• Über Marlowes
  • Kontakt

Fragen zur Architektur (30) | Auch wenn es oftmals noch suggeriert wird: Schon lange geht es nicht mehr darum, ob wir Digitalisierung begrüßen oder ablehnen. Es geht um Gestaltung. Und es geht darum, dass Technik keine Probleme löst, solange wir nicht darüber reden, was uns wichtig ist und wie wir uns das Zusammenleben vorstellen. Technologie nimmt uns diese Arbeit nicht ab. Sie sorgt nur dafür, dass wir sie immer wieder von Neuem zu erledigen haben.

Wenn heute noch jemand von den neuen Bundesländer redet, dann klingt das, nun ja, im besten Fall ziemlich verschlafen. Man könnte versucht sein zu fragen, ob es wieder neue gibt. Mit Digitalisierung ist es ähnlich. Von ihr wird geredet, als sei sie gerade eben erst in unseren Alltag getreten. Von ihr im Singular zu sprechen, als wäre es ein uns äußerliches Phänomen, das irgendwie noch auf uns zu kommt, ist fast schon naiv. Durch Computer gesteuerte Prozesse haben inzwischen auf einer solch breiten Front einen den Alltag bestimmenden Einfluss gewonnen, dass es einer Vernebelungstaktik gleichkommt, von der Digitalisierung zu reden. Sie ist kein unserer Welt äußerliches mehr, über das wir entscheiden könnten, ob wir es wollen oder nicht, ob es gut oder schlecht, uns nützen oder uns schaden könnte – Entweder-Oder-Fragen gehen deswegen am Thema vorbei, weil sie suggerieren, man hätte es mit einem potenziellen Zustand mit und ohne Digitalisierung zu tun, man könne eine objektive Position einnehmen, in der das eine vom anderen unterschieden wird und gegeneinander bewertet wird. Wenn es diesen Zustand je gegeben hätte, dann sind wir über ihn schon längst hinaus.

1811_AT_bla_Ausschnitt

Sitz und Verwaltungsgebäude Textilverband in Münster, Fassadendetail. Das parametrisches Entwurfskonzept ist ein Teil des Gesamtkonzepts, das sich aber nicht im Parametrischen erschöpft. Bild: behet bonzio lin architects. Weitere Information zum Gebäude >>>

Digital ist Alltag

Der digitale Alltag prägt unser Zusammenleben auf vielen Ebenen, konstituiert es auf eine Weise, die nicht mehr zur Diskussion steht. Weil Digitalisierungen uns nicht äußerlich sind, dient „die“ Digitalisierung uns auch nicht in einem Leben, das wir grundsätzlich ohne sie (und dann vielleicht nur etwas umständlicher) führen könnten. Wie sie das Zusammenleben verändert, ist ein Prozess, der gestaltet werden kann, aber nicht mehr zu beenden sein wird, weil sich die Grundlagen, auf denen er sich entfaltet, ständig verändern und weiterentwickeln. Wir sind mitten in den Prozessen, die uns prägen, uns konstituieren. Sie bestimmen Geschäftsabläufe, Gespräche, Bewegungen von Menschen, Gütern und Dienstleistungen. Die Smart City ist schon lange kein Zukunftsprojekt mehr, sie existiert bereits.

Auch in der Architektur ist das Digitale Alltag. Mit Computern werden Bauteile vorfabriziert, Logistik organisiert, Arbeitsabläufe abgestimmt. Man kann Fassaden bauen, die wirken, als seien sie beweglich und leicht formbar. Das muss man aber nicht. Man muss Häusern den Einfluss des Computers nicht ansehen. Es ist eine Option, es zu betonen, ist aber in Zeiten, in denen ohnehin selbstverständlich ist, dass es ohne Computer nicht mehr geht, immer auch tautologisch. Das ist kein Argument, diese Option nicht zu nutzen, im Gegenteil. Architektur ist oft tautologisch, sie betont, was auch ohne die Gestalt gewusst werden kann. Der gläserne Plenarsaal ist nicht demokratisch, aber er teilt mit, warum er entstanden ist: weil ein Haus für eine demokratische Institution benötigt wurde. Dies gestalterisch zu betonen, ist dann auch eine Verpflichtung: Demokratie ernst zu nehmen, zu verteidigen, Entscheidungen und Vorgänge transparent zu machen. Die Nutzung des Computers zu betonen, fordert auch dazu auf, die Illusion aufzugeben, es könne auch eine Welt ohne Computer geben. Die Kunst besteht darin, diese Botschaft nicht geschwätzig werden zu lassen. Die der Technik aufgeschlossene Haltung wird zur aufdringlichen Attitüde, wenn man meint, sie allein sei ausschlaggebend für die architektonische Qualität. Das hätte man vielleicht vor 25 Jahren noch akzeptiert. Als man noch von der Digitalisierung reden konnte.

