Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert des Automobils. Die Geschichte des Automobils ist damit auch eine der Architektur- und Stadtentwicklungsgeschichte. Der Blick zurück auf die Wechselbeziehungen zwischen Auto und Architektur ist nicht nur unterhaltsam und als historische Perspektive aufschlussreich. Er könnte es auch für Gegenwart und Zukunft sein. Er sollte es sogar.
Von einer alternativen Architekturgeschichte, davon, dass die Beziehung von Architektur und Automobil am Ende und damit reif für die Geschichte sei, schreibt Erik Wegerhoff in seiner das 20. Jahrhundert überspannenden Essaysammlung. Hält man Distanz von diesen markigen Überhöhungen, ist das Buch über Automobil und Architektur, aufgebaut auf der Spannung zwischen Dynamik und Statik, zwischen Automobil und Immobilie, eines, das zu lesen lohnt. Wegerhoff verdeutlicht die Wechselwirkungen zwischen Technik, Stadt, Architektur und Gesellschaft, arbeitet die Entwicklungen von bis in die Gegenwart reichenden Auseinandersetzungen und Diskussionen heraus.
Das Ganze exemplarisch: Von den ersten (deutschen) Autobahnen, vom engen Bezug Le Corbusiers zum Auto über Erich Mendelssohns Reaktionen auf die neue Geschwindigkeit, die Rationalisierung des Parkens bis hin zu Spielstraßen und Zumthors Therme in Vals als „Architektur am Ende der Sackgasse“ reichen die Themen. Mal sind die Verknüpfungen Architektur – Automobil mehr, mal, wie im Falle von Zumthor, weniger offensichtlich, Hier verweist Wegerhoff auf die Rolle der nach Vals führenden Landstraße für den Entwurf der Therme, sieht aber auch eine doppelbödige Ambivalenz. Wird in Vals der Mensch einerseits entschleunigt, wird das Erlebnis der Ruhe und des eigenen Körpers inszeniert, so komme andererseits eben kein Badender ohne Auto nach Vals. Ob damit nicht bezweifelt werden kann, was der Autor eine Seite weiter behauptet, dass nämlich das 20. Jahrhundert eine Epoche zunehmender Entschleunigung sei? Denn gerade Vals macht deutlich: Entschleunigung ist zu einem Privileg geworden, das die Beschleunigung zur Voraussetzung hat.
Es ist nicht die einzige Ambivalenz. Dynamisch wirkenden Bauten sind die, die dem Parken dienen und etwa auch dem ikonischen Moma Frank Lloyd Wrigths als Vorbild dienten, Peter Blakes Philippika auf die Vorstadt als „God’s Own Junkyard“ gehört zur Vorgeschichte von „Learning from las Vegas“. Gerade diese Wechsel aus Ästhetisierung und Verdrängung, aus Begeisterung und Ablehnung macht die Beziehung von Auto, Stadt und Architektur aus – über das 20. Jahrhundert hinaus.
Weiter ins Detail geht Franz Arlart, der sich in seiner Dissertation über die Tankstelle einem Bautyp widmet, den es ohne das Auto nicht gäbe. Die These, dass sich in den Tankstellen weitaus mehr ablesen lässt, als eine funktionsorientierte Service-Architektur, ist in Zeiten der normierten und standardisierten Einheitserscheinungen heutiger Tankstellen nicht mehr so ohne weiteres offensichtlich. Das ändert sich schon beim Blättern im Buch: Schlichtweg eine Freude ist es, die vielen Tankstellen des 20. Jahrhunderts, die in ihnen verarbeiteten und auf die Kleinform gebrachten Entwicklung der Architekturgeschichte wiederzufinden, den Schalen Heinz Islers, den technizistischen Überhöhungen von Herzog + Partner, den geschwungenen und gerundeten, weit ausgreifenden Dächern. Expressionistische Architektur taucht in Tankstellen der 1920er-Jahre auf, die die hölzernen Heimatstil-Adaptionen der Nazi-Zeit ebenso.
Der Autor führt in die frühe Geschichte der Tankstelle ein und schildert anschaulich die Unsicherheit im Bemühen, eine adäquate Sprache für einen völlig neuen Bautyp zu finden, weswegen man – bei den Bahnhöfen war es ja auch nicht anders – zunächst Unterstützung in der Geschichte suchte, bevor der Mut zu eigenen Formen gefunden wurde. Man erfährt, wie früh (naheliegenderweise) Tankstellen als Typenentwürfe realisiert wurden, bekommt Informationen zu Bau und Konstruktion der alltäglichen wie der spektakulären Bauten, wobei erstaunlich oft ein Widerspruch zwischen Erscheinung und Konstruktion auftritt; in einigen Fällen spricht Arlart gar von Fehlern – so etwa bei der Großtankstelle in Köln-Deutz von Herbert Baumann (1959) und deren „Scheinschale“. Den Architekten stellt Arlart kein gutes Zeugnis aus, ihnen fehle fundiertes Wissen über Gleichgewichtsformen, ihnen bedeute „konstruktive und physikalische Grundprinzipien eine vermeintliche Unbedeutsamkeit oder gar Einschränkung in ihrer künstlerischen Freiheit“. Ein harsches Urteil, das aber gut belegt wird.
