Stilkritik (92) | Zum Ende der Sommerzeit beginnt man es wieder zu vermissen: das süße Nichtstun. Dass es mit dem Nichtstun allerdings nicht so einfach ist, wusste schon Blaise Pascal, der das Unglück der Menschen ihrer Unfähigkeit zuschrieb, nicht ruhig im Zimmer sitzen zu können. Nun gibt es fürs Nichtstun ein Stipendium. Es ist zu schön, um wahr zu sein.
Der Nobelpreisträger Daniel Kahneman hat die ernüchternde Erkenntnis gemacht, dass Handlungen oftmals weniger als gedacht dem Erfolg dienen, den sie versprechen. Besonders aktive Aktienhändler schneiden laut Untersuchungen schlechter ab als die passiveren, am besten waren gar die, die besonders passiv waren, so liest man in Kahnemans Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“. Das ist aber nicht nur bei Aktienhändlern so: Fußballtorhüter springen immer in eine Ecke, obwohl etwa ein Drittel aller Schützen in die Mitte schießen. Einfach stehen zu bleiben sieht eben ziemlich dämlich aus. Dämlicher als es ist.
Da scheint es gerade recht zu kommen, dass die Hamburger Hochschule für bildende Künste ein Stipendium von 1600 Euro ausgeschrieben hat. Fürs Nichtstun. Endlich. Endlich hat jemand erkannt, dass viel zu viel Aktionismus herrscht und wir viel zu selten ruhig in unserem Zimmer sitzen. Die Stipendien sind eingebettet in das künstlerisch-diskursive Projekt „Schule der Folgenlosigkeit“ von Friedrich von Borries, das ab November im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe ausgestellt wird. Im Ankündigungstext finden sich gefällige Redewendungen, dass man in der Ausstellung seine Hände in Unschuld waschen und Entscheidungen abgeben könne, dass die vermeintlich allgemeingültigen Vorstellungen vom richtigen Leben hinterfragt werden. Tataaa!
Das wichtigste Ziel hat von Borries schon erreicht, was auch dieser Text beweist: Er bekommt Aufmerksamkeit. Das ist auch nicht verwerflich, ich wünsche mir auch Aufmerksamkeit für meine Texte. Friedrich von Borries kann das wohl besser als ich, bei ihm hat sich flugs die Süddeutsche Zeitung gemeldet. Das Ergebnis ist ein Interview, in dem versucht wurde, ein paar humoristische Funken aus der Stipendien-Ausschreibung zu schlagen: Der Interviewer unterließ es einfach, Fragen zu stellen. Worauf sich von Borries aber nicht einlassen wollte und lieber bierernst davon redete, dass „Unterlassen heute vielleicht oft wichtiger ist als Erfolgsstreben, Technikversessenheit, auch in der Nachhaltigkeitsdiskussion.“
Politik und Technik
Dem stimme ich zu. Es ist nach wie vor eines der fatalen Missverständnisse, zu glauben, mit Technik ließen sich Probleme so lösen, dass damit keine neuen entstünden. Vor allem ist Technikversessenheit möglicherweise nur eine Folge dessen, was oben genannter Kahnemann als die Neigung ausgemacht hat, mit der Menschen auf schwierige Fragen reagieren: Sie beantworten eine, die so ähnlich klingt, aber einfacher zu beantworten ist. Anstatt zu fragen, wie wir auf den Klimawandel reagieren sollten, fragen wir lieber nach einer Technik, mit der wir Energie sparen können. Es ist das Dilemma, das sich im letzten Jahr auf dem UN-Gipfel zwischen Greta Thunberg und Angela Merkel offenbarte. Es war besonders dramatisch, weil ausgerechnet Angela Merkel mit dem Verweis, Thunberg bedenke in Sachen Klimaschutz zu wenig die Möglichkeiten der Technologie, die Politik aus dem Spiel genommen hat. Das Problematische am Technikglaube ist doch, dass er die Hoffnung nährt, es könnten die Konflikte und die Folgen des Klimawandels ohne Politik, ohne Verhandlung gelöst werden, es müssten keine unbequemen Wahrheiten auf den Tisch kommen. Man müsse eben nur die richtige Technik haben. Mit diesem Glauben werden die unbequemen Wahrheiten leider ständig unbequemer. Das gilt auch für Architektur. Sie nur mit noch mehr Technik vollzupumpen, wird uns nicht weiterbringen. Sonst hätten wir ja jetzt keine gravierenden Probleme in Sachen Klimaschutz.
