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Nachhaltigkeit ist nicht länger nur ein Begriff für Bauphysiker und Haustechniker. Jetzt legt auch die Architekturtheorie ihre Hand darauf. Die Architektenkammer Baden-Württemberg hatte im Oktober bei ihrem Hohenheimer Gespräch eine Verbindung zur Ästhetik gesucht, unabhängig davon widmete sich das BDA-Periodikum „Die Architekt“ (über dessen neue Titelei wir nicht wieder spotten wollen) mit Utopie und Apokalypse – Zur Ästhetik der Nachhaltigkeit – dem Thema.

Hieronymus Bosch, Garten der Lüste, Museo del Prado Madrid, 1495 – 1505 (Foto: Wikimedia Commons, Die Architekt)

Seit Jahren gehört Jörg H. Gleiter zu den BDA-Autoren, wenn etwas tiefer gebohrt werden soll. Dann werden neben dem profanen Herstellen von umbautem Raum theoretisches Wissen und emotionale Erfahrung als Konstitution der Architektur gesucht. In Heft 4/2024 hat der an der TU Berlin Architekturtheorie lehrende Jörg Gleiter „Sieben Thesen zur Ästhetik der Nachhaltigkeit“vorgestellt.1) Es ist keine leichte Kost, man muss sich damit beschäftigen, drum kommt dieser Hinweis etwas verspätet.

Theorie als Kulturtechnik

Zunächst: Wenn Architekturtheorie literarisch erzählend und mit einer gewissen Ironie die Absurdität des menschlichen Raumschöpfens und Hausens analysiert, findet man sich gut darin zurecht. Meistens sind die Ausführungen aber strapaziös, und man staunt, dass sich die Inhaber umtriebiger Architekturbüros um diesen Überbau zu ihrem planmäßigen Handeln und logisch-konstruktiven Planen scheren (oder als BDA-Mitglieder entsprechende Fachartikel lesen möchten). Die Kulturtechnik „Theorie“ berührt viele Disziplinen, Perioden und Prinzipien, aber es bleibt jeweils den Autoren überlassen, wo sie sich bei ihrem Herumgedenke bedienen.
Gleiter nennt den Gegenstand seiner Ausführungen „das architektonische Projekt“, soll heißen, dass die Menschen damit große Erwartungen verknüpfen: Die Spanne reicht vom Häuslebauer, der sich mit seiner neuen Immobilie ein besseres Leben verspricht, bis zu den in der Baugeschichte immer wieder auftauchenden (nicht baubaren) Utopien – ein gewaltiger Sprung der Interessen. Doch diese mit der Architektur verbundenen Lebensentwürfe würden inzwischen von dystopischen Szenarien voll Krisen, Krieg und Krankheit verdrängt. Und deshalb sei es Aufgabe des architektonischen Projekts, so eine Zukunft zu verhindern oder wenigstens zu verzögern.

Was aber ist die Zeit?

Der Kernsatz, den die Redaktion auch für den Vorspann von Gleiters Essays verwendet hat, heißt: „Wir befinden uns in einer Phase des Übergangs von der fortschreitenden, offenen Zeit der Moderne zu einer Neukonzeption der Zeit, wo der Sachwiderstand der zukünftigen Gegenwart die Parameter für die aktuelle Gestaltung der Zukunft bestimmt.“ Zugegeben: Bei solchen Zick-zack-Sätzen verliert man ohne Navi leicht die Orientierung. Nicht die siderische Zeit, die den Kalender bestimmt, ist gemeint, sondern das ereignete Zeitgeschehen (Sachwiderstand), in das wir aktiv und passiv involviert sind. Uns also mehr oder weniger selbst eingebrockt haben. Zeitenwende ringsum.
Daraus den Schluss zu ziehen, dass das architektonische Projekt uns aus dem Dilemma helfen könnte, macht neugierig. Gleiter plädiert, Nachhaltigkeit nicht als spartanischen Kampfbegriff für Einschränkung, Verkleinerung und Verzicht zur Minimierung unseres ökologischen Fußabdrucks auszugeben, sondern als Heilsbotschaft für ein „Mehr“, um den Überschuss an Energie als Prinzip des Lebens zu begreifen und produktiv umzulenken. Nachhaltigkeit hat also weniger mit dem Fasten in der vorösterlichen Zeit als mit der Bescherung an Weihnachten zu tun. Das lesen wir gerne, aber wir fragen uns, welche Energie der Autor meint und wofür sie kommen soll. Woher rührt diese Redundanz an Leistungsreserven, die das Leben prinzipiell für uns bereithält, und wer weiß, was wir damit anfangen sollen? Man ist nahe daran, die optimistischen Aussichten des Autors mit den dämlichen Einlassungen des künftigen US-Präsidenten zu verbinden. Handelt es sich bei den „regressiven orthodoxen Spar-, Reduktions-, Einschränkungs- und Selbstkasteiungsideologien“ um Verschwörungstheorien des deep state?

Walten und Gestalten

Als Pendant erkennt Gleiter einen „Überschuss an Form“, das heißt, wir haben unendliche kreative Möglichkeiten, um unser Überleben zu gestalten, weil sich Materie zu unseren Gunsten verändern lässt, was man als „Imperativ zur Nachhaltigkeit“ verstehen soll. Allerdings liegt es nahe, sich auch genau das Gegenteil vorzustellen, wenn uns Konventionen von der freien Gestaltung abhalten und niemand die Regeln für die Formgebung kontrolliert. Erläuternde Beispiele wären bei so einer philosophischen Luftnummer zwingend nötig gewesen, damit wir nicht bei der Esoterik von Rudolf Steiner anlangen.

Schließlich hilft uns der Autor unerwartet mit ein paar bekannten Begriffen auf die Sprünge. Weiter- und Umbau sollen die Architektur vom Druck befreien, ständig etwas Neues erfinden zu müssen. Permanenz sei ihre wahre Bestimmung, was durch das Diktat der Moderne vergessen worden sei. Das leuchtet uns sofort ein, und wir fragen uns, wozu die vorangegangenen Klimmzüge zum Überschuss an Energie und Form unter den Auspizien der Apokalypse gedient haben. „Nachhaltigkeit heißt dann so viel wie Transformation der Architektur durch Aufnahme der Widersprüche in ihren Gehalt und nicht durch deren Eliminierung“. Die zeitgenössische Architektur als technisches Artefakt bietet erkennbare ökologische Handlungsmöglichkeiten zu ihrer Wirkung und Nutzung. Gar von „Großzügigkeit“ ist die Rede.

Energetisches

Also alles roger? Hilft es, wie Gleiters Beitrag endet, auf den „kreativen Umgang mit dem Überschuss an Energie, ohne den es kein Leben geben kann“, zu vertrauen? Ich habe, trotz heißem Bemühen, wenig verstanden. Was hat das alles mit unserem Handeln zu tun? Was sind das für blutarme Merksätze und Empfehlungen? Es wäre schön, die Redaktion würde sich als Mittler zu den Lesern und Leserinnen verstehen und die Verfasser bitten, ihre hochprozentigen Texte auf Trinkstärke herabzusetzen. Es ist sonst nicht auszuschließen, dass man das Defizit nicht bei sich, sondern beim Autor sucht: Wir sind doch nicht blöd!


1) https://www.static.tu.berlin/fileadmin/www/10002396/Gleiter.7Thesen.Nachhaltigkeit_4.2024.Die_Architekt.pdf