Das Buch schließt einen Ausblick auf die Zukunft der Tankstelle ein, an der dann vielleicht eben Strom statt Benzin getankt wird. Für die Verknüpfung von Funktionen zu einem Hub weist Alart schon Vorbilder in der Vergangenheit nach – etwa bei Frank Llody Wright oder bei Buckminster Fuller. Und wünscht sich, dass sich Architekt:innen dieser Aufgabe wieder vermehrt stellen – er sieht hier eine Projektionsfläche und ein Experimentierfeld „für den bevorstehenden Wandel im architektonischen Geschenhen.“ Eine Übersicht über historische Tankstellenbauten in Baden-Württemberg ist als Anhang beigefügt einschließlich deren heutigen Zustands und aktueller Nutzung.
Eine der spannendsten Fragen zukünftiger Mobilität betrifft die auf dem Lande. Dass es dort eben nicht ohne Auto gehe, ist die oftmals vorgetragene schulterzuckende Einschätzung, wenn die Frage im Raum steht, wie Mobilität umwelt- und klimagerechter als derzeit gestaltet werden kann. Das hier vorgestellte, von Philipp Oswalt und Stefan Rettich herausgegebene Buch geht auf eine Tagung und einen Austausch der Universität Kassel mit Fachabteilungen der Landesregierung zurück.
Beim Lesen zeigt sich vor allem, wie fatal eben jenes Schulterzucken ist, denn aus den neuen Potenzialen, die durch die bessere Abstimmung und Vernetzung von Fahrten und Angeboten durch digitale Instrumente möglich ist, kann nur dann eine echte Perspektive entwickelt werden, wenn man die damit verbundenen Chancen ergreifen will und, wie es die Herausgeber in der Einleitung schreiben, die Entwicklung proaktiv gestaltet wird. Sonst werde der öffentliche Verkehr zurückgedrängt und die Klimschutzziele rückten in weite Ferne. Schulterzucken ist nicht Resignation, sondern eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.
In drei Schwerpunkten wird das Thema von Expert:innen behandelt. Der erste behandelt die Potenziale und Folgen der Digitalisierung und den Wechsel der Antriebstechnik. Die Nutzung Autonomer Fahrzeuge könne zwar zu weniger Parkflächen führen, aber auch dazu, dass mehr Flächen für den fließenden Verkehr benötigt werden – so Dirk Heinrichs und Benjamin Heldt. Es sollte nicht vergessen werden: Autonome Fahrzeuge erhöhen die Effektivität des Verkehrs und können in einem Rebound-Effekt zu mehr Fahrzeugen führen. Und sie machen den suburbanen und ländlichen Raum attraktiver. Kai Vöckler betont, dass nicht nur Steuerungs- sondern auch Gestaltungswille nötig ist, um eine Verkehrswende in die Wege zu leiten.
Im zweiten Teil geht es um die Rolle des Raumordnungsbildes, nachdem Entwicklungen geplant werden – dem Zentrale-Orte-System, das Städte in Ober-, Mittel- und Unterzentren gliedert und entsprechend die Angebote an Dienstleistungen, Versorgung, Schulen oder Krankenhäusern steuert. In den Beiträgen hierzu wird deutlich, dass dieses System weiterhin trägt, aber weiterentwickelt werden muss. Uwe Altrock plädiert dafür, angesichts überlasteter Oberzentren insbesondere in Metropolregionen die Mittelzentren und deren Brückenfunktionen zu stärken. Was das konkret heißen kann, zeigt Dirk Michaelis anhand des Beispiels Stendal, das sich durch eine aktive Politik positiv entwickelt hat und eine hohe Bedeutung innerhalb des regionalen Umfeldes gewinnen konnte.
Interessant und wichtig ist der dritte Teil des Buches, der Mobilitätspolitik auf sozial-gesellschaftlicher Ebene betrachtet. Wie Ärtze, Schulen und kulturelle Angebote erreichbar sind, hat unmittelbaren Einfluss auf das demokratische Denken. In etwas sperriger Spreche plädiert Jörg Dürrschmidt für einen „Umkehrschub in der Organisation von Zentralität in Richtung ‚democrativ experimentalism’“. Um den Prozess schleichender rechter Vereinnahmung aufzuhalten, plädiert Kerstin Faber für konstruktive Lösungsansätze, die die Lebensumstände vor Ort spürbar verbessern. Sie verweist auf die Projekte der gerade beendeten IBA Thüringen. Claudia Neu schließlich regt an, das Konzept der Zentralen Orte durch eines der Sozialen Orte zu ergänzen, die Begegnung, Austausch und Mitgestaltung ermöglichen. Auch sie entstehen nicht von selbst, müssen gewollt und geplant werden. Fazit: Die Frage der Mobilität auf dem Land ist nicht nur eine technische, sondern eine, die maßgeblich auf die Zukunft unseres Zusammenlebens letztlich auch in den Städten Einfluss nimmt.