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Dichte, Freiraum, Mobilität

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Potenziale für eine in die Zukunft weisende Transformation: Bestandsgebäude, Abstandsgrün und aus der Zeit gefallenes Nutzungsangebot in der Fritz-Kissel-Siedlung, Frankfurt am Main. (Bild: Lisa Kaufmann)

Insbesondere in Großstädten und Ballungszentren stehen drängende Aufgaben an. Es geht gleichzeitig um fehlenden Wohnraum, Klima- und Klimafolgenanpassung sowie zukunftsorientierte Mobilität einschließlich des ruhenden Verkehrs. Das Ziel, die Flächeninanspruchnahme auf unter 30 Hektar pro Tag bis 2030 und auf „Netto-Null“ bis 2050 zu senken, kann nur erreicht werden, wenn diese Aufgaben nicht durch Neubau an der Peripherie gelöst werden. Zu den Siedlungen mit großen Potenzialen zur Transformation gehören die der Nachkriegszeit. Doch man nutzt deren Potenziale nur, wenn man sorgfältig plant.

Seit 2013 ist im Baugesetzbuch „die städtebauliche Entwicklung vorrangig durch Maßnahmen der Innenentwicklung“ verankert. Innenentwicklung wird heute im Dreiklang von baulicher Entwicklung, Frei- und Grünflächen sowie Verkehrsflächen gesehen – als sogenannte dreifache Innenentwicklung. (1) Insbesondere die nach dem Leitbild der autogerechten Stadt entstandenen Siedlungen der Nachkriegszeit weisen all diese Komponenten nahezu gleichwertig nebeneinander auf. Aufgrund ihrer repetitiven Bauform, des weitläufigen Abstandsgrüns und einer meist gut integrierten Lage gelten Zeilenbausiedlungen als besonders gut geeignet, um schnell neuen Wohnraum zu schaffen.

Drohszenario Nachverdichtung

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Dreifache Innentenwicklung ist gefragt: Bestand, Freiraum und (ruhender) Verkehr. Gartenstadt Süd, Bremen. (Bild: Lisa Kaufmann)

Nachverdichtung bezeichnet laut dem BBSR die „bauliche Verdichtung der städtischen Struktur in integrierter Lage, die auch als Maßnahme der Bestandsentwicklung und -qualifizierung zu begreifen ist“. (2) In einer weiteren Publikation des BBSR beschreiben die Autor:innen 2021 Nachverdichtungspotenziale im kommunalen Wohnungsbau: „Je nach Gebäude- und Siedlungstypologie kann im eigenen Bestand baulich ergänzt werden. Die Bandbreite reicht hierbei von Aufstockungen und baulichen Ergänzungen über komplette Ergänzungsbauten in baulichen Lücken oder im Rückraum bestehender Gebäudeformationen bis hin zum (dichteren) Ersatzneubau.“ (3) Der Begriff Nachverdichtung ist heute teilweise negativ besetzt; bereits in einem frühen Stadium der Planungen sind Menschen alarmiert, fürchten, dass ihnen Neu- und Ergänzungsbauten Nachteile bringen. Um negative Assoziationen zu vermeiden, schlagen manche Expert:innen eine andere Sprachwahl vor, beispielsweise „Bauen in Nachbarschaften“(4). Das allein hilft aber nur wenig. Es gilt zu verstehen, dass sich Menschen benachteiligt fühlen, wenn gerade dort verdichtet werden soll, wo es besonders einfach ist – etwa weil die Besitzverhältnisse dies erleichtern, weil die Bewohnenden dieser Siedlungen in politischen Gremien nicht repräsentiert sind, weil sie ihren Unmut weniger wirksam artikulieren können. Da die Menschen dort oft dichter als im Durchschnitt leben, sind sie zudem mehr auf den Freiraum angewiesen. Nur wenn die Transformation mit einer spürbaren Verbesserung für die Menschen einhergeht, die schon lange hier leben, kann Nachverdichtung glaubhaft vermittelt werden. Und: Man sollte der Nachverdichtung die Qualitäten dieser Siedlungen nicht leichtfertig opfern.

