Fragen zur Architektur (22): Populisten, so Gregor Schöllgen, Dozent für Neuere und neueste Geschichte in Erlangen, hätten recht in einem Punkt: „Eine Alternative zur nationalen Identität hat ihnen [den Populisten] der Westen bis heute nicht geboten“.(*) Als wisse irgend jemand, was die „nationale Identität“, auf die sich der Autor bezieht, genau sei. Eingedenk der Debatten, die Stephan Trüby mit seiner Entstehungsanalyse der Frankfurter Altstadt losgetreten hat, muss man den missbrauchten Begriff „Identität“ für unsere Architekturdiskurse unter die Lupe nehmen.
Es sei hier nicht wiederholt, was bei Stephan Trüby in der FAZ, in einem von Archplus initiierten offenen Brief und zuletzt in einem ausführlichen Bericht von Enrico Santifaller zu lesen ist – man kann vieles zu diesen Scharmützeln in Ruhe online nachlesen. (1)
In einer schwierigen Gemengelage von Begriffen, die in noch schwierigeren Argumentationsketten akkumulieren, in denen vieles heillos durcheinandergewürfelt wird, was nicht zusammengehört, darf Bedeutungsschärfe eingefordert werden. Um nur ein paar Stichworte zu nennen: Identität, Identifikation, Heimat, Wir-Gefühl, Verwurzelung, Nationalbewusstsein und so weiter. Politiker, Publizisten und viele Andere gehen im Alltagsgeschäft jenen, die mit diesen Begriffen die vermeintlichen „Sorgen“ und „Ängste“ der Menschen beschwören, um eigene Interessen durchzusetzen, viel zu schnell auf den Leim.
Denn um welche Sorgen welcher Menschen geht es hier? Wirtschaftliche? Persönliche? Gemeinschaftliche? Geht es um Menschen auf dem Lande, in den Metropolen, im glücklichen Bayern, im reichen Baden-Württemberg, im langweiligen Mecklenburg-Vorpommern? Menschen in Zentren, an den Peripherien, in den Einfamilienhaus-Gebieten? Im Umfrage-Musterort Haßloch oder im Münchner Hasenbergl? Wessen Identität ist bedroht?
Verluste an Bedeutung
Um zu Architektur und Stadtplanung zurückzukehren. Die Literatur zum Thema „Rekonstruktion“ in all ihrer Komplexität füllt inzwischen ganze Regale und weist auch interdisziplinäre Untersuchungen wie die „Rekonstruktion narrativer Identität“ der Sozialwissenschaftler Gabriele Lucius-Hoene und Arnulf Deppermann auf. Die neue bizarre „Rekonstruktion“ der Frankfurter „Altstadt“ deutet in ihrer Rezeption darauf, dass Rekonstruktionen, die „Identität stiften“ sollen, neu codierte Erscheinungsformen unterschiedlicher Interessensgemeinschaften sind. Diese Interessenskollektive verstecken sich hinter einer „Identität“ als Signans (das Bezeichnende), das es hier als Ursache eines passenden Signifikats (des Bezeichneten) gar nicht gibt.
Rekonstruktionen wie die Frankfurter Altstadt offenbaren nur eine Facette ästhetischer Bedeutungsverluste, mit denen gegenwärtig nahezu alle Stadtbau- und Architekturkonzepte zu tun haben. Das ästhetische Konstrukt „Altstadt“ kaschiert im Zusammenwirken mit Macht und Einfluss – wie hier in den lokalpolitischen Konstellationen Frankfurts – nicht zuletzt ein wirtschaftliches Interesse, das mit Ladenmieten von 55 Euro/qm und Wohnungspreisen ab 5000 Euro/qm zu Buche schlägt und dem „Bild“ der Altstadt in seinem ikonographischen Ursprung zuwiderläuft. Um beim Bild zu bleiben: Es umgeben uns Wölfe in Schafspelzen.
Wer soll sich in der Frankfurter Altstadt womit identifizieren? Investoren mit der Baugeschichte der Altstadt im 18. Jahrhundert? Oder um das Bundesland zu wechseln: die bayerischen Behörden mit dem Kruzifix?(**) Hier wie dort stellt sich die Frage nach dem Unterschied von Bedeutungsdarstellung (Aussage) und Zweck (eigentliche Funktion).
Identität und Vereinnahmung
Aus derart gegebenem Anlass widmete sich Thomas Steinfeld in der Süddeutschen Zeitung kürzlich ganzseitig der Begriffsklärung der „Identität“, einem „Verhältnisausdruck mit der Form“. (2) Im wissenschaftlichen Sinne ist Identität die „zweistellige Beziehung zwischen Gegenständen beliebiger Bereiche, die dadurch ausgezeichnet ist, daß jeder Gegenstand allein zu sich selbst in dieser Beziehung steht“. (3) Die Sprache unterscheidet in dem Zusammenhang Dasselbe von dem Gleichen, in anderen Bereichen ist „Identität“ ein ebenso abstrakter, also nicht mit Greifbarkeit zu klärender Begriff. Identität ist eine „Reflexionskategorie“, die für Individuen und Gruppen relevant sein kann. Der staatliche Identitätsbegriff dient beispielsweise Verwaltungszwecken und wirkt inklusiv: Wer sich als solcher ausweisen kann, ist Staatsbürger. Der idiosynkratische Begriff Identität ist exklusiv, weil er aus vielfältigen Motiven heraus und diffus auf Ausschließlichkeit gegenüber Anderem drängt.
