Der Föderalismus kommt im Rahmen einer wuchernden Bürokratie, die in Preussen wurzelt, in Verruf. Wen darf dies wunden? Doch gerade im Bereich Kultur – Architektur, Musik, Theater, Literatur – blüht nimmermüd‘ eine von kommunalen oder privaten Initiativen getragene beziehungsweise geförderte, dichte Kultur-Landschaft im ganzen Land, wie ein Besuch in Niederbayern zeigt. Auch von den Kehrseiten föderalistischer Klientelpolitik ist zu berichten.
Der aus dem niederbayerischen Viechtach stammende Architekt Peter Haimerl ist in avancierten Architekt(innen)kreisen inzwischen international bekannt, sagen wir: wie ein bunter Hund. Vielfach ausgezeichnet für sein experimentell gerettetes Bauernhaus „Birg mich Cilli“ bis zu seinen weitreichenden Überlegungen und Forschungen im Bereich Infrastruktur mit dem Titel „Zoomtown“1) kennt man seine ambitionierten und großteils von ihm selbst initiierten Projekte. Also fahren wir nach Niederbayern, wobei wir annehmen, dass sich dort Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Weit gefehlt, aus verschiedenen Gründen.
Die Musiklandschaft
Der spektakuläre Konzertsaal, den Peter Haimerl in Blaibach 2014 gebaut hat und dessen Umgebungssanierung er kurz darauf in Angriff nahm, ist inzwischen eine feste Adresse für Kammermusikfreunde und Architekturtouristen.2) An Ort und Stelle wirkt der wie ein Meteorit eingeschlagene Baukörper erstaunlich klein und maßstäblich der kleinteiligen Umgebung angepasst. Und tatsächlich offenbaren das Foyer und der Saal im Untergeschoss erst die zauberhafte räumliche Weite, die so viele Besucher anzieht. Wir hören Bachs Johannes-Passion mit dem Württembergischen Kammerorchester und ausgezeichneten Solisten – einer davon der exzellente Bariton Thomas E. Bauer, der diese Musikstätte initiiert hat und mit bewundernswertem Geschick für ihre Lebendigkeit sorgt.
Die Fülle der Orchester- und Chormusiker klingt erst einmal sehr laut, doch verträgt der Raum diese Klangfülle in überraschender Homogenität. Anderntags spielt das American String Quartet – und es ist eine Offenbarung, wie brillant und differenziert dieses Streicherensemble zu hören ist. Beide Konzerte sind bestens besucht. Man kennt sich, man trifft sich. Man hat die Heiterkeit von Dvořáks „Aus der neuen Welt“ für viele Instrumentfassungen im Sinn…
Kulturenklaven
Wir übernachten im „Denkerhaus“ bei Arnbruck, einem 2021 von Peter Haimerl sanierten und umgebauten Bauernhaus, in dem reichlich Platz für wenige oder auch mal fast zwanzig Personen ist, die ihre Ruhe oder einen geschützten Diskussionsrahmen suchen. Betonträger in Holzbalkenmanier ergänzen beziehungsweise ersetzen verrottete Bausubstanz, es erwarten die Besucher schöne Räume, wunderbare Details. Das Naturgrundstück drumrum liegt ruhig, das „Denkerhaus“ entspricht dem abgelegenen Ort und meidet jeglichen Schick, den Gästehäuser und Hotels heute zu brauchen scheinen. Die Dielen knarzen, die Türen quietschen – so ist es eben in alten Bauernhäusern, was denen, die hierher kommen, auch gewiss nichts ausmacht. Das Schlichte, das Ursprüngliche einer einfachen Arbeits- und Lebensweise charakterisiert das Haus wie eh und je. Man kann es mieten. Und es nach dem „Probewohnen“ als Korrektiv der eigenen Lebensweise verstehen können.