Prinzipien der Nachverdichtung

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Aufstockung und nachträglich angebauter Aufzug, Attenkoferstraße, München. (Bild: Lisa Kaufmann)

Die bauliche Verdichtung der Zeilenbebauung lässt sich in vier Kategorien unterteilen. Am häufigsten wird aufgestockt, werden Dachgeschosse ausgebaut. Hier kann besonders schnell neuer Wohnraum geschaffen werden, der sich in der Regel zwangsläufig sehr eng an den Bestand anlehnt. Denn eine vollständige Neuordnung der Dachgeschosse ist aufgrund begrenzter statischer Reserven kaum möglich, neue Treppen oder Aufzüge können nur sparsam ergänzt werden, weil sie teuer sind, auch den Bestand grundsätzlich neu zu organisieren, ist meist zu aufwändig. Die neuen Wohnungen bieten in der Regel größere Räume und großzügigere Zuschnitte, es werden zusätzliche Freibereiche integriert, hauptsächlich entsteht neuer Wohnraum für mobile Neubewohner:innen, zum Beispiel Kleinstwohnungen für Studierende, Auszubildende, junge Paare.

Der Anbau, zweitens, wird in Vor-Kopf- und Längsanbau unterschieden. Beim Längsanbau können die  Bestandswohnungen vergrößert werden – etwa in Form von vorgesetzten Loggien; neue Wohnungen entstehen dabei allerdings nicht. Beim Anbauen vor Kopf kann das bestehende Wohnungsangebot durch neue Typen und Wohnformen ergänzt werden. Allerdings sind die Möglichkeiten durch den gestalterischen und räumlichen Bezug zum Bestand begrenzt, soll die Durchlüftung des Areals nicht beeinträchtigt werden und die stadträumliche Gliederung erhalten bleiben.

Bei den bestandserhaltenden Methoden der Nachverdichtung bietet – dritte Kategorie – die Ergänzung durch Solitäre die höchste Gestaltungsfreiheit. Neue Typologien wie Punkthäuser oder Reihenhäuser können ohne direkten Bezug zum Bestand entstehen. Wird in den neuen Gebäuden kein Mehrwert für alle Quartiersbewohner:innen geschaffen, besteht jedoch die Gefahr einer Art Zwei-Klassen-Wohnens ohne wesentliche Verbesserung für den Bestand. Die städtebauliche Setzung und die Fassadengestaltung entscheiden darüber, ob die Neubauten als Weiterbauen oder als Umformung der bestehenden Siedlung wahrgenommen werden.

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Solitärergänzung mit dem „Bremer Punkt“. Gartenstadt Süd, Bremen. (Bild: Lisa Kaufmann)

Als ultimo ratio bei nicht behebbaren baulichen Mängeln oder gravierenden städtebaulichen Nachteilen wird schließlich – viertens – auch der Weg des Ersatzneubaus eingeschlagen. Dabei kann es sich um den Abriss größerer Siedlungsteile wie am Buchheimer Weg in Köln oder einzelner Gebäude wie in der Attenkofer Straße in München-Sendling handeln. Ein solches Vorgehen birgt eine Reihe von Risiken, darunter eine hohe Belastung durch Lärm und Schmutz, lange Bauzeiten, die Entmietung der bestehenden Wohnungen; zudem gehen Gebäude als Zeitzeugen des Wiederaufbaus unwiederbringlich verloren. Dennoch lässt sich dieser Weg nicht immer vermeiden. Doch die Widerstände wachsen. Zu wichtig ist es, dass sich der Bausektor wandelt, ist er doch verantwortlich für einen hohen Anteil am CO2-Ausstoß. Vielerorts setzen sich Menschen für den Bestandserhalt ein, beispielsweise beim Justizzentrum in München oder letztlich vergeblich beim Gebäudekomplex an der Urania in Berlin. Es stellt sich die Frage, ob der Ersatzneubau noch zeitgemäß ist. Immer größere Teile zumindest der Fachwelt akzeptieren striktere Regeln, um die Zahl der Abrisse zu senken.

Freiraum und Mobilität

Zeilenbausiedlungen zeichnen sich durch geringe Bebauungsdichten und weitläufige Grünflächen aus. Ihre Bewohner:innen schätzen den Blick ins Grüne und die daraus resultierende ruhige Wohnumgebung. Die Freiflächennutzung ist allerdings häufig durch Verbote eingeschränkt. Das verunsichert: Selbst die Bewohner:innen der Siedlung eignen sich die Freiräume daher selten an. Hier besteht ein großes Potenzial, die Attraktivität der Freiflächen durch Nutzungsangebote oder -überlagerungen und eine klarere Zuordnung zu erhöhen.