1946_AF__pixabay_smartcity

Die Smart City ist schon Realität – die Frage ist, wie wir uns ihre Zukunft als freien urbanen Raum vorstellen. Bild: pixaby/ItneverEnds 

Ja, aber: Bedenken, aber ja

In einem Interview in der FAZ am Sonntag hat kürzlich Katrin Suder, Leiterin des Digitalrats der Bundesregierung im Interview gesagt, Digitalisierung erfordere eine agilere Arbeitsweise: „Mehr Dinge ausprobieren statt auf die perfekte Lösung zu warten“; gleichzeitig betone sie, dass noch die Chance bestehe, selbst zu gestalten, „nicht mit dem Staat oder einzelnen Unternehmen als Datenkraken wie in China oder den Vereinigten Staaten.“ (1) Wie realistisch diese Chance ist, kann ich nicht beurteilen, aber die Aussagen treffen einen wesentlichen Kern der Angelegenheit – nämlich deren Paradoxie. Sie besteht zum einen darin, dass man Prozesse nur gestalten kann, wenn man sich in sie hineinbegibt, sich ihnen aussetzt. Wenn man Einfluss nehmen möchte, kann man sich nicht vornehm zurückhalten.

Erst wenn man sich hineinbegibt, kann man gestalten. Das aber heißt nicht, uneingeschränkt das Loblied der Technik zu singen. Denn gestalten heißt auch, kritisch zu sein: abzuwägen, Vorteile zu sehen, aber auch Bedenken zu haben. Und deswegen war „Digital first, Bedenken second“ einer der dümmsten unter vielen dummen politischen Slogans der letzten Jahre. Er konnte nur von jemandem kommen, dem der Mut fehlt, sich in die Sache hineinzubegeben. Und er war gleich doppelt dumm. Denn wenn ich mich in die Sache hineinbegebe, mit digitalen Prozesse arbeite und sie weitertreibe, dann muss ich Entscheidungen treffen, was immer auch heißt, Entscheidungen gegen etwas zu treffen. Gegen etwas, wogegen ich Bedenken habe. Man kann Chancen nicht nutzen, wenn man keine Bedenken hat. Erstens. Und zweitens war der Slogan dumm, weil er eine Absage an Politik ist. Politiker sollen steuern, sie müssen steuern wollen. Politik heißt unter anderem technische Entwicklungen so zu behandeln, dass sich daraus Formen und Regeln des gesellschaftlichen Miteinander ergeben, wie auch immer man diese haben will.

Und genau darüber müssen wir immer wieder nachdenken, immer wieder sprechen: wie wir die Dinge haben wollen. Wir müssen wissen, was wir von der Technologie wollen, wo sie wem zugänglich sein soll. Was für uns Freiheit bedeutet, wie wir Gerechtigkeit verstehen, wo wir Grenzen ziehen wollen. Und wo die Technologie Gefahren birgt.  Ohne eine kritische Haltung geht das nicht. Wenn Angela Merkel oder Christian Lindner Greta Thunberg das Potenzial technologischen Entwicklungen entgegen halten, dann wohl nur, um das unbequeme politische Feuer, dass sie entfacht hat, eindämmen zu wollen, anders kann man sich dies nicht erklären: denn Technik löst keine Probleme, wenn das so wäre, hätten wir, wenn nicht keine, dann doch bedeutend weniger davon. Technologie ist kein Politikersatz. Man kann es nicht oft genug sagen.

1919_AT_idc_Pavillons

Bauen mit Computern und lernenden Systen sind Teil der Forschung an der Universität Stuttgart. Im Bild die Pavillons der Uni Stuttgart, ICD und ITKE, auf der Buga in Heilbronn. Beide Bilder: ©ICD/ITKE Universität Stuttgart. Weitere Information zum Pavillon links >>> und zum Pavillon rechts >>>

Die erneuerte Aufgabe

Die zweite Paradoxie, auf die Suder hinweist ist in der Forderung verborgen, „mehr Dinge ausprobieren, statt auf die perfekte Lösung zu warten.“ Die perfekte Lösung gibt es ohnehin nicht. Worum es bei digitalen Prozessen in einem radikalen Maße ankommt, ist, dass man nicht vorab bestimmt, was die Lösung sein soll. Das wäre das Gegenteil von Kreativität. Und damit wären wir bei KI, bei Künstlicher Intelligenz. Deren Prinzip ist es, als selbstlernendes System sich an die Bedingungen anzupassen, die sie erzeugt und damit Entscheidungen in Situationen zu treffen, die nicht von Anfang an definiert wurden. Chat Bots sind die wahrscheinlich bekannteste Anwendung dieses Prinzips. In der Architektur wird es vermutlich nicht mehr lange dauern, bis KI-Prozesse eine wichtige Rolle einnehmen: in der Entwicklung neuer Materialien, neuer Konstruktionen, wie sie beispielsweise an der Universität Stuttgart erprobt werden.