Die bayerischen Verkehrsminister
Anschließend fahren wir Richtung Lichtenberg, etwa 220 Kilometer gen Nordwesten, genau bis zur Grenze zwischen Bayern und Thüringen. Dort, in Oberfranken, ist für eine vom Bezirk Oberfranken als Träger betriebene Musikakademie ein kleiner Konzertsaal unter „grünem Hügel“ entstanden; Bayreuth ist nicht weit. Doch bis wir dort sind, setzt sich eine gewisse Fassungslosigkeit fest: Die gesamte Region ist durchschnitten und zerfurcht von überdimensionierten Autobahnen und autobahnähnlich ausgebauten Landstraßen mit enormen Lärmschutzwänden – es müssen Milliarden in die hochwertig geteerten Straßen und betonierten Infrastrukturbauten geflossen sein. Fördergelder aus Bonn beziehungsweise Berlin machten’s möglich. Wundert es, dass seit 1982 die Verkehrsminister Dollinger, Warnke, Zimmermann, Ramsauer, Dobrindt und Scheuer aus Bayern kamen? Es fällt sofort an mikrigeren, man könnte sagen: normalen Straßen auf, wenn man Bayerns Grenzgebiete erreicht. Genau die in Bayern ausgegebenen Verkehrs-Milliarden fehlen andernorts für eine akzeptable Infrastruktur, für die Bahn sowieso. Der überraschende Rückzug des einstigen Ministers Andreas Scheuer aus dem Parlament wurde dieser Tage viel kommentiert. Die Süddeutsche Zeitung (3.4.24) zitierte Markus Söder: „Bei allem, was der ein oder andere kritisiert an dem Andi Scheuer: Ich kenne wenige Minister, die so viel Geld nach Bayern holen“.
Der kleine grüne Hügel
Zurück nach Lichtenberg im Hofer Land, das nahe Bad Steben liegt. 2017 bis 2021 baute Peter Haimerl hier einen Konzertraum unter einem grünen Hügel als Ergänzung vom „Haus Marteau“, einer internationalen Musikerbegegnungsstätte; der Bezirk Oberfranken hatte 1980 das Haus gekauft und ist Träger der Musikakademie.3) Henri Marteau (1874-1934) war ein weltweit bekannter Geiger, der sich hier in Lichtenberg 1912-13 ein Sommerhaus in landschaftlich traumhafter Umgebung errichten ließ. Für 5,2 Millionen Euro entstand in den letzten Jahren der zusätzliche, durch einen unterirdischen Gang mit dem Stammhaus verbundene Konzertraum für bis zu hundert Gäste. Es ist ein hoher Saal mit expressiver Innenhülle, der – wie in Blaibach, nur aus Granit statt aus Beton – erst beim Betreten sein Volumen und seine auch proportionsbedingte Wirkung entfaltet. Das Haupthaus musste im Untergeschoss abgegraben werden, um nutzungsbedingte Raumhöhen und Erschließungsniveaus zum neuen Konzertraum zu erreichen.
Gewöhnungsbedürftig ist die Anordnung der festen Sitzplätze: Man sitzt sich gegenüber und muss zu den Musizierenden den Kopf wenden. Die Geometrie hätte praktischere Anordnungen erlaubt, aber das gemeinsame Hören,, eine „dialogische Situation“ standen offenbar im Vordergrund. Beeindruckend ist die Innenraumhülle aus „Granitspitzen“, die mit bis zu 13 m Länge und 4 m Breite bemerkenswerte Maße haben und mit eleganter Beleuchtung die Blicke im Raum in die Höhe locken. Musiktalente aus aller Welt finden nach Lichtenberg, Musikfreundinnen in der ganzen Region profitieren davon, dass sie Gastgeber für den musikalischen Nachwuchs und Zuhörer bester Konzerte sein können.
Geht doch!
Nun führt der Weg weiter nach Lichtenfels, etwa auf halber Strecke zwischen Coburg und Bamberg. Die Stadt hat etwa 20.500 Einwohner, lebte mal von der Korbflechterei, dann war ein Unternehmen für 3D-Druck wirtschaftlich relevant – das inzwischen verkauft ist. Etwa die Hälfte des Verkaufsgewinns floss in ein kleines Museum mit Veranstaltungsräumen.
