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Bild: Christian Holl

Wenn die Stadt als eine Konstruktion für eine offene Gesellschaft verstanden wird, dann müssen ihre Bestandteile immer wieder veränderbar sein. Dann muss es möglich sein, durch Anpassungen auf Diversität zu reagieren, vorhersehbare gesellschaftliche Entwicklungen zu berücksichtigen, Neues auszuprobieren. Welchen Sinn hat in diesem Zusammenhang die viel beschworene „Einfügung“ als Rahmensetzung, von der immer wieder die Rede ist, wenn es um die Erneuerung oder Ergänzung von städtischen Bereichen geht?


„Städtebau.Positionen“ (13) | Die Serie versteht sich als öffnender Beitrag zum Diskurs über Stadt, als Panorama der städtischen Vielfalt und Themen, mit denen umzugehen wir herausgefordert sind.



Die Vielgestaltigkeit der Stadt beruht im Wesentlichen auf Neuerungen in den Zeitschichten der Stadtentwicklung, auf Innovationen in gesellschaftlicher, politischer, ökonomischer und technischer Hinsicht. Jede Generation baut an der Konstruktion Stadt weiter und jeder heutige Bestand war irgendwann mal neu – mit oder ohne Kontext, mit oder ohne Vorstellung einer Einfügung in den damals vorhandenen Bestand. Daher stellt sich aus heutiger Perspektive die Frage, in was soll sich das Neue nun einfügen? In die Stadt als Ergebnis und Produkt in ihrer Gesamtheit oder in die Stadt als Mosaik aus Artefakten, Zeugnissen und Hinterlassenschaften vergangener Zeiten?

Der tatsächliche Charakter oder die Prägung von Stadträumen werden in Fachkreisen häufig zu gering geschätzt, um als Maßstab oder Rahmensetzung zu fungieren. Ein Rückzug auf die Regelungen des BauGB, insbesondere des §34 (1), greift offenbar zu kurz, da diese Regelungen „eine schier unerschöpfliche Quelle der Rechtsunsicherheit bilden“ wie beispielsweise „das Vorliegen schädlicher Auswirkungen im Sinne des §34 Abs. 3 BauGB“. (2) Besonders schwer, den Kontext in angemessener Weise zu berücksichtigen, ist es jenen städtischen Bereichen, die nicht auf den ersten Blick mit einer aufgeräumten kompakten Stadt assoziiert werden. Das gilt etwa für eine so genannte Gemengelage wie für eine Großwohnsiedlung – unabhängig davon ob die Gebiete einer Logik jenseits formaler Charakteristika folgen. Hier gilt es genauer hinzuschauen, denn der Weiterentwicklung des Bestands wird künftig die größte Rolle in der Stadtentwicklung zukommen und dies sollte der Stadt die neue Schicht hinzufügen, die unsere Zeit kennzeichnet. Gerade hier, wo ein den Bestand respektierendes Weiterbauen nicht ohne weiteres auf der Hand liegt, kann ein neues Verständnis von Einfügung wachsen.

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Stadt ist nicht zeitlos. Irgendwo in Norddeutschland. (Bild: Yasemin Utku)

Versuche seit den 1970ern, die Komplexität von Städtebau und Architektur zu reduzieren, wie beispielsweise die von Christopher Alexander entwickelte „Muster-Sprache“ als Anleitung für eine Art Zeitlosigkeit im Bauen, werden bis heute kontrovers diskutiert. Vielleicht trifft also eher der Ansatz von Andri Gerber und Stefan Kurath zu, Unbestimmtheit als Programm für den Städtebau zu verstehen, denn „Stadt gibt es nicht!“: „Stadt entsteht im Alltag durch stetes und langwieriges Arbeiten an ihr.“ (3) Stadt ist also kein Produkt, sondern die wesentlichen Stellschrauben der Stadtentwicklung werden durch das fortwährende Weiterentwickeln mit ihren Akteuren und Nutzer*innen gewonnen. Der Städtebau setzt das im besten Fall baulich-räumlich um und bewegt sich dabei in einem Spannungsverhältnis zwischen dem Entwerfen und dem Erneuern einerseits und dem Regulieren und Steuern andererseits.

