Quellenforschung – im digitalen Google- und Wikipedia-Zeitalter allmählich eine Rarität – ist und bleibt Grundlage menschlichen Wissens. Mit einem opus magnum setzen Werner Oechslin, Tobias Büchi und Martin Pozsgai Maßstäbe in der Architekturtheorie als Wissenschaft, die auch von einem „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (Jürgen Habermas) nicht in den Schatten gestellt werden kann.
Im neuen „Baumeister“ (7/2019) beginnt Alexander Gutzmer seinen Beitrag über „Nichtort, Nichtort überall“ mit dem Hinweis, es sei ein „Sechser im Lotto, wenn es einem Wissenschaftler gelingt, einen Begriff zu prägen, der fortan der gesamten akademischen Community als Leitschnur für alle möglichen Analysen dient“. Damit tappt der Autor in die selbst gestellte Falle, denn im ganzen Heft wird nicht deutlich, warum die von ihm thematisierten, vermeintlichen „Nichtorte“ (Malls, Parkplätze usw., siehe Marc Augé) als solche – oder, wie der Autor auch mal schreibt – als „nonplaces“ mit „Nichtort-Antiarchitektur“ bezeichnet werden sollten. So lässt er den Leser wissen: „Was für mich Ort ist, mag für Sie Nichtort sein“. Die Leitschnur seiner Analysen?
Architekturtheorie, die mit Begriffsbildung durchaus zu tun hat, darf sich auch im digitalen Zeitalter nicht in derartigen Lottospiel-Versuchen erschöpfen, auch oder zumal sich die „Öffentlichkeit“ wieder mal tiefreichend ändert. Das zeigt ein materiell und inhaltlich groß angelegtes Buch, das just in der Bibliothek Werner Oechslin veröffentlicht wurde und das Ergebnis einer jahrzehntelangen Arbeit ist. Im Format zwischen DIN A4 und DIN A3, versehen mit fünf Lesebändchen und knapp vier Kilo schwer, nimmt man das Buch eher nicht „zur Hand“, sondern legt es auf einen großen Tisch.
„teutsche“ Theorie und Geschichtsschreibung
Der Titel ist sorgfältig gewählt, denn eine verortbare deutsche Theorie gibt es nicht, wohl aber einen „deutschsprachigen Kulturraum“, der im 15. und 16. Jahrhundert für die Genese architekturtheoretischer Publikationen überaus ertragreich ist. Das Prekäre, wenn „deutsch“ im Titel auftaucht, ist den Autoren bewusst und wird zwischen zwei Erkenntnissen gemeistert: „Natürlich gibt es sie, die besondere, deutsche Auseinandersetzung mit der Architektur, ihre besondere Bindung an die Mathematik und das alles betreffende, zugehörige Schrifttum“ (Seite 7). Jedoch: „Das kulturgeographische Problem ist durch die jüngere Geschichte in den Strudel politischer Wirren und ideologischer Vorstellungen geraten“ (Seite 140). Hinzuweisen ist hier zum Beispiel auf die herausragende Rolle des Elsass‘ im betreffenden Zeitabschnitt, 1486-1648.
Wo, wenn nicht in der Bibliothek Werner Oechslin, wo Quellen zu genau diesem Thema infolge jahrzehntelanger Sammelleidenschaft in Hülle und Fülle vorliegen, sollte dazu geforscht werden? Auch die Relevanz von Quellen – genauer gesagt: Büchern – wird im einleitenden Hauptbeitrag von Werner Oechslin entlang der jungen Kunstgeschichtsschreibung verdeutlicht, und Ansätze von Adolf Reinle, Julius von Schlosser oder auch Wölfflin werden en passant kritisch diskutiert. Digitalisierung? In einer „Zeit, in der die einschlägige Forschung, insbesondere auch diejenige, die sich das Mäntelchen ‚Theorie‘ umhängt, eher nach dem Prinzip des schnell aufgewärmten Durchlauferhitzers vonstatten“ gehe, sei die Forschergeduld hoch zu loben. Ja, das ist sie!
Buchdruck und Krieg, Sprache und Bild
1486-1648: Die zeitliche Eingrenzung orientiert sich an der Erfindung des Buchdrucks und dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs. Architektur betreffende Bücher erscheinen fast ein Jahrhundert nach dem Buchdruckbeginn, als Themen dominieren zunächst praktische Fragen des Festungsbaus. Thematisch entwickelt sich die wissensbasierte Theorie weiter an den Strukturen aristotelischen Denkens und den Spuren des Vitruvianismus in allen Facetten, was den Reichtum literarischer Überlieferung ausmacht. Es geht allerdings nicht nur um Sprache – man muss feststellen, dass „eine Grosszahl der sogenannten architekturtheoretischen Bücher Bilderbücher sind“ (Seite 23), was aus ihrer Praxisbezogenheit resultiert.
