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Schattensoziologie

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Klimawandel, der sich unter anderem in heißen Sommern mit Temperaturen um 40 Grad aufdringlich bemerkbar macht, erfordert eine Neubewertung öffentlicher Güter, die zuletzt privatisiert wurden – wie zum Beispiel Wasser. Sam Bloch, ein Architekturkritiker aus Los Angeles, einer Gegend, die ewigen Sonnenschein zur Markenzeichen erhoben hat, wartete mit einer so überraschenden wie einleuchtenden Variante auf: der ungleichen Verteilung von Schatten.

Schattenspender in Sevilla (Bild: Wilfried Dechau)

Schatten ist die Fläche, die von einer Lichtquelle nicht beleuchtet wird und gesucht wird, wo Mensch und Tier vor Sonneneinstrahlung geschützt sind. Wo kein Baum und kein Strauch ist, keine Jalousie oder Markise, weder Hauswinkel noch überstehendes Dach, wird speziell um die Mittagszeit fehlender Sonnenschutz zum Problem, auch für die Gesundheit. Nun geht gerade das heißeste Jahrzehnt der neueren Geschichte zu Ende, und eine neue Rekorddekade steht wohl bevor. Hitzewellen der letzten Zeit haben eindrücklich demonstriert, dass „einen Schatten haben“ keine lästerliche Formel ist, sondern nicht weniger als ein Menschenrecht.

Bewährte Typologie des öffentlichen Raums: Arkaden in Wachenheim (Bild: Wilfried Dechau)

Bewährte Typologie des öffentlichen Raums: Arkaden in Wachenheim (Bild: Wilfried Dechau)

Schatten in der Stadt

Indes: „Schatten wird oft als Luxusgut verstanden, das Innenhöfen und baumgesäumten Boulevards Ruhe verleiht, architektonische Schmuckkästchen und Glaswürfel abkühlt und verdeckt. Da jedoch tödliche Hitzewellen von 40 Grad und mehr an der Tagesordnung sind, müssen wir lernen, Schatten als eine von allen Bürgern gemeinsam genutzte Ressource zu betrachten. Nur im Schatten kommen überhitzte Körper wieder ins Gleichgewicht, die Durchblutung verbessert sich, die Leute denken klar, sie sehen besser. In physiologischer Hinsicht sind sie dann wieder sie selbst. Für Menschen, die anfällig für Hitzestress und Erschöpfung sind – Arbeiter im Freien, ältere Menschen, Obdachlose – kann dies den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen. Schatten ist somit ein Index der Ungleichheit, eine Anforderung an die öffentliche Gesundheit und ein Mandat für Stadtplaner und Designer.“
Die kritische Revision der Baugewohnheiten der letzten Jahrzehnte erbrachte, dass nicht nur Südkalifornien von einer wahren Sonnenobsession befallen war. Licht sollte in den letzten Winkel fallen, Dunkel wurde mit Kriminalität, Devianz und Intransparenz assoziiert. In Los Angeles, der in die Wüste gesetzten Megacity aus Flachbauten, die der zeitweilige Bewohner Bertolt Brecht als „Tahiti im Großstadtformat“ bespöttelte, sind Hochhäuser verpönt, weil sie lichtdurchflutete Veranden, Swimming Pools und Ziergärten überschatten. Und wo Hochhäuser entstanden wie in Downtown LA, heizen ihre Materialien und Machart das Klima noch weiter auf, dort erst recht sind beschattete öffentliche Plätze Mangelware. Und weil man in Kalifornien normalerweise Auto fährt, sind Bürgersteige so schmal, dass oftmals für überdachte Bushaltestellen kein Platz bleibt.

Noble Spaziergänge ums Landhaus: GroßschwaNSEE (BILD: WILFRIED DECHAU)

Noble Spaziergänge ums Landhaus: Allee zu Schloss Groß Schwansee (Bild: Wilfried Dechau)

Genau daran wird der Ungleichheitsfaktor evident: Während in den besseren Vierteln Bel Air und Beverly Hills die Häuser von (aufwändig zu bewässernden) Bäumen und Sträuchern beschattet werden und deren Bewohner in gutgekühlten Limousinen und SUVs unterwegs sind, stehen weniger begüterten Angelinos (Nutzer und Fahrer von Autobussen, Bewohner von Schlichtbauten und die zahllosen Obdachlosen) soziologisch – weil meteorologisch in der prallen Sonne – im Schatten. Das ist kein auf LA und Amerika begrenztes Problem: Schattengrenzen verlaufen allerorts quer durch Städte und Landschaften, entlang der ungleichen Verteilung von Einkommen und Bildung. Sie markieren sogar historische und aktuelle Rassengrenzen. Der rechtwinklige Bungalowstil der weißen Angelinos setzte sich historisch gegen die „lichtscheue“ Adobe-und Rancho-Architektur der indianischen und spanischen Ureinwohner durch, die in Häusern und an arkadengesäumten Hauptstraßen für erholsamen Lichtentzug gesorgt hatte. Bauen in Südkalifornien war jahrzehntelange Realitätsverweigerung, deren Folgen vor allem Latinos und Afro-Amerikaner tragen müssen.

90.000 Bäume

Wegweisend waren solche Einsichten, die Architekten bei Einzelobjekten ja sehr wohl geläufig sind, indem Medien wie die Los Angeles Times die Hell-Dunkel-Ungleichheit ins öffentliche Bewusstsein rückten und Stadtplaner unter dem neuen Bürgermeister Eric Garcetti Konsequenzen gezogen haben. So wurde beispielsweise die Forstwissenschaftlerin Rachel Malarich zur „Baumzarin“ ernannt – so tituliert man in den USA wichtige Verwaltungsposten, hier die Leitung der Forstbehörde. 90.000 Bäume sollen in den nächsten Jahren in LA gepflanzt werden. Das ist ein ambitiöses Vorhaben, aber nicht völlig unrealistisch, weil die Stadt in den letzten Jahren massiv in ökologische Nachhaltigkeit investiert hat und den Green New Deal auf lokaler (wie Kalifornien auf regionaler) Ebene vorantreibt, den die bundesstaatliche Administration so vehement ablehnt und bekämpft. Darunter fällt vor allem die Reduzierung der individuellen Automobilität, die von Personen mit höheren Einkommen so lange vorgezogen wird, wie sie etwa an Bushaltstellen in brütender Hitze ausharren müssten.

Nur fürs Selfie ein Sprung aus dem Schatten: Sommer in Venedig (Bild: Wilfried Dechau)

Nur fürs Selfie ein Sprung aus dem Schatten: Sommer in Venedig (Bild: Wilfried Dechau)

Neues Bauen

Zum Wiederaufforstungsprogramm gehört aber nicht allein die schattenspendende Ausstattung der Haltestellen, es stünde ein radikaler Paradigmenwechsel der kalifornischen Architektur an, deren Stil in den vergangenen Perioden oft vorbildlich war. Sie war vollständig auf das Automobil fokussiert und damit auf einen maximalen Ressourcenverbrauch. Zum anderen durchkreuzt die fiebrige Entwicklung des Immobilienmarktes viele gutgemeinte Initiativen der Klimapolitik, was sich nur durch eine konsequente und nachhaltige Stadtentwicklung korrigieren ließe. Wie hieß es so bitter bei Brecht: Die im Schatten sieht man nicht.


Shade