Nichts geht mehr. Jeder blockiert jeden. Und irgendwie setzt sich die Erkenntnis durch, dass das „Systemschiff“ Demokratie beziehungsweise Staatsorganisation in Schieflage geraten ist – aus vielerlei Gründen. Die politischen Parteien geben dabei ein erbärmliches Bild ab und spiegeln damit doch nur den Zustand unserer Gesellschaft, die mit sich selbst nichts mehr anzufangen weiß. Die Wertverschiebungen lassen sich längst in der gebauten Umwelt erkennen. So sei ein Blick auf das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft geworfen, wie es sich im Gebauten erkennen lässt – und in Mannheim nagelneu zu besichtigen ist.
Eine Einleitung
Um viel von der Republik zu sehen, fahre ich viel mit dem Zug und dort, wenn irgend möglich, in den „Ruhebereichen“. So auch kürzlich, wo nun aber ein laut diskutierendes Paar neben mir saß. Das Paar wies ich darauf hin, dass es hier eine Ruhezone sei. Die Empörten antworteten, die Plätze hätten sie halt reserviert, wenn ich’s ruhig haben wolle, solle ich mir einen anderen Platz suchen. Ich argumentierte, wenn sie Plätze im falschen Zugbereich reserviert hätten, sollten sie doch bitte ruhig sein oder sich einen Platz woanders suchen. Das komme nicht infrage. Eine so unverschämte Ignoranz des Individuums (Plaudertasche) gegenüber den gemeinschaftsorientierten Belangen (Ruhebereichen) erlebt man zum Glück selten – und doch: Sie ist symptomatisch.
Symptomatisch ist eben auch, wie die Lindner-FDP den „Liberalismus“ nur noch als bloße Stärkung individualistischer Interessen, bevorzugt der Wohlhabenden, ruiniert hat. Symptomatisch lässt sich auch feststellen, dass die Politik sich immer weniger um langfristige, überindividuelle Perspektiven bemüht, sondern den zerfleddernden Individualinteressen der WählerInnen hinterherhinkt. Soziologen schlagen Alarm, den kaum jemand hört.
Wie wohnen?
Wird ja stets in Erfahrung gebracht und von Studierenden jeder Generation mit einfallsreichen Vorschlägen beantwortet. Umfragen offenbaren nun den Willen der „Menschen im Land“ unter Gesichtspunkten, die höchst prekär gewählt sind. Wie „die Menschen“ am liebsten wohnen möchten, wird immer und immer wieder gefragt. Konkret wurde 2021 (Corona) zum Beispiel vom Verband der Privaten Bausparkassen e.V. gefragt: „Die überwältigende Mehrheit (87 Prozent) will mit 30 Jahren im Eigenheim (Haus: 74 Prozent oder Wohnung: 14 Prozent) leben. Nur knapp jeder Zehnte (9 Prozent) will zur Miete wohnen. Befragte in kleineren Städten und Gemeinden streben mit 81 Prozent noch häufiger als die Bewohner in mittelgroßen Städten (72 Prozent) oder in Großstädten (64 Prozent) ein eigenes Haus an.“1) Im Jahr 2023 zitierte die ING-DiBa AG unter dem Titel „So wohnt Deutschland“ eine „Wohntraumstudie“ von Interhyp: „Die Wohntraumstudie von Interhyp zeigt eindeutig: Die meisten Deutschen wünschen sich eine eigene Immobilie. So gaben 68% der befragten Personen an, einmal in den eigenen vier Wänden leben zu wollen. Das freistehende Einfamilienhaus belegt dabei mit 64% Platz eins der beliebtesten Hausformen.’Für viele Menschen bedeutet das freistehende Einfamilienhaus schlichtweg Freiheit‘, bestätigt Mirjam Mohr, Vorständin für das Privatkundengeschäft der Interhyp. ‚Die Freiheit, auf dem eigenen Grundstück seine eigenen Träume zu verwirklichen. Gleichzeitig ist das Einfamilienhaus ein Rückzugsort für Familien und Paare, es bietet Privatsphäre‘.“2) Und um weniger privatwirtschaftlich initiierte Umfragen zu benennen, sei auf eine Spiegel-Umfrage von 2023 verwiesen, in der junge Erwachsene gefragt wurden, wie sie wohnen wollen. „Wer jung ist, träumt davon, in einer Großstadt-WG zu leben? Stimmt nicht unbedingt. Eine Umfrage im Auftrag des Spiegel zeigt: Geht es um die ideale Wohnsituation, sind junge Erwachsene erstaunlich konservativ“.3)
So ist es mit Umfragen: Die Frage „Wie hätten Sie’s denn gern“ wird so abgewandelt, dass ein passendes Antwortspektrum aufscheint. Und unangenehme Fragen derart, dass eine Reihe von gemeinschaftsorientierten Pflichten auftauchen, werden lieber nicht gestellt.
