliebe stieß. Um der Entwicklung langfristig eine Perspektive zu geben, hatte München 2001 daher einen Wettbewerb ausgelobt, der nicht nur das Areal der Pfanni-Werke sondern auch die umliegenden Grundstücke und deren Entwicklungspotenzial in den Blick nahm. Neben weiteren Firmen ist die Stadt selbst über ihre Gesellschaften MGS und SWM Grundstückseigentümer in dem Quartier. 03 Architekten gewannen diesen Wettbewerb seinerzeit und entwickelten daraus bis 2005 einen Rahmenplan, der einen zentralen Park vorsah. Doch so manche der damals gemachten Annahmen, auch die des großzügigereren Abrisses der Werksgebäude, gelten nicht mehr; die Krise der Nullerjahre hatte dafür gesorgt, dass das Quartier vorerst kaum große Fortschritte machte.
Von OTEC und drei weiteren Eigentümern der unmittelbaren Nachbarschaft 2007 beauftragt, setzten steidle architekten in einem weiterentwickelten Rahmenplan auf eine breit angelegte Mischnutzung, die vorsah, wesentlich mehr Bestand zu erhalten. Ein darauf aufbauender Bebauungsplan wurde 2017 verabschiedet. Doch schon vorher hatte ein gezielt gesetzter Impuls die Entwicklung in Gang gesetzt: 2011 die sogenannte Medienbrücke von steidle architekten, ein spektakulärer Wolkenbügel. „In dieser Phase der Stagnation brauchte dieses Quartier etwas Spektakuläres“, so Johannes Ernst. Einen Baustein, den man im Studio von Kees Christiaanse, wo Ernst in Berlin studiert hatte, einen „Urban Motherfucker“ genannt hätte: einer, der ganz bestimmt dafür sorgt, dass man hierher schaut. Durch steidle architekten waren Eckart und die anderen Eigentümer dann auch auf die Idee gebracht worden, das Areal nicht dadurch voranzubringen, dass man dessen Geschichte ignoriert, dass man Konventionelles anbietet – sondern dadurch, dass man die Entwicklung als einen Prozess versteht, in dem ein Schritt nach dem anderen getan wird, so dass auch die Möglichkeit bleibt, auf Unvorhergesehenes zu reagieren. Zum Beispiel darauf, dass ein Großmarkt anders als ursprünglich vorgesehen bleibt und kein großer zentraler Park wie zunächst geplant entstehen kann.
Auf dem insgesamt 40 Hektar umfassenden Werksviertel, wie es seit 2012 heißt, sollen nun in den nächsten Jahren etwa 1000 Wohnungen neu entstehen. Zwei Hotels, eines (steidle architekten), über 86 Meter hoch, über einem Silo des ehemaligen Pfanni-Werks, in dem eine große Boulderanlage integriert ist, sowie ein weiteres von Hild und K sind kurz vor der Fertigstellung. Zwischen diesen beiden Gebäuden wird das neue Konzerthaus entstehen. Der Technologiekonzern Rhode & Schwarz hat seine Produktionsstätte erweitert, eine Schule ist im Bau.
Häuser für die Stadt
„Wenn alle Tomaten anbieten, ist der König, der eine Gurke im Angebot hat.“ Es müssen Argumente dieser Art gewesen sein, mit denen Ernst Eckart davon zu überzeugen wusste, dass es gerade nicht im Geschäftsinteresse liegen kann, das anzubieten, was anderswo auch zu finden ist. Zudem hatte Eckart als Sohn des Firmengründers auch eine starke emotionale Bindung an das Werk. Und so konnten einige der alten Gebäude stehen bleiben und werden weiterhin als Ateliers und Veranstaltungsräume genutzt. Sie sorgen dafür, dass das Werksviertel von seiner Geschichte erzählt, seinen unverwechselbaren Charakter behält. Auch wenn nicht alles Alte erhalten werden kann – die alten Werkshallen von Zündapp werden nicht mehr lange stehen.
Zwei der bereits in Betrieb genommenen Gebäude – eines davon ein Umbau – zeigen was dieses besondere Angebot fern der Konvention konkret ausmacht. Und sie zeigen, wie Architektur einen Beitrag zur Entwicklung eines Quartiers leisten kann, wenn alle an einem Strang ziehen. Das Werk 3, dessen orangene Fassadenfarbe auf die CI-Farbe von Pfanni verweist, ist ein umgebautes Fabrikgebäude. Steidle architekten haben sich hier die besondere Struktur des Hauses zunutze gemacht und darin große, hohe, teilweise zweigeschossige Büro-, Ateliers- und Veranstaltungsräume integriert. Mit etwas Geschick bekommt man die Gebäudetiefe von fast 30 Metern in den Griff – und dann eben auch das echte Loft. Aber nicht nur die Architektur sorgt für das Besondere. Es wurde nämlich auch nicht alles meistbietend vermietet, sondern auf einen guten Mix aus verschiedenen Büros geachtet, eine öffentliche Galerie (Whitebox) und bezahlbare Künstlerateliers wurden integriert.