„Was das Nachdenken über Architektur betrifft“
Werner Oechslin ist im Grundsatz mit dem 1993 verstorbenen Hanno Walter Kruft, der 1985 eine herausgende Geschichte der Architekturtheorie vorlegte (1), darin einig, „dass eine abstrakte, normative Definition von Architekturtheorie unpraktikabel und historisch nicht vertretbar ist“. Das wird in diesem üppig illustrierten Buch überdeutlich, wobei in der Theorie die scheinbare Unvereinbarkeit der Bewältigung der Fülle mit der Tiefe des Wissens immer eine Rolle spielt – Oechslin resümiert hier Vitruvs Kritik an Pytheus.
Begreife man, Aristoteles folgend, das Bauen als „mit Vernunft verbundenen Habitus des Hervorbringens“, so Werner Oechslin, bilde dies den Traditionssockel der Architekturtheorie. Architektur rufe nach beidem: den „Prinzipien möglicher Erfahrung“ genauso wie nach der „Anlockung zu einem transzendentalen Gebrauch“ (Seite 26). Die Entwicklung der Disziplin beschere im Verhältnis von Praxis und Theorie leider einen Gegensatz statt etwas Komplementäres. Es seien auch – etwa in der Moderne – der Hang zur Allgemeingültigkeit und Gesetzmäßigkeit oder – etwa bei den Kunsthistorikern Wölfflin und Wundt – Normativität und Doktrinäres zu beklagen. Im besten Sinne ließen sich darin Annäherungen an die Praxis ausmachen. Nun komme es aber einer „Überhöhung des Praxis gleich, wenn der göttliche Schöpfungsakt Beispiel für menschliche Schaffenskraft“ werde.
Out of history
Das „Nachdenken über Architektur“ wird dann weiter mit dem Gegenstand der Architekturtheorie, der Mathematik als ihrem (wissenschaftlichen) Kern, mit den Bildwelten als „italienischer Invasion“ und schließlich dem angesprochenen Aspekt des „Teutschen“ erläutert.
Bemerkenswert ist hier die Rolle, die der „Prudenza“ als „Klugheit, die das Wollen lenken und zur Sinnstiftung des Tuns führen“ soll, wiederum in aristotelischer Tradition beigemessen wird. Zudem weist Oechslin auf Peter Eisenman, der „die Differenz von Theorie und Geschichte als unüberbrückbar annehmen mochte. Without theory, history becomes the dominant discipline.“ (2) Auch hier leuchtet ein Gegensatz auf, der keiner sein muss. Im Kontext der Architektur hält der Autor von Ästhetisierung und Autonomie nichts, schreibt diese einem „modernen Versagen“ zu. Und betont immer wieder das segensreiche Zusammenwirken von Theorie und Praxis.
Dieses offenbart sich in dem opulenten Katalog nur zu gut. Mit 442 Nummern wird eine eindrucksvolle Buch-Vielfalt gezeigt und erläutert, die im besten Sinne Geschichte vergegenwärtigt und das „Nachdenken über Architektur“ als ernsthafte Auseinandersetzung auch in der Gegenwart einfordert.
Öffentlichkeit
Zum „Nichtort“ zurück. Alexander Gutzmer thematisiert bei der Erfahrung, wenn er an einen „Mega-Hotspot“ kommt: „Die Realität entspricht dem Bild nicht“ und werde zum „tragischen Gegenstück ihrer eigenen ursprünglichen Place-Haftigkeit“. Seine Präzisierung, der „ultimative Nonplace … wäre … jener Ort, der am häufigsten medial reflekiert und vervielfältigt wurde“ entbehrt jener Logik, die zwischen Geplantem, Gesehenem und Abgebildetem bekannt ist. So erinnert man hier gern an die Quellen zum Thema „Architektur und Bild und Sprache“ und zu „virtuellen Realitäten“, die inzwischen ganze Regale in gut sortierten Bibliotheken füllen.
Um sich mit dem „Nachdenken über Architektur“ zu befassen, braucht man Zeit. Die Online-Medien beschleunigen die Tendenz, im Sinne des „Sechsers im Lotto“ für Wissenschaftler – gleich welcher Disziplin – in kurzen Abständen und mit Sprachkonstrukten abenteuerlicher Art in die Öffentlichkeit zu wagen oder zu drängen. Man muss diesem Prinzip nicht folgen – auch wenn dieser Strukturwandel der Öffentlichkeit nicht rückgängig zu machen ist.
(1) Hanno Walter Kruft: Geschichte der Architekturtheorie. Von der Antike bis zur Gegenwart. München 1985
(2) Peter Eisenman: Die formale Grundlegung der modernen Architektur. Mit einem einführenden Text von Werner Oechslin. Zürich, Berlin 2008