Mein Haus, mein Auto, meine Familie
Symbolisierte das Einfamilienhaus in den Wirtschaftswunderjahren „Wohlstand“, steht es heute für die „Freiheit“ à la FDP. Rund 16 Millionen Einfamilienhäuser gibt es in Deutschland, Tendenz: steigend. Entwicklungsszenarien von Städten, Regionen und staatlichen Förderinstitutionen eilen solchen Wählervorlieben immer noch hinterher oder sogar voraus. Dabei bleibt in Architektenfachkreisen seit Jahren kaum etwas unversucht, diesem ökologisch unsinnigen Raubbau an unversiegelten Flächen und demographisch überaus fragwürdigen Wohnweisen etwas Vernünftiges entgegenzusetzen.4) Wir berichten und kommentieren unentwegt, siehe die Beiträge in der Seitenspalte. Aber dass derzeit in Deutschland immer noch täglich etwa 76 Fußballfelder neu als Siedlungs- und Verkehrsfläche versiegelt werden, ficht weite Teile der Gesellschaft nicht an. Es wird in der Politik zwar als Problem erkannt, allerdings sehr unterschiedlich bewertet. Das muss uns eingedenk der anstehenden Bundestagswahlen richtungsweisend beschäftigen.
Wachstum – der wirtschaftsystemische Irrsinn
Die angesprochene, täglich horrend wachsende, versiegelte Fläche entspricht den Wachstumsprinzipien unseres Wirtschaftssystems. Hehre Cradle-to-cradle-Strategien sind vernünftig, aber ändern systemisch leider gar nichts. Denn meines Wissens wird an keiner Wirtschaftsfakultät in Deutschland wissenschaftlich am Wachstumsprinzip unserer Wirtschaft ernsthaft gerüttelt. So wird in der Konsequenz immer mehr und auch völlig unsinniges Zeug produziert, das niemand braucht.
Was in Architektinnenkreisen im Hinblick auf Bestandswert, Recycling und dergleichen durchdacht und initiiert wird, ist gut und richtig und großteils auch schön. Aber von mir persönlich mal salopp auf 90 Prozent des neu Gebauten geschätzt, wird nach uralten Wachstumsprinzipien in der Bauwirtschaft und von der Bauwirtschaft gesteuert in der Politik vorangetrieben. Diese wirtschaftssystemische Unumstößlichkeit frustriert alle, die die Zeichen der Zeit erkennen (auch in der Wirtschaft). Zum Beispiel jene, die sich in IBAs wie der „Schrumpf-IBA“ 2002 in Sachsen-Anhalt Gehör verschafften, aber im Machtgefüge der Republik auf verlorenem Posten standen und stehen.
