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Nachdenken, Tradieren, Erkennen

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Jörg H. Gleiter lehrt Architekturtheorie an der TU Berlin und legte jetzt den ersten von drei Bänden zur jüngeren Genese architekturtheoretischer Entwicklungen vor. Als Dozent will er unter anderem dem Missverständnis entgegenwirken, „dass die Theorie getrennt von der Architektur sei und nach ihr komme“.

Traditionelle Architektur. Architekturtheorie 1863 bis 1938. Format 21 x 23 cm, 232 Seiten, 70 Abbildungen, ISBN 978-3-86922-592-0, 28 Euro.
> Dom Publishers, Berlin 2019

Oberstes Ziel sei es, so der Autor in seiner Einleitung, „die Voreingenommenheit gegenüber der Theorie zu zerstreuen und zu zeigen, dass Theoriebildung Voraussetzung und Auslöser ist für die kreativen Prozesse, dass jeder Entwurf per se ein Theoriebildungsprozess ist“ (Seite 16). Tatsächlich wirkt Jörg Gleiters Erläuterung, Theoriebildung in die Kompetenz von Architekten – und nur von ihnen – einzureihen, wie eine Art Rechtfertigung dafür, dass das Fach ein wichtige Rolle im Curriculum der Architektenausbildung spielen muss. Ziel der Theorie sei die Praxis, „für die sie leitend ist und in die sie verändernd eingreift“. Darin lässt sich einerseits eine Überforderung der Theorie sehen, weil man in ihr auch Beiträge zur praxisfernen Grundlagenforschung entdecken kann und akzeptieren sollte. Andererseits unterfordert der Praxisbezug die Theorie, weil er ihr eben gedankliche Fesseln angelegt.
So ließe sich also bedauern, dass in diesem Band 1 einer neuen Reihe, der die Phase 1863 bis 1938 umfasst, beispielsweise weder August Schmarsow (Kunsthistoriker), noch Leo Adler (immerhin auch Architekt) oder Si(e)gfried Giedion (Architekturhistoriker) per se auftauchen. Doch das Verdienst der Reihe wird ein anderes sein – beziehungsweise werden.


Doppelseite aus dem besprochenen Buch (Bild: Verlag Dom Publishers)

Doppelseite aus dem besprochenen Buch (Bild: Verlag Dom Publishers)

Traktat, Lehrbuch, Theorie

Zunächst kann man dem Autor nur dankbar dafür sein, dass er eingedenk der inzwischen zahlreichen Kompendien und Anthologien zur Architekturtheorie nicht wieder bei Vitruv anfängt. Vielmehr beginnt er mit einer Schärfung, sogar mit einer Eingrenzung der „Architekturtheorie“ in einer Parallele zur Theorie der Moderne erst mit Beiträgen ab der Mitte des 19. Jahrhunderts. Wie erwähnt, ist das just erschienene Buch der erste von drei Bänden, in denen Architekturtheorie bis in die Gegenwart verfolgt wird. Band 2 thematisiert „Kritische Theorie der Architektur. 1940 bis 1990“ und Band 3 „Kritische Erkenntnistheorie der Architektur 1992 bis heute“. Hinter dieser chronologischen Konzeption manifestiert sich, dass das Nachdenken über Architektur und Tradieren in vormodernen Zeiten kaum mehr als „Theorie“ im engeren Sinne bezeichnet werden kann, weil davor aus heutiger Sicht Traktat- und Lehrbuchcharakter dominieren.

Als Kriterium für die im Band 1 getroffene Auswahl von neun Architektenpositionen ist benannt, dass diese „wie Pfähle im weiten Feld der Theorie“ stehen, um die sich „wie in der bei Nebel im Nichts verlierenden Lagune Venedigs, theoretische Kräftefelder in konzentrischen Ringen aus(breiten), die sich, nicht ganz geräuschlos, gegenseitig durchdringen, sich dabei in vielfältigen Interferenzen zum Teil neutralisieren, zum Teil verstärken, immer aber mit dem Potenzial zur Entstehung von neuen Mustern und neuen theoretischen Kraftfeldern“. Dieses Sprachbild mutet zwar fast esoterisch an, doch ist die anschließende thematische Sortierung von Gottfried Semper bis Ludwig Mies van der Rohe durchaus plausibel.

Gegenstand, Methoden, Reflexionsformen

Jörg Gleiter stellt mit guten Gründen sein Verständnis von Architekturtheorie an den Anfang. Als „Methode des Denkens“ unterscheidet er die analytisch-systematische und die synthetische-kreative Seite der Architekturtheorie, setzt aber merkwürdigerweise eine „Tätigkeit der Architekturtheorie“ voraus. Eine Theorie „tut“ aber nichts, sondern es sind Architekten, Historiker, Philosophen und wer weiß wer, die sich als Architekturtheoretiker auf vielfältige Weise betätigen und Einfluss nehmen.
Architektur als kulturelle Praxis (1), Architekturtheorie als kritische Reflexion über „Konzipiert-, Gemacht- und Wirksamwerden“ von Architektur (2) und Architekturkritik, Architekturtheorie im engeren Sinne (siehe oben) und Architekturphilosophie  als Reflexionformen (3) strukturieren die Herangehensweise des Autors an sein Thema.

Inhaltsübersicht (Bild: Dom Publishers)

Inhaltsübersicht (Bild: Dom Publishers)

Neun Architekten, neun Positionen

In neun Kapiteln, die kurzweiligen Vorlesungscharakter aufweisen, werden die architekturtheoretischen Positionen, ihre Relevanz für die Praxis und ihre Wirkungsgeschichte dargestellt. Kurze Zitate vermitteln auch im Sprachduktus u. a. etwas vom Selbstverständnis und von der Überzeugungskraft jeweiliger Architekten – im Ganzen fügen sich die Abschnitte durchaus zu einer Art „Geschichte“, die aber zu recht in ihrer thematischen Breite keine lineare oder gar kausale Entwicklung nachzeichnet und zwangsläufig Lücken aufweist.


Wer an Architekturtheorie und -geschichte interessiert ist, wird die Publikationen mit Gewinn zur Hand nehmen. Und neugierig darf man sein, wie weit in den folgenden Bänden die Kontexte der Architekturtheorie – etwa in Richtung Ökonomie und Politik – gefasst werden.

Es erscheint in Kürze übrigens eine Publikation, die in die Architekturtheorie-Geschichte zurückreicht. Werner Oechslin, Tobias Büchi und Martin Pozsgai legen eine „Architekturtheorie im deutschsprachigen Kulturraum 1486 – 1648“ vor. Angekündigt ist ein „Nachschlagewerk (als) eine systematische Erfassung der zwischen 1486 und 1648 veröffentlichten architekturtheoretischen Werke von mehr als sechzig Autoren“. Rezension folgt.