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Foto: Tuomas Uusheimo
Vom Buchbehälter zum Treffpunkt der Stadtgesellschaft: Die neue Zentralbibliothek Oodi von ALA Architects in Helsinki zeigt, was Bibliotheken heute sein können.

In der finnischen Landeshauptstadt Helsinki konnte vor Kurzem die neue Zentralbibliothek Oodi nach Plänen des ebenfalls in Helsinki ansässigen Architekturbüro ALA Architects fertiggestellt werden. Vorab aber ist ein Blick auf den Ursprung des Wortes Bibliothek auch an dieser Stelle einmal lohnend, geht es doch um besondere Häuser in unseren Städten. Der heutige Begriff findet sich als Wortpaar zusammen aus den jeweiligen griechischen Wortstämmen biblíon (βιβλίον) für „Buch“ und thḗkē (θήκη) für „Behälter“ – die Bücherei als eine Art Bibeltheke also. Viele Jahrzehnte und Jahrhunderte lang wurden in diesen Behältern Bücher und Schriften gesammelt, oft zur Mehrung des Ansehens derer, die sich neben den Publikationen selbst auch die entsprechenden Räumlichkeiten leisten konnten. Klöster, Herrscherhäuser, Universitäten – ihrerseits oftmals selbst von Herrscherhäusern ins Leben gerufen –, reiche Familien oder noble Bürgerschaften. Entsprechend schön anzusehen sind viele dieser historischen Bibliotheken bis heute: Die Klosterbibliothek im österreichischen Stift Admont ist ein spätbarockes Raumwunder, das immer noch Staunen auslöst. Nicht minder beeindruckend ist die Bibliothek des Trinity College im schottischen Dublin, in deren zentraler Halle man jederzeit erwartet, dass Harry Potter und Co auf ihren Besen aus einem der zweistöckigen umlaufenden Bücherregale geschossen kommen. Ebenfalls wunderschön, die Anfang des 20. Jahrhunderts entstandene New York Public Library.

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Ansicht von Südwesten. (Foto: Tuomas Uusheimo)

Aus dem Zusammenschluss der Bestände der Bibliotheken des Unternehmers John Jacob Astor und des Bücher sammelnden Rechtsanwalts James Lenox sowie dem Nachlass von James J. Tilden, ebenfalls Anwalt und Politiker, ging jener Bücherbehälter hervor, der bis heute als Schauplatz zahlreicher Filme bekannt ist – selbst denjenigen, die noch niemals in New York waren. Nach dem Vorbild solch US-amerikanischer public libraries wurden nach dem Zweiten Weltkrieg auch in Deutschland viele Büchereien gebaut. Mit der Zeit veränderte sich das Sortiment, zu den Büchern kamen Zeitungen und Journale, Schallplatten, Musik-, Hörspiel- und VHS-Kassetten, CDs und DVDs. Immer ging es um das Zurverfügungstellen von gesammelten und geordneten, bereits veröffentlichten Informationen.


Schlussstein eines inoffiziellen Kulturforums


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Luftbild Helsinki. Die neue Bibliothek ist links am Ende des die Schienen begleitenden Grünraums zu erkennen. (Bild: Iwan Baan)

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Luftbild von Nordosten mit Blick in Richtung Innenstadt. (Foto: Tuomas Uusheimo)

Wie eine Bibliothek heute mehr sein kann, als „nur“ ein Haus für derlei Informationssammlungen, stellt nun der Bau von ALA Architects in Helsinki unter Beweis. Unmittelbar am zentralen Bahnhof der finnischen Hauptstadt steht das große Haus und ergänzt rund um den Park Töölönlahden puisto eine Art inoffizielles Kulturforum. Hier finden sich bereits das von Steven Holl entworfene Kunstmuseum „Kiasma“, das Musikzentrum „Musiikkitalo“ von LPR und die legendäre Finlandia-Halle von Alvar Aalto.

Die neue Bibliothek bildet nun als östlicher Abschluss des Kansalaistori-Platzes den vorläufigen Höhepunkt. Auf den ersten Blick wirkt der langgestreckte Bau, als ruhe auf einem hölzernen Sockelgeschoss ein leicht schwingendes Glasdach. Von den beiden messerscharf aufragenden Gebäudekanten der Platzseite pendelt der hölzerne Sockel am Boden nach innen und markiert deutlich den Eingang ins Haus. Dieser Wellenbewegung folgend kippt der obere Abschluss der Holzkante weit in Richtung Platz und bildet gleichermaßen das Vordach und eine Besucherterrasse, die vom gläsernen Obergeschoss aus zugänglich ist. Eine Art signature move des Architekturbüros, das ähnliche Motive holzverkleideter Schwingungen bereits am Kilden Performing Arts Center im norwegischen Kristiansand (2004–2014) und an der Erweiterung des Flughafens in Helsinki erprobte.