Anteilnahmen
Die derzeit in vieler Hinsicht als Allheilmittel propagierte BürgerInnenbeteiligung ist viel zu oft unzureichend und falsch organisiert. Denn diese Beteiligung ändert wirtschaftssystematisch so gut wie nichts, sondern vermittelt diffuse Mitsprachegefühle. Wenn eine vernünftig und über Wahlperioden hinaus denkende Kommune beispielsweise eine konsequente Mobilitätswende plant, pfeift ihr der Wind der beteiligten BürgerInnen ins Gesicht. Wenn eine Kommune keine neuen Einfamilienhausgebiete mehr anbieten will, steht sie im immobilienwirtschaftlichen Abseits. Und wird von keinen staatlichen Förderinstrumentarien profitieren können, die immer noch auf Wachstumskurs laufen.
Das Mannheimer Beispiel
Was nun in Mannheim zu besichtigen ist, findet bundesweit seinesgleichen nicht. Hier seien beispielhaft nur der so genannte Franklin-Stadtteil und dessen Teilgebiet Funari angesprochen. Es geht hier nicht um die Neuausweisung von Wohnquartieren, sondern um Konversionsgebiete der aufgegebenen US-Army-Kasernen, zu denen 2013 bereits das dänische Büro Vandkunsten den städtebaulichen Wettbewerb gewonnen hatte. In diesen Gebieten, um noch konkreter zu werden, bauen Projektentwickler unter anderem mit MVRDV, Sauerbruch Hutton Architekten und vielen anderen. Im Bestand und neu. In extrem unterschiedlichen Auffassungen zum Wohnen. Das alles auf engstem Raum nebeneinander.
MVRDV karikiert das Wohnen an sich: mit einem „Orbit“ genannten Riesenwohnhaus, in dem rund 130 Wohnungen entstanden sind. Wohnen im Orbit und seinen dazu gebauten, niedrigen Satellitengebäuden wirkt wie das Wohnen auf einem um 90 Grad gedrehten Präsentierteller, auf dem das Private des Wohnens sekundär zu sein scheint. Das „O“-Haus sollte ursprünglich von einem „H“- und einem „M“- und einem „E“-Haus ergänzt werden, was als Silhouette ein „HOME“ zu lesen gegeben hätte. Nun also O. Das Haus ist als Idee für gemeinschaftliches Wohnen schwer zu begreifen. Mit Wohnungsgrößen zwischen 45 und 145 Quadratmetern ist zwar eine heterogene Mieterschaft zu erwarten – sie allein schafft noch nichts Gemeinschaftliches. 2025 soll das Gebäude vollständig fertig sein, die Vermarktung läuft.
Und was sagen die Architekten? Architektin Christine Sohar von MVRDV dazu: „Das O ist etwas Besonderes, weil man hier mit der Öffnung im Gebäude eine einladende Fläche schaffen konnte, die mit dem Freiraum drum herum, aber auch mit dem Hügel in Kommunikation tritt. So entstand auch die Idee der großen Freitreppe, die eine tolle Verbindung zwischen dem Hügel und dem Orbit darstellt – mit dem mittigen Raum, den wir gerne als urbanes Wohnzimmer bezeichnen. Wichtig war uns im Orbit außerdem, dass jede Wohnung mindestens einen Balkon hat, also einen privaten Außenbereich.“5) Was hier sprachlich – und leider im Denken – missraten ist, könnte in einem separaten Beitrag erörtert werden; aber das lasse ich lieber. Als ich dort war, zog es wie Zunder, und über die „Privatheit“ der hier angebrachten Balkone ließe sich wohl auch streiten.
Mit dem Schwerpunkt auf gemeinschaftliches Wohnen entstand wenige Meter vom Orbit entfernt ein Wohnquartier in Holzbauweise. Sauerbruch Hutton Architekten realisierten hier eine vierteilige Hof-Randbebauung als Holzrahmenkonstruktionen mit Holz-Beton-Verbunddecken. Gebaut wurden unterschiedliche Wohnungstypen und als solche geplante und gestaltete Gemeinschaftsräume innen und außen. Das Thema der Laubengang-Erschließung mit außenliegenden Treppen ist hier variiert und für Sauerbruch Huttons Verhältnisse dezent coloriert. Im Detail sehr sorgfältig ausgearbeitet, herrscht hier gestalterische Disziplin. Das Zusammenwohnen fordert allerdings auch Disziplin und Rücksichtnahmen, wenn es konfliktfrei in den öffentlichen, halböffentlichen und halbprivaten Zonen funktionieren soll. (>>> Hier gibt es auch Pläne zu sehen.))