Die Grünflächen und die städtebauliche Struktur wirken sich positiv auf die Luftqualität und -temperatur aus – auch über die Siedlungsgrenzen hinaus. Um diesen Effekt zu bewahren, sollten gemäß dem VDI-Blatt zu Klimatopen weitere Versiegelungen, geschlossene oder verriegelnde Bauformen vermieden werden.(5)

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Vor-Kopf-Anbau und halböffentlicher Innenhof in der Platensiedlung, Frankfurt am Main. (bild: Lisa Kaufmann)

Für die Platensiedlung in Frankfurt am Main wurde genau solch eine Bauform gewählt. Durch Kopfanbauten, die den Bestand zu einer mäandrierenden Form ergänzen, entstehen Höfe und eine klare städtebauliche Kante am südlichen Abschluss des nachverdichteten Siedlungsteils. War bisher in der klassischen Zeilenbebauung schwer ablesbar, was Vorder-, was Rückseite ist, sind nun halböffentliche und öffentliche Bereiche eindeutig unterschieden. Das macht deutlich, dass Qualitätsgewinne auf der einen meist mit Verlusten auf der anderen verbunden sind. Eine sorgfältige Abwägung ist deswegen essenziell – und sie sollte für die Menschen der Siedlung nachvollziehbar sein.

Für das Klima von Stadt und Quartier ist auch der gewachsene Baumbestand von hoher Relevanz, er sollte nach Möglichkeit erhalten bleiben und kann, wie das Beispiel der Treehouses an der Bebelallee in Hamburg zeigt, ein integraler Bestandteil des Entwurfkonzeptes werden. Naturnahe, entsiegelte Freiflächen und der Erhalt von Frischluftschneisen sind in Verbindung mit nachträglichen Anpassungen wie Regenwasserbewirtschaftung, energetischer Gebäudesanierung, Dachbegrünung und der Integration regenerativer Energien Stellschrauben für eine ökologische Stadtentwicklung.

Die Kombination aus weitläufigen Grünflächen, einem hohen Anteil an oberirdischen Stellplätzen und einer strikten und großräumigen Nutzungstrennung führt zu langen Wegen in den Siedlungen. Mit der Verdichtung müssen für die neuen Bewohner:innen neue Stellplätze geschaffen werden. Dies sollte dafür genutzt werden, grundsätzlich die Stellplatzverteilung besser zu regeln und den Umweltverbund zu stärken, also die ÖPNV-Anbindung ebenso wie die Rad- und Fußwegeverbindungen zu verbessern. Voraussetzungen sollten gesamtstädtische Mobilitätskonzepte und angepasste Stellplatzsatzungen bieten. Es ist die gemeinsame Aufgabe von Planer:innen, Bauherrschaft, Verwaltung und Politik, eine Balance zwischen Nutzungsmischung, Optimierung des ruhenden und fließenden Verkehrs sowie Erhalt des Grünbestandes zu finden.

Herausforderungen und Konflikte

Die Entwicklung innerstädtischer Gebiete führt zwangsläufig zum Abwägen von Interessen. Auf begrenztem Raum müssen teils konkurrierende Ansprüche miteinander in Einklang gebracht werden. Flächen werden beispielsweise ebenso für neuen Wohnraum wie für die Klima- und Klimafolgenanpassung benötigt. Während sich solche manifesten Konflikte kaum auflösen lassen, gibt es bei institutionalisierten Konflikten – also durch politische Regelungen hervorgerufenen – durchaus Handlungsoptionen (6), wenn etwa vermieden wird, dass ökologische gegen soziale Ziele ausgespielt werden.