Damit ist das vermeintliche Dilemma auch schon beschrieben: eine Rahmensetzung der städtebaulichen Entwicklung – auch im Sinne einer baulichen Einfügung in den Bestand – ist sinnvoll, wird aber oft mit gestalterischer Nivellierung im Rahmen einer Verständigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner für ein „klassisches“ Stadtbild (mit adäquater Rendite) erkauft. Da wird an angeblich Bewährtes angeknüpft oder aus dem gängigen Repertoire zitiert. Es liegt weniger am städtebaulichen Instrumentarium als vielmehr an der Interpretation desselben, oder mehr noch, am Wunsch „mal aufzuräumen“. Mit Blick auf die Herausforderungen in sozialer und ökologischer Hinsicht ist das jedoch zu kurz gesprungen – eine „schöne Stadt“ löst noch keine Probleme. Vielmehr braucht es Visionen, Experimente und neue Bilder für den Um- und Weiterbau der vorhandenen Stadt. Dabei kann es nicht um ein Ausspielen von Bestand gegen Neubau, Block gegen Zeile oder dicht gegen durchgrünt gehen. Hat man nicht das Ideal des Homogenen im Blick, gibt es auch keine „Brüche“, die nivelliert werden müssten, sondern Prägungen, die eine spezifische Eigenart begründen. Stadt als komplexen heterogenen Raum aufzufassen und Forderungen, die jeweils eigenen städtischen Logiken zu beachten, sind nicht neu (4), aber noch keine gängige Praxis. Auch dieser Befund zielt darauf die Entwicklung im und ausgehend vom Bestand zu stärken – in dessen ganzer Vielfalt. Nicht einzelne Strukturen oder Typen sind bildgebend für unsere Zeit, sondern das Spektrum der durch die Stadtgesellschaft geprägten Formen und Funktionen.

Alles eine Frage des Maßstabs?


Die Stadt ist Spiegelbild der Gesellschaft mit ihren Widersprüchen und Gemeinsamkeiten. Im Ganzen und in ihren Bestandteilen, im Zentrum und am Rand, im Quartier und auf der Parzelle. Sie bildet unterschiedliche Zeitschichten, Körnigkeiten und Maßstäbe auf engstem Raum ab. Sie ist im besten Fall sowohl kollektives Gedächtnis als auch Labor für Zukunftsentwürfe. Das heißt, jede Generation braucht ihren Spielraum, um die Stadt weiterzudenken und weiterzubauen. Auf allen Maßstabsebenen. Temporär und dauerhaft. Mehr denn je bestandsorientiert – und über den fachlichen Diskurs hinaus.

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Eine Art Generationenwechsel. Irgendwo im Ruhrgebiet. (Bild: Yasemin Utku)

Denn es waren Planer und Architekten (in diesem Fall kann man die Gendersternchen tatsächlich weglassen) selbst, die einen wesentlichen Anteil daran haben, dass sich seit den 1960er Jahren die Stadt und die Teilhabe der Stadtgesellschaft am gemeinsamen Weiterbauen zunehmend voneinander entfernten. Die Kluft zwischen den Idealvorstellungen der Planenden und der gebauten Realität war Ausgangspunkt für dieses Auseinanderdriften. Sie hat einerseits fachlich zu diversen Regelwerken geführt, mit denen städtebauliche Entwicklungen auf unterschiedlichen Maßstabsebenen gesteuert werden können. Andererseits ging es nun für Bauwillige darum, ihre individuellen Interessen bei der Entwicklung der eigenen Parzelle durchzusetzen. Für den Umgang mit den individuellen Interessen wurde unter anderem der §34 BauGB mit dem Begriff der Einfügung eingeführt, der 1976 mit der „Einfügungsklausel“ die bis dahin geltende „Unbedenklichkeitsklausel“ ablöste. Eine Grundsatzentscheidung des BVerwG vom 26. Mai 1978 klärte die Bedeutung solchen „Einfügens“: „Ein Vorhaben, das sich innerhalb des aus seiner Umgebung hervorgehenden Rahmens hält, fügt sich in der Regel seiner Umgebung ein.“ Ergänzt wurde dies um das Gebot der Rücksichtnahme, das sich im Wesentlichen auf Nutzungskonflikte bezieht.