Das Dach ist als Freifläche mit Terrasse und Treppenanlage ausgestattet, die Erdgeschosszonen erhielten einen Mix aus Restaurants, Läden und Serviceeinrichtungen. Von der Tiefgarage kommt man nicht direkt in die Büros, sondern man muss über eine öffentliche Passage in die Treppenhäuser – das belebt den öffentlichen Raum beiläufig und selbstverständlich.
Dass sich dies auch bei dem Neubau von MVRDV (siehe Bild links) nebenan durchsetzen ließ, darauf ist Ernst ein wenig stolz – einfach sei es nicht gewesen. Aus Tiefgarage und Treppenhaus tritt man zuerst auf einen umlaufenden Balkon, bevor man ins Gebäude geht. Dieses „Werk 12“ wie es in Anlehnung an den Werksbau heißt, der ursprünglich hier gestanden hatte, zeigt sich roh und direkt als Skelettkonstruktion. Mit Deckenhöhen von fünf Metern und großen offenen Flächen ist das vollverglaste Haus mit den breiten umlaufenden Balkonen wohl genau das, was man als urban bezeichnen darf – Innen und Außen überschneiden sich, sind so organisiert, dass eine Abschottung kaum möglich ist. Ein Fitnesscenter, Audi, eine Bar und ein Club sind die Mieter des Hauses, das in diesem Jahr fertig gestellt wurde.
Offene Zukunft
Der Charme des Übergangs, des Improvisierten wird sich auf Dauer sicher nicht erhalten lassen – aber dieser Anspruch ist wahrscheinlich auch der falsche, denn dieser Charme beruht darauf, dass er sich dort entfaltet, wo das Alte vergangen und sich etwas Neues Dauerhaftes noch nicht etabliert hat. Im Werksviertel wurde bislang sehr viel dafür getan, dass sich eine lebendige Mischung auch auf Dauer stabilisiert, ohne dass ein Shabby-Look konserviert wird – die Käseglocke ist dann doch keine reale Option. Nischen drohen (im schlechtesten Fall zu einem heruntergekommenen) Museum ihrer selbst zu werden, wenn sie sich nicht häuten und neu erfinden. In Zeiten von hohem Immobiliendruck ist ein Quartier wie das Werksviertel in München eine bewundernswerte Gratwanderung zwischen Respekt vor dem Bestand, den bisherigen Nutzern und den Erwartungen, die auf einen solchen Standort projiziert werden. Wie schwer diese Gratwanderung ist, zeigt sich am Verkauf eines Grundstücks, das nicht im Besitz der OTEC war: Hier wurden Höchstpreise gezahlt – entsprechend wird man sich die Nutzung des Bürohauses, das hier gegenüber vom Werk 3 entstehen wird, vorstellen müssen.
Dass die Entwicklung dessen ungeachtet aber noch eine ganze Weile weitergehen wird, dass das Areal prozesshaft Stück um Stück weiterentwickelt werden soll, ist Teil seiner Qualität. Dass der Bestand als bereits abgeschriebene Substanz auf lange Sicht Optionen eröffnet, die sich dort nicht bieten, wo alles auf einen Schlag neu errichtet wurde, gehört ebenfalls zu dieser Qualität. Viel zu selten wird diese Chance, die der Bestand der Stadt bietet, genutzt. Durch eine Stiftung wird Eckart bald sicherstellen, dass auch nach seinem Tod nicht der Ausverkauf dessen, was er hier aufgebaut hat, stattfinden kann. Wie sich das Werksviertel in einigen Jahren zeigen wird, lässt sich im Moment dennoch nicht vorhersagen, und das war auch nie Ziel der Planung. Sie ist hierin realistischer als eine, die glauben macht, die Zukunft vollständig bestimmen zu können.
Gerade weil Eckart sich nicht als Wohltäter versteht, sondern als Geschäftsmann handfeste wirtschaftliche Interessen hat, zeigt das Werksviertel auch über das Quartier hinaus seine Wirkung – andere Investoren können nun nicht mehr so leicht argumentieren, Bestand ließe sich nicht halten, eine sukzessive Entwicklung sei nicht wirtschaftlich. Hoffen wir, dass das Beispiel des Werksviertels tatsächlich Schule macht. Nicht nur in München.
Weitere Information über das Werksviertel
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