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Stilkritik (117) | In Krisen stehen neue Wertedebatten an, gegenwärtig taucht dabei immer öfter der Begriff »universal« in verschiedenen Varianten auf. Auch in der Architektur zeichnet sich ab, dass Haltungen und ikonographische Formanalysen ihre Grundlagen verlieren. So stellt sich die Frage, ob das Universale eine taugliche Ersatzbasis sein kann.

Gerasterte Fassade, genormte Fenster: Humboldt Forum in Berlin (Bild: Wilfried Dechau)

Es gibt keine einheitliche Weltkultur, und eine Universalgeschichte der Menschheit als kollektives Subjekt scheiterte früh daran, dass ein universaler Standort, von dem diese Geschichte zu schreiben sei, kaum zu finden ist. Voltaires »Essai sur l’histoire universelle« (1754-58) gilt zwar als Archetyp der modernen Geschichtsschreibung, aber der universale Anspruch hat sich gerade in einer globalisierten Welt als schwer zu halten erwiesen.1) Voltaires These, der Fortschritt führe die Menschheit von der Barbarei zu Moral und Vernunft, mag heute noch recht gut klingen, aber die Entwicklungen von Wissenschaft, Technik, einer globalen Kommunikation und einem weltumfassenden, kapitalistischen Wirtschaftssystem lassen Moral und Vernunft durchaus vermissen.

Weltgeschichten

Zudem weisen die Identitätsdebatten und politischen Strategien der Gegenwart doch darauf hin, dass es mit dem Universalen und was man von ihm zum Wohl der Menschheit erwarten darf, nicht zum besten bestellt ist. Dennoch: Universalgeschichten als Weltgeschichten sind beliebt, auch die »illustrierten Weltgeschichten der Architektur« sind es, sofern sie ein staunenswertes Panorama globaler Vielfalt offenbaren.2) So ist zum Beispiel an die von Nervi herausgegebene, mehrbändige »Weltgeschichte der Architektur« zu denken, an kaum zählbare Stilgeschichten und »Best of Architecture«-Prachtbände. Als Phänomen abendländischer Geistesgeschichte werden derartige Weltsichten aber immer mehr kritisiert, weil sie als Wissenschaftskolonialismus gewertet werden.

Universales als Allgemeines oder Verallgemeinertes bleibt jedoch praktisch, wo überindividuelle Orientierungen des Individuums notwendig sind. Moral bleibt da immer wieder mal auf der Strecke, und wo gegenwärtige Despoten zum Beispiel die Universalisierung der Menschenrechte durchaus nicht akzeptieren, kommen deren Verteidiger sowohl in Argumentationsnöte, als auch praktisch in prekäre Lagen.3) Die Suche nach Universalem als etwas, was über der Interessenlage des Individuums steht, rückt aber als Thema gerade in Krisenzeiten wieder ins Bewusstsein – aktuell dargelegt von dem Philosophen Omri Boehm in seinem Buch »Radikaler Universalismus«, siehe Anmerkung 1.

Neubaten am Berliner Hauptbahnhof (Bild: Ursula Baus)

Neubauten am Berliner Hauptbahnhof (Bild: Ursula Baus)

Universales – und der Bedeutungsverlust der Form

Materiell zu Verwertendes in einen universal einsetzbaren Zustand zu bringen, ist praktisch und aus ökonomischer Perspektive einfach großartig, weil sich in der globalisierten Warenwelt damit viel vereinfachen und einfach viel Geld verdienen lässt. Standards und Normen erleichtern einerseits das Bauen also vortrefflich, führen in ihrer unerbittlichen Konsequenz andererseits zu einer Monotonie, die sich nirgends mehr übersehen lässt. Der technisch-ökonomische »Fortschritt« engt in der Architektur dermaßen ein, dass beispielsweise Versuche, Rasterfassaden irgendetwas Reizvolles angedeihen zu lassen, irgendwo zwischen bemüht und peinlich landen. Das ökonomisch Universelle driftet gestalterisch ins Banale. Zieht die technische Universalisierung der Architektur eine ästhetische Monotonie, einen Verlust von Form nach sich, so stellt sich gleich die Frage, ob damit auch ein Bedeutungsverlust der Form einhergeht. Hatten wir noch artig gemäß Panofsky, Warburg und Norberg-Schulz die Formen als Bedeutungsträger zu sehen gelernt, erledigt sich das in den allermeisten Neubauten offenbar von selbst. In der Gegenwartsarchitektur kümmert man sich als ArchitektIn, so lese und höre ich es oft, um eine universal haltbare »Haltung«.

Illustration beim Vortrag von Hannah Knoop

Illustration beim Vortrag von Hannah Knoop

(Universale) Menschrechte und Architektur

Auf einen anderen Zusammenhang des Universellen in der Architektur sei hingewiesen. So thematisiert Hannah Knoop (KIT) dieser Tage »Architektur und die Standardisierung der Menschenrechte«.4) Einerseits weist sie auf die Ratifizierung der global relevanten UN-Menschenrechts-Charta 1948 und die dazu gehörenden Repräsentationsformen einer fiktiven Weltgemeinschaft, um dann aber – umgekehrt – Architektur als Einflussgröße für die Menschenrechtsthemen herauszuarbeiten, konkret in einem »Handbook for Emergencies«. Das moralisch Universale der Menschenrechte taucht dabei als einzufordernde Funktionalität der Architektur auf, um Standards und Form geht es sekundär.

Weil nun längst das Weiterbauen, die Pflege des Gebauten zu neuer Maxime geworden ist, konfrontiert uns der Bestand mit neuen, universalen Themen. Umnutzen lassen sich die meisten Bestandsbauten in der Regel nicht mit Standards und Genormtem. Und oft muss eine formale Architekturaussage mit der Umnutzung schlichtweg umgedeutet werden. Das ist nichts Neues, relativiert aber manche Thesen durchaus. Damit ist zum Beispiel die Diskussion um »rechte Räume« tangiert, wo sie in der Zuschreibung bestimmter Architekturformen zu »Haltungen« deutlich zu kurz springt.

Vom Universalen in der Architektur zu reden, ist wichtig – aber es bleibt heikel, wenn keine deutliche Kontextualisierung und Differenzierung damit verbunden ist.


1) Albert Veeraart: Universalgeschichte. In: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 4, Seite 404
Aktuell dazu: Omri Boehm: Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität. Berlin 2022. (Rezensionen: Jürgen Kaube: Der Vorrang der Wahrheit. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 4.9.22, Seite 33;  Jens-Christian Rabe: Die einzig wahre Autorität. In: Süddeutsche Zeitung, 16. 9. 22, Seite 10)

2) Auch die »Weltwunder«-Sammlungen gehören dazu.

3) Günter Frankenberg, Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.): Treiber des Autoritären. Pfade von Entwicklungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Frankfurt 2022

4) architekturschaufenster Karlsruhe, 18.10.2022 (https://www.architekturschaufenster.de/#!/2022/09/02/forschungsdrang-architektur-und-die-standardisierung-der-menschenrechte-hannah-knoop/)