Identität, wie sie derzeit ge- und missbraucht wird, ist allerdings eine Art Kulturkampfbegriff, weil sie etwas Erworbenes und Gewordenes ist, mit dem kein Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhoben – wohl aber behauptet werden kann. Frankfurter sind Hessen? Bayern sind Deutsche und wollen glauben, dass die Saarländer sich mit ihnen solidarisieren in deutscher Identität? Die nach Berlin ausgewanderten Stuttgarter sind auf ein Mal mehr Hauptstädter als jene Türken, die in dritter Generation hier leben?
Die vermeintlichen Gemeinsamkeiten, auf die sich viele berufen, die von eigener Identität sprechen, rechtfertigen diese in der Regel nicht. Wer von „wir“ redet, vereinnahmt mindestens einen Mitmenschen – und genau in dieser Vereinnahmung keimt das Problem, wenn argumentativ von „Identität“ die Rede ist.
Identitätsarten
Man muss also differenzieren, wie Identitäten zustande kommen oder geschaffen werden können. Der Historiker Schöllgen widersprach sich im eingangs erwähnten Beitrag selbst, wo er meinte, es gebe keine Alternative zur „nationalen Identität“. Denn im folgenden erwähnte er, dass es diese Altnernative durchaus gab. So schreibt er: „Dass die europäische Idee ursprünglich auch eine Antwort auf das katastrophale Scheitern der Nationalstaaten im Zeitalter der Weltkriege war, ist heute kaum jemandem mehr geläufig“. Aber wieso ist diese Idee in Vergessenheit geraten? Der Autor begnügt sich mit einer lapidaren Feststellung und schließt leider daraus, dass die Idee abzulehnen sei, obwohl sie nur nicht mehr präsent ist. Nicht nur, aber vor allem der Politik darf man abverlangen, dass sie der einzigen Idee, die bislang das friedliche Zusammenleben in einer internationalen Gemeinschaft mit sich brachte, ein Revival beschert. Nationalstaaten haben keine Zukunft, wenn sie – und danach sieht vieles aus – dem „America first“ eines dummdreisten Präsidenten folgen. Wer „America first“ glaubwürdig in internationale Strategien umsetzt, bewertet den Rest der Welt als zweitrangig, als minderwertig. Und wenn das alle machen, geht das nicht gut aus.
Analog gilt für Architektur: Eine gebaute, sich im Bild erschöpfende Identitätsbehauptung gleich welcher Art löst kein strukturelles Problem.
Im Teil 2 dieses Beitrages geht es um die Faktoren gehen, die der Reduktion von Identität aufs bedeutungsmissbrauchte Bild entgegenwirken – unter anderem um Beteiligungsverfahren oder auch einen gedanklichen Überbau, wie ihn Bruno Latour mit dem „Terrestrischen“ zur Diskussion stellt.
– Stephan Trüby: Wir haben das Haus am rechten Fleck. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 8. April 2018
– Dankwart Guratzsch: Ist Fachwerk faschistisch? In: Die Welt, 24. April 2018 (https://www.welt.de/kultur/plus175716225/Frankfurter-Altstadt-Was-hinter-der-Nazi-Verschwoerung-steckt.html)
– Für einen Rekonstruktions-Watch – und wider den modernefeindlichen Architekturpopulismus. Offener Brief der Arch+ vom 2. Mai 2018 (http://www.archplus.net/home/news/7,1-17179,1,0.html)
– Philipp Oswalt im Gespräch mit Ludger Fittkau: Fake-Ästhetik im öffentlichen Raum? Deutschlandfunk, 6. Mai 2018 (http://www.deutschlandfunk.de/die-neue-frankfurter-altstadt-fake-aesthetik-im.911.de.html?dram:article_id=417225)
– Gerhard Matzig: Rechts und links in der Sackgasse. In: Süddeutsche Zeitung, 11. Mai 2018
– Niklas Maak: Dom, offene Stadt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. Mai 2018
– Matthias Alexander: Wir waren schon weiter. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Rhein Main, 15. Mai 2018 (http://www.faz.net/aktuell/rhein-main/debatte-um-neue-frankfurter-altstadt-15587280.html)
– Enrico Santifaller: Die Frankfurter Altstadt hat viele Mütter und Väter. In: db deutsche bauzeitung, 1. Juni 2018 (https://www.db-bauzeitung.de/aktuell/diskurs/die-frankfurter-altstadt-hat-viele-muetter-und-vaeter/).
(2) Thomas Steinfeld: Ich weiß nicht, wer ich bin. In: Süddeutsche Zeitung, 26. April 2018