Lichtenfels verfolgt seit 2010 ein gefördertes ISEK (Integriertes Städtebauliches Entwicklungskonzept), das „auf gesamtörtlicher Ebene eine integrierte städtebauliche Entwicklungskonzeption, die das kommunalpolitische Handeln vorrangig auf die Stärkung des Stadtkerns ausrichtet und zur Wiederbelebung des lokalen Handels beitragen soll“.4) Zwar prägen auch noch die – wie man immer wieder sagen muss: von der Bevölkerung jederzeit mitverantworteten – Hinterlassenschaften den Ort. Die Vernachlässigung von Läden, Häusern und des von Autofahrern verwüsteten öffentlichen Raums ist unübersehbar. Doch sieht man der Ortsmitte erste Wiederbelebungsergebnisse an, zum Beispiel mit der Umgestaltung des Marktplatzes mit einem neuen Gebäudetrakt am Rathaus – jenes bereits angesprochene Museum mit dem Namen „Archiv der Zukunft“.5) Peter Haimerl entwarf hier ein kleines Pavillon-Skulpturen-Ensemble mit zwei rund 12 Meter hohen, künstlichen, kunstvollen „Weiden“ aus galvanisierten Vierkant-Baustahlrohren, mit dem an die 3D-Druck-Phase angeknüpft wird. Außergewöhnlich ist auch ein kleiner Veranstaltungsraum im Untergeschoss, in dem Bohrkerne – Bauarbeitenreste – die Wände bilden und mit Licht eindrucksvoll inszeniert sind.
In dem kleinen Lichtenfels deutet sich an, dass bei der ubiquitären Ortskernsanierung in deutschen Städten – großen wie kleinen – die Zeit der Blumenkübel endgültig vorbei sein kann und muss und in ganzheitlicher Konzeption mit weitgehend autofreien öffentlichen Zentrumszonen, umgenutzten Erdgeschossen und sorgfältiger Gestaltung sehr viel zu erreichen ist.
Wo ein Wille ist, ist ein Weg
An allen hier besuchten Orten zeigt sich, dass weitreichende Änderungen zum Guten und Schönen, zum Nutzen und Frommen der Bevölkerung bestens möglich sind. Vonnöten sind primär privates Engagement wie in Blaibach und Lichtenberg, bürgerschaftliche Initiativen mit politischer Unterstützung wie in Lichtenfels. Bürgerinnenbeteiligungen müssen nicht schaden, sind aber nicht ausschlaggebend. Vor allem aber springt ins Auge, dass der kultur- und wirtschaftspolitische politische Hype um die Metropolen, der diesen eine erbärmliche Wohnungsnot beschert, aufgegeben werden kann und die flächendeckende Lebensqualität mit Infrastruktur und Wirtschaftsförderinstrumenten gewährleistet und Wohnraum dort genutzt werden kann, wo er bereits existiert. Soziologendeutsch lässt sich hier weder von „bottom up“ noch von „top-down“ reden – solche sprachlich unzureichenden Kategorien, die leider Fördergelder lenken, entsprechen den Realitäten vor Ort nicht.
Es ist gleichzeitig nicht einzusehen, dass Milliarden Subventionen von Ministern dorthin gelenkt werden, wo deren Wahlkreise nicht weit sind. Mehrere Milliarden stellt beispielsweise Robert Habeck im Rahmen des IPCEI-Programms (Important Project of Common European Interest) für eine Northvolt-Batteriefabrik im Holsteinschen Heide zur Verfügung. Wäre Northvolk vielleicht ohne Habecks Milliarden gekommen? Northvolt-Chef Peter Carlsson, vormals Tesla, spricht schon von einem „Biarritz in Dithmarschen„. 10 Milliarden nahm Intel für eine Chipfabrik nahe Magdeburg mit, bei Dresden kann TSMC mit 5 Milliarden an staatlichen Beihilfen rechnen.6) Fragwürdig sind die versprochenen Arbeitsplatzzahlen: In dieser Branche läuft das Meiste weitgehend automatisiert. Es ist nichts dagegen zu sagen, dass sich solche Industriezweige in östlichen Bundesländern ansiedeln. Nur darf kritisiert werden, dass diese Unternehmen das Geld eben nicht brauchen – vielmehr benötigen sie eine exzellente Infrastruktur und gute Wohn- und Lebensbedingungen für Mitarbeiterinnen. Genau dort fehlen die Milliarden aus dem Etat der Berliner Ministerien.
3) Lesenswert zur abwechslungsreichen Geschichte des Hauses und zum Programm: https://haus-marteau.de/