Politik ist allerdings, und hier sind wie wieder bei Friedrich von Borries, nicht Nichtstun. Politik ist harte Arbeit. Sie besteht unter anderem aus Zuhören, Vermitteln, daraus, Überzeugungen nicht aufzugeben und dennoch dem anderen Respekt zu zollen. Und so frage ich mich, ob da nicht doch irgendwas nicht stimmt, bei der Schule der Folgenlosigkeit und den Stipendien fürs Nichtstun. Das Unwohlsein gegenüber dem Projekt, über das sich noch nicht viel sagen lässt, rührt weniger daher, dass von Borries sich nicht auf einen Spaß mit dem Interviewer der Süddeutschen einlassen wollte und wie ein Pressesprecher sein Thema erläuterte, ohne danach gefragt zu werden. So oft ruft die Süddeutsche schließlich nicht einmal bei einem Professor für Designtheorie an.
Es rührt eher daher, dass von Borries Nichtstun und Folgenlosigkeit miteinander kurzschließt. Nichtstun ist nicht folgenlos, nicht notwendigerweise. Wenn das mal so war, ist es damit vorbei. Ebenso haben viele Aktivitäten, gerade die, die man als Aktionismus bezeichnen kann, eben keine Folgen. Das Klimapaket vom letzen Jahr war so ein folgenloser Aktionismus. Hingegen zeigt das simple Beispiel des Fußballtorwarts, wie verworren es ist. Stehenbleiben – also Nichtstun – kann hier sehr erfolg- und folgenreich sein, muss es aber nicht. Wer ein Grundstück kauft und nichts tut, kann möglicherweise beim Verkauf in ein paar Jahren satte Gewinne einstreichen.
Ich werde den Verdacht nicht los, dass der suggerierte Zusammenhang zwischen Nichtstun und Folgenlosigkeit genau dem Glauben folgt, gegen den sich zu richten uns das Konzept vorgaukelt: nämlich den Glauben, es hätte immer Folgen, wenn man etwas tut. Hier wird es eben nur rumgedreht: Nichtstun hat keine Folgen. So einfach ist es aber nicht. Loriot wusste das ja auch schon.
Nichtstun ist aber nicht nur die Absage an Technikversessenheit, sondern auch eine an Politik. Und letztlich geht es ja auch nicht um das Nichtstun. Man muss für das Stipendium einen Antrag ausfüllen. Man muss sagen, warum man der Richtige ist, um etwas Bestimmtes nicht zu tun – eine sehr merkwürdige Bedingung. Sie klingt fast wie eine religiöse Buße: Der Sünder muss das bleiben lassen, was er besonders gerne tut. Aber tun muss der Stipendiat oder die Stipendiatin ja doch etwas. In der Ausschreibung heißt es: „An die Vergabe des Stipendiums ist die Auflage gebunden, dass ich einen Erfahrungsbericht meines Stipendiums verfasse und für die Ausstellung und die damit verbundenen digitalen, Print- und Bewegtbild-Formate zur Dokumentation und öffentlichkeitswirksamen Vermittlung zur Verfügung stelle.“ Da ist er wieder, der Pressesprecher-Effekt. Wäre doch toll, man müsste einfach nur eine großartige Bewerbung schreiben und dürfte dann wirklich nichts tun, müsste also auch keine Rechenschaft ablegen. Ach Mensch.