Die Auslegungen dieser Regelungen waren und sind bis heute vielfältig, gerade in den so genannten Gemengelagen, also nutzungsgemischten Quartieren. Hier scheint die gesetzlich geforderte „Rahmenbildung und -anwendung“, also eine Ableitung des Rahmens aus der Eigenart der näheren Umgebung, offenbar besonders schwierig. Schmidt-Eichstaedt, Weyrauch und Zemke deuten eine Relativierung an: „… das Einfügen ist nicht auf Einheitlichkeit, sondern auf Harmonie ausgerichtet, es soll individuelles Ideenreichtum nicht blockieren.“ (5) Damit ist ein weiterer und ebenso unklarer – aber auch offener – Begriff für städtebauliche Fragestellungen gefunden: die Harmonie. Denn wenn es damit um die Bedeutung eines ausgewogenen Verhältnisses mehrerer Teile zueinander geht (um einmal nicht die Analogie zur Musik zu bemühen), dann ist auch hier Interpretationsspielraum für die Herstellung einer „harmonischen Stadt“ gegeben. Dieser Spielraum im §34 BauGB ist Fluch und Segen zugleich, denn es hängt oftmals vom Interpretierenden ab, was und vor allem wie gebaut wird, und was nicht. Zukunftsgerichtete gesellschaftliche und städtebauliche Fragestellungen spielen dabei leider nur eine geringe Rolle.

Es wäre doch einen Versuch wert, bei der rechtlichen Beurteilung von Bauvorhaben – davon ausgehend, dass dafür ein einheitliches Begriffsverständnis gefunden wird – auch den möglichen sozialen und ökologischen Gewinn für die Gesellschaft in die Bilanzierung miteinzubeziehen. Hierfür könnten Richtlinien, Konzepte oder Modelle auf kommunaler Ebene politisch verankert werden. Demgegenüber sollten aber doch zumindest Formate wie etwa städtebauliche Wettbewerbe, die auf die Entwicklung von neuen Ideen abzielen, offene Möglichkeiten für ein zukunftsgerichtetes Weiterdenken bieten und entsprechende Vorschläge einfordern. Aber auch das scheint nach der Auffassung von Jürgen Tietz, die er im Statement zum Wettbewerb „Siemensstadt 2.0“ vertritt, nur bedingt zu gelingen; er vermutet, dass es vielleicht eine Art Mutlosigkeit ist, die den Blick verengt auf vermeintlich Bewährtes: „Der Städtebau in Deutschland ist nie über die Postmoderne aus der Zeit der Berliner IBA 1987 hinweggekommen. Allerorten klammert man sich an das Diktat der heiligen städtebaulichen Trinität aus kontextgebundener kritischer Rekonstruktion, Blockraster und Europäischer Stadt.“ (6). Schade eigentlich, es klingt nach vertanen Chancen – an den Regelwerken zur städtebaulichen Steuerung liegt es nicht.

Gut fügt sich

Und dabei steht ja doch Einiges an; klimatische und soziale Fragen können nicht mehr auf die lange Bank geschoben werden – und sind sicher auch nicht mit herkömmlichen städtebaulichen Mustern zu „harmonisieren“. Vielfältige Formen des Zusammenlebens und ein Zusammenspiel von Nutzungszuschreibungen und Nutzungsoffenheit städtischer Räume werden und müssen die Zukunft der Stadt bestimmen. Dafür braucht es ein größeres Repertoire, als es der „Vorne-Hinten-Städtebau“ im traditionellen Block ermöglicht. Beispiele für ein anderes Weiterbauen gibt es allerorten, vielbeachtete und -zitierte Baumaßnahmen wie das als „2000-Watt-Areal“ zertifizierte Genossenschaftsprojekt Kalkbreite in Zürich (Müller Sigrist Architekten) oder der Weiterbau der Großsiedlung Cité du Grand Parc in Bordeaux (Lacaton & Vassal) als Alternative zur Neubebauung des Areals werden in den Fachdiskursen immer und immer wieder bemüht, aber bislang scheint es die so genannte gute Praxis noch nicht in den Mainstream zu schaffen. Woran liegt das? Zu anders, zu speziell – zu wenig „Einfügung“ in das geübte Stadt(weiter)baurepertoire? Erstaunlich. Denn genau hier könnten doch die Ansatzpunkte für eine Art Reformierung des §34 BauGB liegen, in der Beurteilung der Beiträge zu Klimaschutz und Ressourceneffizienz sowie in der sozialen Relevanz von Bauvorhaben. Bestand bekäme so zwangsläufig einen höheren Stellenwert. Ergänzt um gestaltsichernde Anforderungen an Vorhaben, die sich aufgrund einer Eigenartigkeit oder Maßstäblichkeit möglicherweise auf den ersten Blick nicht einfügen – wie beispielsweise mit dem Neubau der Arbeitsagentur in der Oberhausener Innenstadt und seinem Gewächshaus als Dachgeschoss (Kühn Malvezzi) – können zukunftsweisende Akzente sowohl auf Akteursebene wie in baukultureller Hinsicht gesetzt werden.