Schwingender Sockel, eindrückliche Innenräume


Der schwingende Sockel und sein gläserner, wellenförmig plätschernder Dachabschluss geben dem Baukörper trotz seiner im Stadtplan strengen Trapezfigur eine überraschende Leichtigkeit. Im Erdgeschoss sind die Information, ein Restaurant, bemerkenswert großzügige WCs, ein Kinosaal und ein beträchtlicher Mehrzweckveranstaltungsraum untergebracht – das gesamte Foyer kann und wird mit temporären Ausstellungen bespielt. Bücher und andere Medien sucht man hier zunächst vergebens. Spätestens auf der Rolltreppe nach oben wird zudem klar, dass es innerhalb des Holzsockels ein weiteres Geschoss gibt. Ein maker space findet sich hier, eine Art großes, frei zugängliches Atelier, in dem sich die Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt eigeninitiativ an Nähmaschinen und 3D-Druckern ausprobieren oder an einem Workshop-Programm teilnehmen können. Eine geschwungene Tribüne bildet das Zentrum und ist Auditorium, Lernlandschaft und Ort für Plausch und Entspannung zugleich. Ein paar Meter weiter sitzen Jugendliche an Rechnern und zocken die Online-Games, die sie zuhause nicht spielen können oder dürfen. Verschiedene Studios umschließen die heimelig-konzentrierte und angenehm introvertierte Raumlandschaft.

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Offene Bücherlandschaft: Das Obergeschoss der Zentralbibliothek vom nördlichen Ende gesehen. (Foto: Tuomas Uusheimo)

Licht und leicht öffnet sich darüber das gläserne Obergeschoss: baumgroße Topfpflanzen stehen zwischen den etwa brusthohen Regalen dieser generösen Bücherhalle. Leicht steigt der Boden zu beiden Schmalseiten des langgezogenen Raums hinauf zu kleinen Hängen an: einer, mit Treppen und Sesseln für die Großen, der andere mit Teppich und Spielgeräten für die Kleinsten. Direkt daneben ein Kinderwagenparkplatz und Wickelräume, die nicht nur durch das Damen-WC erreichbar sind. Die raumhohen Fenster sind mit einem sich nach oben hin verdichtenden Verlauf weißer Punkte bedruckt, der die Glaswand und die wellig dahinwabernde weiße Decke optisch verbindet und nebenbei die Intensität der Sonneneinstrahlung reduziert. Ältere Damen sitzen an einem Tisch und lesen die ausliegenden Tageszeitungen, junge Menschen lümmeln in den Sesseln und schmökern vor sich hin, Kleinkinder tollen über Spielgeräte und blättern durch Bilderbücher. Und mittendrin eine Cafeteria, die verschiedene Tees und Kaffees, Gebäck und Salate, Getränke und Snacks anbietet. An diesem warmen Sommertag sitzen die meisten Gäste draußen auf der Terrasse mit Blick über den Park und direkt auf das finnische Parlament gegenüber.


Eindruck und Ausdruck


Es ist eine schöne Geste, dass dieses Gebäude nicht nur genau vis-a-vis der Volksvertretung steht, sondern „Oodi“, übersetzt also „Ode“, heißt. In der Tat ist es eine Ode an die Bewohnerinnen und Bewohner Finnlands, und ein Zeichen, was sich diese Gesellschaft selbst wert ist. Denn, das steht außer Frage: solch ein Gebäude ist teuer. Und doch ist der Eintritt frei, befinden sich die Preise in Restaurant und Cafeteria auf normalem Stadtniveau.

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Offenes Foyer im Erdgeschoss der Zentralbibliothek. (Foto: Tuomas Uusheimo)

Die Mischung im Innern überzeugt und auch das aufwendige Äußere erscheint in diesem Fall angemessen. Wo durch parametrisches Design erzeugte Entwürfe an anderer Stelle häufig nur die große Geste und damit allzu oft lediglich die Mehrung des Ansehens ihrer Bauherren im Sinn haben, schließt sich hier der Kreis zum Ansinnen historischer Bibliotheken. Hier setzt sich nicht ein Alleinherrscher oder ein Mäzen von egoistischer Großmannssucht ein Denkmal, sondern die Stadtgesellschaft selbst. So ist Oodi ein tatsächlich inklusives Haus, das Gesellschaft möglich macht und nebenbei den Begriff von Bibliothek erweitert und aktualisiert. Ein solches Haus darf seinen inneren Anspruch auch in den Stadtraum hinaus zum Ausdruck bringen.


Architektur: ALA Architects, Helsinki
Projektbeteiligte: Pöyry CM (Projektmanagement); Ramboll, Espoo (Tragwerksplanung); Finnmap Infra & Sipti Infra, Helsinki (Geoplanung); Projectus Team (HVAC), VIZarch (Visualisierung); Arup (Energietechnik, Tragwerks- und Fassadenplanung); Klaus Stolt (Modellbau); Gravicon (BIM-Koordination); Insinööritoimisto Markku Kauriala (Brandschutz); Insinööritoimisto Lausamo (Elektrotechnik)
Bauherrschaft:
Stadt Helsinki
Standort:
Töölönlahdenkatu 4, 00100 Helsinki, Finnland