Alles im Rahmen
Zu einer der schönen Aktivitäten des vermeintlichen Nichtstun gehört, eine Zeitung gründlich zu lesen. Es war ein zwischendurch eingestreuter Urlaubstag, an dem ich die Zeitung, in dem das Interview mit von Borries stand, wirklich gründlich lesen konnte. Darin gab noch einer ein Interview: der Soziologe Aladin El-Mafaalani. Es ist ein großartiges Interview. In ihm geht es um Bildung, um soziale Ungleichheit, es handelt von Hip-Hoppern und von Punks. Dort sagt El-Mafaalani unter anderem: „Hat man kaum Geld, muss man den Mangel managen. Schon Kinder entwickeln eine Strategie: Die ärmeren müssen jeden Tag kurzfristige Knappheitsprobleme lösen. Sie fragen: Was bringt das genau, ist das wirklich notwendig? Sie denken funktional, denken kurzfristig, gehen kein Risiko ein und vermeiden Unsicherheiten.“
Was heißt das in Bezug auf das Projekt von von Borries? Ich fürchte, dass die Stipendien für Menschen sind, die aus reichen Häusern kommen, weil sie die Folgenlosigkeit ihres Tuns in der Kindheit nicht als beglückende Option erlebt haben. Glaubt man El-Mafaalani, dann sind Kinder aus ärmeren Häusern darauf aus, Handeln auf die daraus folgende Wirkung hin zu optimieren. Deren Motivation sei daher auch gering, dem Humboldtschen Bildungsideal zu folgen, das Bildung als Selbstzweck versteht: „Das wäre ja das Gegenteil von anwendungsorientiert.“ In der Schule würden die reicheren Kinder bevorzugt, weil dort Aufgaben gestellt würden, mit denen ärmere umzugehen nicht gelernt hätten. Es werde zu sehr vorausgesetzt, dass Kinder gelernt hätten, mit Risiken umzugehen und langfristig zu denken. Die Überschrift des Interviews lautet: „Verzichten kann nur, wer hat.“ Das gilt eben auch für den Verzicht auf Folgen, die das Handeln haben könnte. Er setzt das Lebensgefühl voraus, schon genug zu haben, um das Nichtstun oder die Folgenlosigkeit als Option für ein gelungenes Leben zu verstehen. Ob man damit die fördert, die in ihrer Kindheit statt dessen gelernt haben, anwendungsorientiert zu denken?
Und so macht das alles auf mich den leider etwas schalen Eindruck, dass hier eine PR-Maschine in eigener Sache läuft, eine für die eigene Szene, die eigene Peer-Group. Dass hier Folgen und Wirkungen sehr genau kalkuliert werden. Dass hier die Provokation in gut verdaulichen Mengen eingestreut wird, so dass man nicht bei denen aneckt, die man braucht, damit die „Schule der Folgenlosigkeit“ bekannt wird, aber doch die Erwartung erfüllt, originell zu sein. Ein intellektuelles Amuse-Gueule. Ich werde das Gefühl nicht los, dass hier einer nicht in Leidenschaft für eine Sache brennt, dass hier einer die Provokation kalkuliert, anstatt sie als unvermeidbare Folge in Kauf zu nehmen. Dafür fehlt die Radikalität, das Risiko. Alles ist sehr genau im Rahmen dessen abgesteckt, was üblicherweise an Hochschulen passiert. Der Rahmen wird nicht gesprengt, etwa indem einmal Studierenden eine Studienleistung anerkannt bekommen, weil sie sie nicht erbracht haben. Nicht, dass man unbedingt radikal sein müsste. Aber vielleicht sollte man demütig genug sein, nicht den Eindruck zu erwecken, man wolle es sein.
Es gibt in der Literatur übrigens einen sehr berühmten Nichtstuer. Bartleby der Schreiber. Der von Herman Melville beschriebene Angestellte einer Kanzlei entzieht sich den Aufträgen, die er bekommt, mit dem Satz: „I‘d rather prefer not to“ – ich würde lieber nicht. Am Ende stirbt er, ohne das ihm noch geholfen werden kann. Ob man ihn für einen glücklichen Menschen halten sollte, darf man bezweifeln.