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Einfügung ist relativ. (Bild: Yasemin Utku)

Weder eine grundlegende Anpassung des BauGB und der BauNVO noch vermeintlich bewährte Gestaltungsmaxime von vorgestern, wie von einigen der planenden Zunft immer mal wieder eingefordert, werden zu einem „besseren“ Städtebau führen. Gleichwohl sollten sich Diskussionen um Einfügung nicht mehr nur auf Art und Maß der Nutzung oder die Bauweise im engeren Sinne beschränken, sondern offener geführt werden. Dabei geht es nicht um eine Schleifung oder Nivellierung des §34, sondern darum die Zukunftsfähigkeit von Bauvorhaben in ökologischer und sozialer Hinsicht herauszustellen. Denn es sind vor allem gesellschaftliche Fragestellungen für die Zukunftsfähigkeit der Stadt relevant und in diesem Zusammenhang wäre auch über eine Neufassung der „Einfügungsklausel“ für eine inklusive Stadt nachzudenken. Beginnend mit dem Respekt vor dem Bestand, und zwar aller Bestände, jenseits von Verwertungsinteressen. Die Potenziale des Weiterbauens, beispielweise von Großsiedlungen, Einfamilienhausgebieten, Gewerbestandorten oder so genannten Gemengelagen sind noch lange nicht erschöpft.

Vielfach wird angemahnt, im Bestand neue Nutzungen zu implementieren, ihn besser auszunutzen, seine Gebrauchsqualitäten zu stärken. Angegangen und umgesetzt werden diese Forderungen zuvorderst von bürgerschaftlichen Initiativen vor Ort, und nicht von der professionellen Planung – zumindest noch nicht. Es wird jedoch mehr denn je darauf ankommen, gemeinsam an der Stadt weiterzubauen und neue Entwicklungen, Prägungen und Möglichkeiten zuzulassen. Partizipative, und vor allem kollaborative Prozesse sind auf allen Maßstabsebenen erforderlich. Unterschiedliche Interessen zusammenbringen, aushandeln und Allianzen für die Stadtentwicklung und den Städtebau bilden, ausgehend von der Gebrauchsqualität für die Gesellschaft: Diese Form der Stadtentwicklung böte zukunftsfähige Einfügungen in die Stadt von morgen, im besten Sinne.


(1) Siehe >>>
(2) Susan Grotefels, Hendrik Schoen: Das Baugesetzbuch – eine aktuelle Einschätzung. In: Wüstenrot Stiftung (Hg.), Bedingt planbar. Städtebau und Stadtentwicklung in Europa. Berlin 2020, S. 180-187, hier S. 184
(3) Andri Gerber, Stefan Kurath: Einführung. In: Andri Gerber, Stefan Kurath (Hg.): Stadt gibt es nicht! Unbestimmtheit als Programm in Architektur und Städtebau. Berlin 2016, S. 7-29, hier S. 24
(4) Martina Löw, Georg Terizakis: Städte und ihre Eigenlogik. Frankfurt 2011; darin: Martina Löw: Empfehlungen für Stadtplanung und Stadtentwicklung. S. 245-248
(5) Gerd Schmidt-Eichstaedt, Bernhard Weyrauch, Reinhold Zemke: Städtebaurecht. 6., erweiterte und überarbeitete Auflage, Stuttgart 2019, S. 314 ff.
(6) Jürgen Tietz: Im Klötzchenregen. Mutlosigkeit statt Visionen im Städtebau. In: db  deutsche bauzeitung) 03/2020, S. 3, online >>>