In ähnlicher Weise ist es kaum ausgeschlossen, dass Computer auch Gebäude entwerfen, und möglicherweise gerade nicht nur solche, die Antworten auf standardisierte Fragestellungen geben sollen, sondern gerade dann, wenn die Anforderungen komplexer formuliert werden. Davon muss man keine graue Haare bekommen. (2) Es geht vielmehr darum, sich in diese Entwicklung hineinzubegeben, um Maßstäbe für das zu entwickeln, was entstehen kann und entstehen soll. Denn was mit KI nicht entschieden werden wird, ist die Frage, was wir unter der Qualität verstehen wollen. Was für uns Freiheit bedeutet, wie wir Gerechtigkeit verstehen, wo wir Grenzen ziehen wollen. Architekt sein wird heißen, vielmehr zwischen Maschine und Menschen zu moderieren: Mehr als zuvor zu klären, was den Wünschen, den Möglichkeiten, den Bedenken und Ängsten derer entspricht, für die man plant. Die Aufgabe bleibt hoch verantwortungsvoll. Sie bleibt es, weil sie nicht irgendwann beginnt, wenn der Hebel umgelegt wird. Sie hat schon lange begonnen.

Radikal vom Menschen ausgehen


1946_AT-FabLab_Handyfabrik

Gläserne Handypdouktion des Faboulos St. Pauli in Hamburg. Hier werden Handys hergestellt, für die speziell einzelne Komponenten eingekauft wurden, weil sie ökologisch sinnvoller sind als die üblichen. (Bild: Faboulos St. Pauli)

Und weil es nicht damit getan ist, eine rein affirmative Haltung einzunehmen, schließt diese Aufgabe auch ein, die Potenziale von KI auch radikal auf die Fragestellungen anzuwenden, die sie aufwirft und die uns herausfordern – das ist nicht nur die Datensicherheit, nicht nur die der Geschwindigkeit, nicht nur die der Konkurrenzfähigkeit. Es ist auch die der Energie und der Menschenwürde. Digitale Technik frisst viel Energie. Sie benötigt seltene Rohstoffe. Wir ignorieren, dass die meisten Geräte unter ausbeuterischen Bedingungen entstehen. (3) Wir müssen KI politisch – mit Bedenken – in den Blick nehmen und sie auf das anwenden, was sie benötigt. KI so zu programmieren, dass sie sich selbst so wenig wie möglich nötig macht, dass sie soviel Freiheit wie möglich lässt. Dazu braucht es digitale Schulen und kritische Geister, die mit den Technikfreaks zusammenarbeiten, es braucht die Technikfreaks, die sich in der Verantwortung für das sehen, was die Technik nicht herstellt. Es braucht Fantasie und Begeisterung, es braucht technische Kompetenz, eine gesellschaftliche Idee und Willen zur Politik. Es braucht Fablabs wie das Faboulos St. Pauli, wo Menschen selbst Dinge herstellen können, auch beispielsweise fehlende oder nicht mehr erhältliche Ersatzteile, um defekte Geräte wieder benutzen zu können. KI in der Architektur könnte sich auch auf die Frage beziehen, wie man mit so wenig wie möglich Neubau auskommt. Das heißt nicht, darauf zu warten, dass über BIM oder sonstige Formate so viele Daten vorliegen und zusammengeführt werden können, dass eine Maschine daraus sinnvoll etwas erarbeiten kann – genau um dieses Warten auf die (vermeintlich) perfekten Lösung darf es nicht gehen, die ohnehin eher dem Horrorszenario von KI entspricht. Es ginge darum, Menschen und deren Möglichkeiten über offene Plattformen zusammenzubringen und die hybride Konstellation aus Community und Technologie zu schaffen. In einem Vortrag auf der Frankfurter Buchmesse sagte Philipp Thesen dass wir in Sachen KI radikal vom Menschen ausgehen müssten. (4) Das ist richtig. Und dafür ist es höchste Zeit.


(1) „Teilt eure Daten!“ Katrin Suder im Gespräch mit Patrick Bernau und Ralph Bollmann. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 3. November 2019. Online nur für Abonnenten >>>
(2) Daniel Kahnemann hat in „Schnelles Denken, langsames Denken“ dargestellt, dass in vielen Fällen eine standardisierte Abfrage von einzelnen Punkten der intuitiven Behandlung überlegen ist, auch wenn dem ebenso intuitiv misstraut wird. Bei der Behandlung von Müttern im Kindbett etwa waren so die Fälle von Komplikationen deutlich gesenkt worden. In vergleichbarer Weise könnte auch eine durch KI erstellter Entwurf verlässlich hohe Qualität liefern, wenn die Programmierung stimmt und die Eingriffsmöglichkeit gegeben ist. Daniel Kahnemann: Schnelles Denken, langsames Denken, München 2011. S. 280 ff.
(3) Jürgen Merks: Digital first, Planet second. Kontext Wochenzeitung, 13. Februar 2019
(4) Philipp Thesen auf dem Design Talk »Humanizing Technologies: KI und Design« am 16. Oktober im Gespräch mit Martina Bergmann und Martina Metzner. Thesen las dort auch aus „The Digital Shift“, das er mit Christian von Reventlow verfasst hat und das im Steidl Verlag erschienen ist. >>>