Nicht weniger Rücksicht ist in dem Teilgebiet eingefordert, in dem MVRDV das Einfamilienhaus wie in einem Themenpark realisiert. Winzige Parzellen sind von den Bewohnerinnen selbst bestückbar. Erwartbarem Gestaltungsfuror wird immerhin eine Grundpalette von Fassaden- und Baukörpervarianten entgegengesetzt. Aber was nun in der Realisierung zu beobachten ist, sind Lehrstücke in der Spannung zwischen Individuum und Gemeinschaft. Holzschindeln neben froschgrüner Rundumverkleidung, Wolkenbilder neben banalem weißem Putz, hellgrüne Aufstelzung neben gelbem, geducktem Mittelreihenhaus: Dergleichen fügt sich zu einer Art Wohn-Disneyland, dessen Funktionalität Konflikte birgt.
Manche Häuser sind aufgestelzt und haben offene Erdgeschosse, in denen Außenküchen installiert sind; wenn hier die T-Bone-Steaks gegrillt oder Fische geräuchert werden, die Nachbarin aber vegan lebt, sind die olfaktorischen Konflikte vorprogrammiert. Winzige Gärten sind mal naturnah, mal geschottert oder mal von immergrünem Lorbeer eingehegt. Auch hier lässt sich Individualisierung erkennen, die durch räumliche Enge zu Zoff führen kann.
Das „Traumhaus-Quartier“ ist bizarr und bietet Wohntheater in reinster Form. Der Individualität wird gehuldigt. Und mit dem, was dabei entsteht, müssen wiederum alle zurecht kommen. Wie im Brennglas sticht hier ins Auge, was die Mitmenschen in ihren Wohnbedürfnissen unterscheidet. Für ein erkennbares Außenraum-Konzept, von dem alle profitieren könnten, blieb hier kein Raum mehr; es ist auf reine Wegeführung begrenzt.
Wie harmlos dann die umgebauten Bestände aussehen! In denen sticht die Individualität kaum hervor, allerdings tritt die Einheitlichkeit bisweilen in erschütternder Banalität in Erscheinung. In Mannheims Stadtteil Franklin ist das Wohnen in Deutschland wie in einem Brennglas zu besichtigen. Oder das, was in unterschiedlichen Kreisen dafür gehalten wird.
Fragen
Denn zu aller Diversität des Wohnens addieren sich Fragen:
Gehören die individuellen Wohnvorlieben in den öffentlichen Raum?
Ist eine vernünftige, gemeinsam ausgehandelte Gestaltungssatzung nicht besser für alle?
Funari ist ein Experiment. Ein „Wildschwein-Wohngebiet“ auf engstem Raum.
Jedem Tierchen sein Pläsierchen?
Wer hat überhaupt noch die Freiheit der Wahl, seinen „Wohntraum“ zu verwirklichen?
Und wie lässt sich eine Grundordnung des Chaos effizient gestalten und organisieren, die infrastrukturell planbar und justitiabel verwaltbar ist, also das Gemeinschaftliche priorisiert? Etwa, indem der ÖPV höher bewertet wird als der Individualverkehr mit viel zu großen SUVs und CO2 -Produktionen?
Mit Plätzen und Alleen, mit einer ungewöhnlichen Nutzungsmischung?
1) https://www.bausparkassen.de/wp-content/uploads/2021/05/Broschu%CC%88re_Kurzstudie_Wohnen.pdf, Seite 11
4) Der Kultursender arte sendete 2023 eine bemerkenswerte Dokumentation. Trautes Heim, Glück allein. Das Einfamilienhaus. Bis 28.9.2026 in der Mediathek, https://www.arte-magazin.de/eigenheim/