Eine klassische Herausforderung bei der Innenentwicklung größerer Siedlungsflächen ist das Baurecht. Mit der Einführung des BBauG im Jahr 1960 wurden die früheren Flucht- oder Baulinienpläne in sogenannte „einfache Bebauungspläne“ umgewandelt, denen heute viele der Zeilenbausiedlungen unterliegen. Ursprünglich sollten reguläre Bebauungspläne innerhalb eines angemessenen Zeitrahmens an deren Stelle treten, was jedoch bis heute nicht geschehen ist. Auf diese Bereiche ist die Planersatzregelung des § 34 BauGB anwendbar – also die maßvolle Bebauung im Innenbereich, sofern sie sich nach Bauweise, Nutzung und Ausmaß in den Bestand einpasst und die Erschließung geregelt ist. Ein Großteil der im Rahmen des diesem Text zugrundeliegenden Forschungsprojekts betrachteten Siedlungen wurde nach § 34 nachverdichtet. Die Aufstellung eines neuen Bebauungsplans wie beim Ziekowkiez in Berlin ist aufgrund des langwierigen Verfahrens eher die Ausnahme. Im Gegensatz zum klassischen Bebauungsplan wird beim § 34 BauGB unter anderem auf die Erstellung eines Umweltberichtes verzichtet. Gerade in den stadtklimatisch wirksamen, locker bebauten Quartieren der Nachkriegszeit können so Eingriffe in Natur und Landschaft stattfinden, ohne als solche bewertet zu werden. Während auf der einen Seite Innenbereiche so wesentlich schneller, pragmatischer und kostengünstiger entwickelt werden können, schränkt er auf der anderen Seite die Steuerungsmöglichkeiten auf kommunaler Ebene ein und bietet der betroffenen Öffentlichkeit weniger Rechtsschutz, häufig auch keine Beteiligungsmöglichkeiten.

Fazit und Ausblick

Am Beispiel der Zeilenbausiedlung zeigt sich, dass die Nachverdichtung zwar Potenziale für die Schaffung neuen Wohnraums bietet, gleichzeitig jedoch im Spannungsfeld zwischen Politik, Baukultur, Klimaschutz und den Interessen der Bürger:innen steht.

Die Herausforderung liegt darin, Lösungen zu entwickeln, die nicht nur kurzfristige bauliche Bedürfnisse befriedigen, sondern auch langfristige ökologische und soziale Aspekte berücksichtigen. Der Weg zu einer nachhaltigen Stadtentwicklung, die alle drei Aspekte der Innenentwicklung integriert, erfordert daher eine sorgfältige Abwägung zwischen den unterschiedlichen Interessen und Bedarfen. Ein nicht zu unterschätzender Faktor und Stellhebel in den Siedlungen der autogerechten Stadt ist die Mobilitätsinfrastruktur, die ein erhebliches Optimierungspotenzial aufweist.

Es bedarf einer maßvollen und durchdachten Planung – „one size fits all“ war zwar nach dem Zweiten Weltkrieg ein legitimer Ansatz, um der drängenden Wohnungsnot zu begegnen, wird aber den heutigen Anforderungen an das Wohnen nicht gerecht. Die Devise lautet: robust, vielfältig, kompakt. Dafür bedart es einer höheren Nutzungs- und Funktionsmischung, einer verbesserten intermodale Mobilität und Infrastruktur, kürzerer Wege und einer transparenten, kooperative Prozessgestaltung.



2518_SL_Kaufmann_DissCoverEin Teil des Artikels basiert auf der Dissertation der Autorin. Eine gekürzte Fassung wurde beim transcript Verlag veröffentlicht.
Lisa Kaufmann: Nachverdichtung im Städtebau. Transformative Strategien für Zeilenbausiedlungen der Nachkriegsmoderne. Bielefeld, 2024


(1) Schubert et al. (2023): Dreifache Innenentwicklung. Definition, Aufgaben und Chancen für eine umweltorientierte Stadtentwicklung. Ergebnisse aus dem Forschungsfeld urbaner Umweltschutz und dem Forschungsprojekt „Neues Europäisches Bauhaus weiterdenken – AdNEB“. Dessau-Roßlau: Umweltbundesamt.
(2) BBSR (2014): Städtebauliche Nachverdichtung im Klimawandel. Bonn: Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR)
(3) Pätzold et al. (2021): Ausweitung des kommunalen Wohnungsbestandes durch Neubau und Ankauf als wohnungspolitische Strategie. Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (Hrsg.) Bonn: BBSR-Online-Publikation 19/2021.
(4) Unter anderem: Hunger (2021): Bauen in Nachbarschaften. Weshalb ergänzender Wohnungsbau in großen Wohnsiedlungen sensible Beteiligung voraussetzt. In M. Brunner, M. Harnack, N. Heger & H. Schmitz (Hrsg.), Transformative Partizipation. Strategien für den Siedlungsbau der Nachkriegsmoderne. (S. 121-130). Berlin: jovis Verlag.
(5) VDI 3787 Blatt 1 (2015)
(6) Arendt at al. (2023): Bezahlbar und klimagerecht wohnen? Antworten sozial-ökologischer Bewegungsakteur*innen auf Zielkonflikte in der Wohnraumversorgung. PROKLA. Zeitschrift für kritische
Sozialwissenschaften (210)